Der Holocaust aus ungarischer Sicht
Iván Sándor gehört zu den renommiertesten Schriftstellern Ungarns. In seinem Roman "Spurensuche" beschreibt er die Zeit der Herrschaft der faschistischen Pfeilkreuzler in Ungarn und schildert, wie er und seine Familie vor der Deportation gerettet wurden.
"Zeit ist immer Gegenwart", heißt es in Iván Sándors "Spurensuche", "in der vergangenen Gegenwart der Vergangenheit schichten sich viele vergangene Gegenwarte(n) aufeinander (...)." Genau so schreibt der Ungar: Sein Erzähler, ein älterer Herr, der den Namen des Autors trägt, häuft Fragmente aus der Zeit nach 2000, den siebziger Jahren und seinen furchtbaren Jugenderinnerungen aufeinander.
Am 15. November 1944 marschiert der vierzehnjährige Iván Sándor mit seinen Eltern in einer Kolonne. Einheiten der regierenden faschistischen Pfeilkreuzler deportieren sie in die Ziegelei von Obúda, zusammen mit Tausenden anderer ungarischer Juden, die auf Anforderung der Deutschen in das Deutsche Reich geschickt werden sollen. Auf den Todesmärschen werden viele an Entkräftung oder durch Brutalitäten der Pfeilkreuzler sterben.
An einem Tag jedoch erreichen Männer mit Rotkreuz-Armbinde, dass die über Sechzig- und unter Sechzehnjährigen aus der Ziegelei entlassen werden. Iván verabschiedet sich von seinen Eltern und trägt den Koffer der zwölfjährigen Freundin Vera. Für beide beginnt eine wochenlange, angsterfüllte Odyssee durch die bombardierte Stadt. In einem Krankenhaus begegnen sie Iváns Eltern wieder. Obwohl mittlerweile die Rote Armee in den Vororten steht, holen Pfeilkreuzler immer wieder Opfer aus den überfüllten Stationen ab.
Mehrmals verdanken Iván und die Seinen ihr Leben dem persönlichen Erscheinen des Schweizer Botschaftsangestellten Carl Lutz, der wie der Schwede Raoul Wallenberg Zehntausende von Juden rettete. Er, seine Frau Gertrud und ihre Freundin Gizi, Iváns Tante, eine ungarische Widerständlerin, stellen unter Einsatz ihres Lebens Schutzbriefe aus und verhindern durch ihr persönliches Erscheinen im letzten Augenblick, dass die Pfeilkreuzler die heillos überfüllten "Schutzhäuser" räumen und deren Insassen umbringen.
Sándors Erzähler geht im Jahr 2002 die Stationen seiner Flucht ab. Er sieht den Baumarkt dort stehen, wo er und seine Eltern in einer Ziegelei interniert wurden, er erinnert sich an die Nächte mit Vera und das erwachende Begehren zwischen ihnen, er recherchiert, ob seine Erinnerung an das Erscheinen des Retters Carl Lutz an diesem oder jenem Tag stimmt, er erzählt, was er später von seiner Mutter über Gizi und ihre Beziehung zum Ehepaar Lutz erfuhr. Er zitiert Quellen, darunter Lutz' Aufzeichnungen, und fügt eigene Sätze in sie ein, er schildert Lutz' Versuche, in Bern Hilfe zu mobilisieren, er trifft die Tochter einer ermordeten Bekannten und sieht erstmals Vera wieder.
"Spurensuche" ist ein Palimpsest aus Erinnerung und Gegenwart, Dokument und Fiktion. "Eine Nachforschung" lautet der erste Untertitel des Bandes, der zweite "Roman".
Iván Sándor will viel, allzu viel. Sein Erzähler wünscht gegen Ende mehrmals, dass sich Anfang und Ende berührten. Das heißt wohl, dass die Vergangenheit und ihre Toten gegenwärtig werden sollen. Auch die Schrecken der Vergangenheit? Sándor wünscht sich eine immerwährende Gegenwart, lässt seinen Erzähler zugleich aber undeutlich von einer Grenze sprechen, die nicht überschritten werden dürfe. Diese Scheu verträgt sich schwerlich mit einer generellen Aufhebung der Zeit.
Schwächen zeigt Sándor auch, wenn er erfinden muss. Die Männer geraten ihm dann blass und die Frauen kolportagehaft: Lutz' Ehefrau Gertrud trägt tief ausgeschnittene Morgenröcke, begreift den Mut ihres Mannes nicht und beneidet Gizi, die schöne Jüdin, um ihre reichen sexuellen Erfahrungen. Bedrückend dicht vermag Iván Sándor dagegen vom Ausgeliefertsein des Vierzehnjährigen zu erzählen.
Besprochen von Jörg Plath
Iván Sándor: Spurensuche. Eine Nachforschung
Aus dem Ungarischen von Katalin Fischer
dtv., München 2009
340 Seiten, 14,90 EUR
Am 15. November 1944 marschiert der vierzehnjährige Iván Sándor mit seinen Eltern in einer Kolonne. Einheiten der regierenden faschistischen Pfeilkreuzler deportieren sie in die Ziegelei von Obúda, zusammen mit Tausenden anderer ungarischer Juden, die auf Anforderung der Deutschen in das Deutsche Reich geschickt werden sollen. Auf den Todesmärschen werden viele an Entkräftung oder durch Brutalitäten der Pfeilkreuzler sterben.
An einem Tag jedoch erreichen Männer mit Rotkreuz-Armbinde, dass die über Sechzig- und unter Sechzehnjährigen aus der Ziegelei entlassen werden. Iván verabschiedet sich von seinen Eltern und trägt den Koffer der zwölfjährigen Freundin Vera. Für beide beginnt eine wochenlange, angsterfüllte Odyssee durch die bombardierte Stadt. In einem Krankenhaus begegnen sie Iváns Eltern wieder. Obwohl mittlerweile die Rote Armee in den Vororten steht, holen Pfeilkreuzler immer wieder Opfer aus den überfüllten Stationen ab.
Mehrmals verdanken Iván und die Seinen ihr Leben dem persönlichen Erscheinen des Schweizer Botschaftsangestellten Carl Lutz, der wie der Schwede Raoul Wallenberg Zehntausende von Juden rettete. Er, seine Frau Gertrud und ihre Freundin Gizi, Iváns Tante, eine ungarische Widerständlerin, stellen unter Einsatz ihres Lebens Schutzbriefe aus und verhindern durch ihr persönliches Erscheinen im letzten Augenblick, dass die Pfeilkreuzler die heillos überfüllten "Schutzhäuser" räumen und deren Insassen umbringen.
Sándors Erzähler geht im Jahr 2002 die Stationen seiner Flucht ab. Er sieht den Baumarkt dort stehen, wo er und seine Eltern in einer Ziegelei interniert wurden, er erinnert sich an die Nächte mit Vera und das erwachende Begehren zwischen ihnen, er recherchiert, ob seine Erinnerung an das Erscheinen des Retters Carl Lutz an diesem oder jenem Tag stimmt, er erzählt, was er später von seiner Mutter über Gizi und ihre Beziehung zum Ehepaar Lutz erfuhr. Er zitiert Quellen, darunter Lutz' Aufzeichnungen, und fügt eigene Sätze in sie ein, er schildert Lutz' Versuche, in Bern Hilfe zu mobilisieren, er trifft die Tochter einer ermordeten Bekannten und sieht erstmals Vera wieder.
"Spurensuche" ist ein Palimpsest aus Erinnerung und Gegenwart, Dokument und Fiktion. "Eine Nachforschung" lautet der erste Untertitel des Bandes, der zweite "Roman".
Iván Sándor will viel, allzu viel. Sein Erzähler wünscht gegen Ende mehrmals, dass sich Anfang und Ende berührten. Das heißt wohl, dass die Vergangenheit und ihre Toten gegenwärtig werden sollen. Auch die Schrecken der Vergangenheit? Sándor wünscht sich eine immerwährende Gegenwart, lässt seinen Erzähler zugleich aber undeutlich von einer Grenze sprechen, die nicht überschritten werden dürfe. Diese Scheu verträgt sich schwerlich mit einer generellen Aufhebung der Zeit.
Schwächen zeigt Sándor auch, wenn er erfinden muss. Die Männer geraten ihm dann blass und die Frauen kolportagehaft: Lutz' Ehefrau Gertrud trägt tief ausgeschnittene Morgenröcke, begreift den Mut ihres Mannes nicht und beneidet Gizi, die schöne Jüdin, um ihre reichen sexuellen Erfahrungen. Bedrückend dicht vermag Iván Sándor dagegen vom Ausgeliefertsein des Vierzehnjährigen zu erzählen.
Besprochen von Jörg Plath
Iván Sándor: Spurensuche. Eine Nachforschung
Aus dem Ungarischen von Katalin Fischer
dtv., München 2009
340 Seiten, 14,90 EUR