Der Hoteldetektiv weiß mehr, als ihm lieb ist

Der Autor schildert die bewegten dreißiger und vierziger Jahre in Frankreich am Beispiel des fast schon legendären Pariser Hotels "Lutetia". Erzählt werden die Geschicke der Nobelherberge, ihrer Bewohner und Gäste aus der Perspektive des Hoteldetektivs. Assouline präsentiert einen mit viel Zeit- und Kulturgeschichte angefütterten, opulenten Epochenroman.
Kaum ein Land außer Deutschland zeigt ein so anhaltendes Interesse am Nationalsozialismus wie Frankreich. Soeben wurden gleich zwei bedeutende französische Literaturpreise dem in Paris lebenden Amerikaner Jonathan Littell für seinen Roman "Les Bienveillantes" zuteil, in dem der Autor die Memoiren eines fiktiven SS-Obersturmbannführers zum Besten gibt. Ein gewisser Max Aue plaudert dort unbeschwert und ohne Reu über Holocaust und Geiselerschießungen.

Dieses (historisch äußerst fragwürdige) Epos von sagenhaften 900 Seiten Länge liegt einstweilen noch bei seinem deutschen Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel, der für den Berlin-Verlag bis Sommer nächsten Jahres die Übertragung fertig haben muss. Wer sich für das Thema interessiert, also die Sicht von Franzosen auf dieses blutige, schreckliche Kapitel der deutschen und auch europäischen Geschichte, in das ja Frankreich nicht nur infolge der deutschen Besatzung von 1940 bis 1944 eingebunden war, der kann einstweilen zu einem anderen groß angelegten Roman greifen, der ebenfalls im vergangenen Jahr in Frankreich herausgekommen ist, verschiedene Preise einheimste und eine breite Öffentlichkeit erreichte. Es handelt sich um "Lutetias Geheimnisse" des französischen Journalisten und Herausgebers der Zeitschrift "Lire", Pierre Assouline.

Nach dem Vorbild von Vicki Baums berühmtem Schmöker "Menschen im Hotel" schildert Assouline die bewegten dreißiger und vierziger Jahre in Frankreich am Beispiel des fast schon legendären Pariser Hotels "Lutetia", des einzigen Luxushotels der französischen Hauptstadt, das auf der intellektuellen "rive gauche" angesiedelt ist. Erzählt werden die Geschicke der Nobelherberge, ihrer Bewohner und Gäste aus der Perspektive des Hoteldetektivs. Er hört auf den Namen Edouard Kiefer, womit bereits seine elsässische Herkunft, sein Standort zwischen den Stühlen angedeutet ist. Kiefer ist geschmeidig genug, beide Epochenbrüche – den von 1940, als Frankreich von den Deutschen besetzt wird, die prompt das Hotel für ihre Geheimdienststellen mit Beschlag belegen, sowie den von 1944, als mit der Befreiung auch die Säuberungen von Kollaboration und Kollaborateuren beginnen – zu überstehen.

Kiefer gibt uns zunächst ein geradezu schwelgerisches Panorama jener dreißiger Jahre, in denen Frankreich den berühmten Tanz auf dem Vulkan aufzuführen scheint, denn alle Zeichen deuten auf den baldigen Untergang. Ein letztes Mal gibt sich der internationale Jet Set im Lutetia ein Stelldichein, Dadys und Kokotten, skurrile Kunstsammler und elegante Damen der Pariser Bourgeoisie, diskret, aber unerbittlich genau beobachtet vom Detektiv des "Palastes". Doch die Politik drängt sich schon mehr und mehr in den Vordergrund: die deutschen Linken im Exil bevorzugen das "Lutetia" als Tagungs- und Versammlungsort. Kiefer erfährt mehr, als ihm lieb ist.

1940 dann der totale Szenenwechsel. Die halbe Belegschaft wird ausgetauscht, was nicht ohne Kämpfe und Intrigen abgeht. Überhaupt zählt zu den spannendsten Partien des Buches, wie gewissermaßen binnen eines Jahres in Paris die Gesellschaft komplett umgekrempelt wird – fast ganz ohne Zutun der Deutschen übrigens, denn in Frankreich ist die Sehnsucht nach einem Systemwechsel groß. Immer mehr wird nun Kiefer in das verbrecherische Geschehen der Besatzung und der von ihr vorangetriebenen Verfolgungen hineingezogen, bis er schließlich vor eine folgenschwere Entscheidung gestellt wird …

Assouline präsentiert einen mit viel Zeit- und Kulturgeschichte angefütterten, opulenten Epochenroman. Das ist alles sehr anschaulich und lebendig geschildert. Trotzdem kann man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, hier werde mit Mitteln der Erzählung Schulfunk getrieben. Umso mehr genießt man die Passagen, in denen allein der Held und seine Gewissensnöte im Vordergrund stehen. Da lebt das Buch wirklich!

Rezensiert von Tilman Krause

Pierre Assouline: Lutetias Geheimnisse
Aus dem Französischen von Wieland Grommes
Karl Blessing Verlag, München 2006
444 Seiten, 19,95 Euro