Der Holzkasper, der ein Junge sein wollte

Rezensiert von Susanne Mack |
Pinocchio ist eines der erfolgreichsten Kinderbücher der Welt: rund sechs Millionen verkaufte Exemplare, einige Male verfilmt und in über 100 Sprachen übersetzt. Die fast 100 Jahre alte Geschichte von der Holzpuppe, die ein Junge sein will, ist jetzt mit neuen Illustrationen von Roberto Innocenti erschienen.
Der anhaltende Erfolg von „Pinocchio“ hat drei Gründe: Der erste ist die Sprache dieses Buches. Ich kenne kein Kinderbuch, das sich besser zum Vorlesen eignet als „Pinocchio“. Carlo Collodi hat direkt fürs Sprechen geschrieben. Wer dieses Buch einem Kind vorliest, mutiert (auch ohne besonderes Sprecher-Talent) sofort zu einem Märchenerzähler. Und das Kinderzimmer liegt plötzlich mittendrin in Pinocchios Wunderland.

Der zweite Grund sind die Dramaturgie der Geschichte und ihre einmaligen Gestalten. Da muss der Leser ständig die Gefühle wechseln: zwischen echter Rührung und echtem Horror ist alles drin. Da gibt es eine schöne Fee mit himmelblauen Haaren, aber die ist eigentlich schon tot. Oder einen sprechenden Heuschreck, sehr weise und wohlmeinend, den Pinocchio mit dem Holzhammer erschlägt. Und natürlich diesen unmöglichen und doch so sympathischen Schlingel namens Pinocchio. Vom Schreiner Gepetto aus Holz geschnitzt, aber auf wundersame Weise voller Leben und mit einem Kopf voller Flausen: ein richtiger italienischer Lausbub.

Und der dritte Grund: dieses Buch ist pädagogisch wertvoll, für Kinder genauso wie für Erwachsene.

Was hat es, das es so interessant für die ganze Familie macht?

Im Mittelpunkt der Geschichte finden wir eine klassische Vater-Sohn-Beziehung. Gepetto ist ein richtiger Papa. Er weiß, Pinocchio ist auf wundersame Weise zur Welt gekommen – und hat natürlich keine Ahnung von der Welt. Der Kasper muss also was lernen. Gepetto ist arm und verkauft sein letztes Hemd, um Pinocchio eine Fibel zu besorgen: er soll zur Schule gehn.

Und was macht Pinocchio? Zuerst große Sprüche: „Ja, mein Väterchen, ich werde der schlaueste Kasper aller Zeiten, ich werde uns beide reich und berühmt machen.“ Und dann? Schon auf dem Weg zur Schule verkauft er die Fibel für eine Eintrittskarte ins Puppentheater – und das Unglück nimmt seinen Lauf.

Folgt dann eine Art „Schule fürs das Leben“?

Das kann man wohl sagen. Der Kasper verstrickt sich in jeden nur möglichen Schlamassel. Geht falschen Freunden auf den Leim, lässt sich sein Geld klauen, wird halb tot geschlagen und sogar aufgehängt – Gott sei Dank gibt es die gute Fee mit den blauen Haaren. Und allmählich wird der Kasper schlauer: er lernt, dass man nicht allen schönen Reden glauben darf. Dass es unklug ist, jedem Dahergelaufenen alles über sich zu erzählen. Und vor allem, dass man tatsächlich Bildung braucht, um sich in dieser Welt zurechtzufinden.

Und wo sind Lektionen für die Erwachsenen?

Die decken sich mit denen für die Kinder. Tatsächlich. Das hat Collodi ganz fantastisch komponiert, das ist ein Text voll liebevoller Ironie. Immer mal wieder (und ganz nebenbei) hält Collodi dem erwachsenen (Vor-)Leser den Spiegel vor Augen und verschafft ihm das Gefühl, in vielen Situationen verhalten sich die Erwachsenen ganz wie „dumme Kinder“. Zum Beispiel, wenn einer des Weges kommt und ihnen verspricht, ihr Erspartes über Nacht zu verdoppeln. Man möge es dem Überbringer der Nachricht nur anvertrauen, und zwar jetzt und sofort: einmalige Gelegenheit! Super-Gewinnchance!

Wir haben es bei dem vorliegenden Buch mit einer Neuausgabe zu tun. Was ist das Besondere an dieser Pinocchio-Ausgabe?

Das Beste sind natürlich die Zeichnungen von Roberto Innocenti – vorausgesetzt, man mag nicht nur die fröhlichen, sondern auch die düsteren Farben. Innocenti ist ja inzwischen ein bekannter Mann, ein Zeichner, Mitte Sechzig, in Florenz geboren, genau wie Collodi, und im Vorspann des Buches widmet Innocenti seine Kunst auch ausdrücklich dem geistigen Vater des Pinocchio.

Collodi hat die Geschichte 1883 geschrieben, und so ist auch die Atmosphäre der Bilder geraten. Man stelle sich vor: Die Toscana am Ende des 19. Jahrhunderts, das Leben in den armen Vierteln von Florenz. Gepetto ist ja kein reicher Mann. Da gibt es flinke Schreiner und gewitzte Kesselflicker, Gaukler, Possenspieler, Polizisten, dazu Halunken und Ganoven aller Art …

Das sind exzellente Zeichnungen: detailversessen und schaurig-schön: manchmal gruselt's einen regelrecht. Berührt ist man immer. Die Bilder hätten Collodi gefallen. Und Pinocchio auch. Und: Es handelt sich um ein sorgfältig gedrucktes, fein gebundenes und schön gestaltetes Bilderbuch.


Carlo Collodi: Pinocchio. Mit neuen Bildern von Roberto Innocenti.
Sauerländer 2005.
195 S., EUR 24,90