Der Holocaust aus Tätersicht

Von Siegfried Forster · 06.11.2006
Mit dem ältesten und prestigeträchtigsten Literaturpreis Frankreichs wurde das als haushoher Favorit gehandelte Werk "Les Bienveillantes" (die Wohlwollenden) von Jonathan Littell gekrönt. In dem Debüt schlüpft der aus einer jüdischen Familie stammende Littell in die Haut eines SS-Offiziers und beschreibt in der Form eines Ich-Erzählers ohne Reue die Geschichte der Juden-Vernichtung.
Einige hatten offenbar erwartet, dass bei der heutigen Prix-Goncourt-Verleihung nicht nur literarisch eine Bombe einschlägt. Erstmals sicherten Polizisten das im feinen zweiten Pariser Arrondissement gelegene Restaurant "Drouant" ab, in dem traditionell um punkt 13 Uhr der Gewinner bekannt gegeben wird.

"Der Prix Goncourt 2006 wurde im ersten Wahldurchgang an den Roman 'Les Bienveillantes' von Jonathan Littell vergeben – im Verlagshaus Gallimard". "

Nach dem Lob der Leser nun also auch die Hommage der Goncourt-Jury. 250.000 Mal ging der Erstlings-Roman von Jonathan Littel in Frankreich bereits über den Ladentisch. Die Kritiker lobten das Werk überschwänglich. Ende Oktober heimste das Werk "Les Bienveillantes" (wörtlich übersetzt "Die Wohlwollenden") bereits den Romanpreis der Académie française ein und Littells Bestseller galt im Vorfeld als haushoher Favorit für die sechs wichtigsten französischen Literaturpreise. Normalerweise alles eine Garantie dafür, sicher nicht die prestigeträchtigste Literatur-Auszeichnung Frankreichs zu erhalten. Warum die Entscheidung trotzdem einhellig ausfiel, dazu Jury-Mitglied Edmonde Charles-Roux:

" "Das ist ein großer Roman, den man versucht ist, in Richtung Dokumentarbuch einzuordnen. Aber das ist kein Dokument. Das ist ein großer Roman vor einem dramatischen historischen Hintergrund, einem Schandfleck für die gesamte Menschheit, der Shoa. Wir sind der Meinung, dass das ausreichend außergewöhnlich ist, um ihn mit dem Preis auszuzeichnen, obwohl er bereits vorher einen Preis bekommen hatte."

In seinem Erstlingswerk "Les Bienveillantes" schlüpft der aus einer jüdischen Familie stammende Littell 900 Seiten lang in die Haut eines SS-Offiziers und beschreibt in der Form eines Ich-Erzählers ohne Reue die Geschichte der Juden-Vernichtung aus den Augen des Obersturmbann-Führers Max Aue. Kurz nach der Veröffentlichung des Romans im August erklärte der medienscheue Jonathan Littell im französischen Rundfunk, weshalb er diese Einfühlung in einen SS-Schergen suchte:

"Ich wollte die Frage nach den Tätern zu verstehen versuchen – etwas, was für diese Epoche wesentlich ist. Ausgehend von der Tatsache, dass diese Leute keine Ungeheuer waren, sondern meistens vollkommen gewöhnliche Deutsche. Was hat also dazu geführt, dass Hunderttausende solcher Typen plötzlich Menschen massakriert, getötet, gefoltert, erniedrigt haben. Ich brauchte eine Figur, die in der ersten Person erzählt. Natürlich bringt das die Gefahr eines Missverständnisses mit sich. Manche Leute interpretieren das so, als ob ich persönlich der Meinung dieser Romanfigur sei. Das ist natürlich vollkommen absurd."

Für den französischen Literaturkritiker und Schriftsteller Fréderic Beigbeder hat Littell damit eine Meisterleistung vollbracht:

"Das ist zum ersten Mal, dass ich einen Roman, eine Fiktion über dieses Thema lese, die mir zeigt, wie es wirklich passiert ist. Vielleicht, weil es jemand geschrieben hat, der es nicht selbst erlebt hat."

Genau damit liegen viele durchaus auch falsch. Denn Littell wurde zwar 1967 in New York geboren, ist behütet in Frankreich aufgewachsen, studierte an der amerikanischen Yale-University und lebt inzwischen im spanischen Barcelona. Doch 15 Jahre lang engagierte er sich weltweit für die französische Hungerhilfe-Organisation "Actions contre la faim" in zahlreichen Kriegs- und Krisen-Gebieten. Diese Erlebnisse sind entscheidende Auslöser für diesen Roman gewesen, betont Littell, und nicht seine jüdischen Wurzeln. Als Amerikaner fühlt er sich seit dem Vietnam-Krieg eher als Angehöriger einer Täter-Gemeinschaft und seine Romanfigur Max Aue versteht er als Prototyp der modernen Völkermorde:

"Ich habe mindestens in einem Land gearbeitet, das vom Genozid betroffen war, in Ruanda, aber auch Bosnien war mehr oder weniger von einem Genozid betroffen. In Tschetschenien passiert für mich ein Genozid. Ich habe den Genozid im Zweiten Weltkrieg als Modell genommen, weil es der am besten dokumentierte ist. Es gibt am meisten Material darüber, und weil es sich um Europäer handelt, also Leute wie Sie und ich. Man kann nicht sagen: das sind Schwarze, Bolschewiken oder Asiaten, das zählt nicht, die sind nicht wie wir. Im Grunde ging es darum, Täter zu erforschen, die sind wie wir. Die sind wie ich zuerst einmal. Dann wie alle anderen, wie Sie oder jeder x-beliebige."

Manche Kritiker verurteilten Littells Einfühlung in einen Nazi-Täter als Ding der Unmöglichkeit. Der für seinen Shoa-Dokumentarfilm berühmt gewordene Filmemacher Claude Lanzmann kritisierte, es sei reiner Wahnsinn, sich in die inneren Befindlichkeiten eines Nazi einfühlen zu wollen und so die Geschichte der Judenvernichtung zu erzählen.

Tatsächlich hat Littell aber nicht nur die Täterseite für seine Romanfigur gewählt, sondern akribisch genau historische Fakten wieder aufleben lassen. Für Jury-Mitglied Jorge Semprun, moralische Instanz und Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald, geht Littells Roman weiter und tiefer als alle Historiker und Wissenschaftler bislang gegangen sind. Die erzählerische Ich-Form hält er für einen Vorteil:

"Warum nicht? Wenn die Romanschreiber nicht über diese Geschichte schreiben, wer wird schreiben? Wir sind in ein paar Jahren tot. Es gibt keine Zeugen mehr. (…) Wir müssen Romane haben und jetzt haben wir endlich und für Jahre und Jahrzehnte den Roman, der die Vernichtung der Juden beschreibt. Jetzt haben wir es. Endlich."
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