"Der Idiot" am Thalia Theater in Hamburg

Der innere Zerfall eines Menschen

05:37 Minuten
Die Schauspieler Jens Harzer und Maja Schöne in einer Szene des Stücks "Der Idiot" auf der Bühne des Thalia Theaters.
Voller Unruhe, suchend und unsicher: Jens Harzer als Fürst Myschkin - eine grandiose Darbietung. © Thalia Theater / Armin Smailovic
Von Katrin Ullmann |
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Johan Simons' vierte Romanbearbeitung für das Thalia Theater bringt Dostojewskijs "Der Idiot" mit minimaler Personnage auf die Bühne. Ein grandioser Jens Harzer begeistert als Titelheld in einer konzentrierten, aber erwartbaren Inszenierung.
Smalltalk kann er nicht, nicht übers Wetter reden oder über die Schnittchen vom Buffet: Fürst Myschkin – gerade aus einem Schweizer Sanatorium nach St. Petersburg zurückgekehrt – steigt gleich mit schweren Themen ein. Kaum ist er bei der Familie Jepantschin eingetroffen, kaum haben ihn die Generalin Lisaweta Baraschkowa und ihre Tochter Aglaja begrüßt und zur Seite genommen, berichtet er von seiner Krankheit, seiner Traurigkeit und von zum Tode Verurteilten.
Die Generalin (Christiane von Poelnitz) und Tochter Aglaja (Maja Schöne) sind begeistert. So eine naive Offenheit ist ihnen fremd. Und diese Offenheit, dieses halblaute, ungefilterte Nachdenken über nichts weniger als die Wahrhaftigkeit, lässt Fürst Myschkin dann auch einen Fremden bleiben in jener überdrehten Gesellschaft, die Dostojewski mit in "Der Idiot" zeichnet.

Viel zu gut für diese Welt

Johann Simons hat das Werk, das zwischen 1868 und 1869 als Fortsetzungsroman in einer St. Petersburger Zeitung erschien, auf die Bühne des Thalia Theaters gebracht. Er hat die Personnage auf ein Minimum reduziert und erzählt in einer Fassung, die Angela Obst, Dramaturgin am Schauspielhaus Bochum, geschaffen hat, die Geschichte des Fürsten Myschkin in knapp viereinhalb Stunden.
Es ist die Geschichte eines durch und durch guten Menschen, der aus allem "einen höflichen Gedanken zieht", der aufrichtig und freundlich ist, der arglos Geld verleiht, Seelen retten will und Herzen. Einer, der viel zu gut ist für diese Welt, einer, der das Denken vom Leben nicht trennt - oft wird die Romanfigur mit Jesus verglichen.

Jens Harzer läuft zur Höchstform auf

Jens Harzer, seit 2019 Träger des Iffland-Rings, spielt Fürst Myschkin. Und er spielt ihn einfach grandios! Mit heller, fast kindlicher Stimme purzeln die Worte nur so aus ihm heraus. Seine Bewegungen sind voller Unruhe, sind suchend, absichtlich unterspannt und unsicher. Sein Hosensaum schleift über den Boden, seine Schritte sind wacklig tastend. So als suche er Halt, einen Fixpunkt – in sich, oder gar in dieser St. Petersburger Gesellschaft.
Immer mal wieder versucht er, die großen Gesten und das weltmännische Auftreten seiner Mitspieler zu imitieren. Dann wieder ist er anhänglich wie ein Welpe, umarmt sie herzlich, kuschelt sich an ihre Schultern, ist unbeholfen und rührend und voll unbeirrbarer Ehrlichkeit.
Doch "mir fehlt die richtige Geste für die Dinge und auch das richtige Maß, ich finde nicht den rechten Platz" merkt er bald. Mal nehmen ihn seine Mitspieler dann wie ein Kind an die Hand, mal geht er unbemerkt zur Seite, setzt sich irritiert auf einen Stuhl am Bühnenrand und beobachtet den Irrsinn, der ihn umgibt.
Dieser dreht sich vor allem um Nastassja Fillipowna (Marina Galic), um die sich wiederum mehrere heiratswillige Männer drehen. Einer davon ist der Kaufmann Parfjon Rogoschin, den Felix Knopp laut, raumgreifend und mit weitem, wehenden Mantel über die Bühne rauschen lässt.

Großartiges Ensemble in werktreuer Inszenierung

Im Verlauf des Romans – und auch der Inszenierung, die sich daran ziemlich werktreu-chronologisch hält – werden Rogoschin und der Fürst zu ungleichen Gegenspielern, sind mal Nastassja Fillipownas Bräutigam, mal der jeweils Sitzengelassene. Dazwischen gibt es philosophische Gespräche und Debatten, werden Gedanken zu Glaube, Religion und Tod laut, zu Schuld, Vergebung und zum Sinn des Lebens.
Tragik mischt sich mit Komik, Geld mit Gier und Liebe mit Wahn.
Ein großartiges Ensemble diskutiert sich da Zeile um Zeile, Seite um Seite durch die Bühnenfassung und legt Lügen, Intrigen und menschliche Untiefen offen. Und je länger der lange Abend andauert, desto mehr zerfällt der einst glücklich naive Fürst. Man kann seiner inneren Zersetzung förmlich zusehen, kann sehen wie Harzers Gesten immer fahriger werden, sein Körpertonus immer weniger wird.

Ein klassischer, konzentrierter Abend ohne Abstraktion

Johan Simons inszeniert – auf dem geometrischen Schwarz-Weiß-Spielbrett von Johannes Schütz – Konversationen und Debatten, Liebesschwüre, Streit und den seelischen Zerfall eines Menschen. Es ist ein psychologischer, gut gearbeiteter, aber auch eben auch ein recht klassischer und erwartbarer Abend, der in vielen Momenten eine konzentrierte Atmosphäre schafft, und im anschließenden, stillen Innehalten oft eine beklemmende Stimmung erzeugt.
Aber es ist auch ein Abend, der ohne klaren Fokus zahlreiche Denkräume öffnet und sich allzu ausführlich in Monologen und Menschheitsgedanken verliert, und dessen einzige Abstraktion letztlich das Bühnenbild bleibt.

"Der Idiot" von Fjodor M. Dostojewskij
Regie: Johan Simons
Thalia Theater Hamburg
bis 19. Oktober 2021

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