Der Holocaust als europäische Entwicklung

Der Historiker Helmut Walser Smith fragt, wie es dazu kam, dass ab 1941 eine große Anzahl von Deutschen zu Massenmorden an Juden bereit war. Dabei untersucht er auch die europäischen "Vorläufer" des Judenmords und zeigt so die historischen Linien auf, die zum Holocaust hinführen.
Helmut Walser Smith greift den zentralen Gedanken auf, mit dem Daniel Goldhagen 1996 die nach ihm benannte Debatte auslöste: "Lässt sich die Brutalität gewöhnlicher Deutscher während der Shoah historisch erklären?" Goldhagens Erklärung, in Deutschland habe es einen besonderen eliminatorischen Antisemitismus gegeben, ist von der Geschichtswissenschaft widerlegt worden; doch Walser Smith argumentiert, nicht Goldhagens Frage, sondern "seine Antwort war verfehlt". Das ist der Ausgangspunkt seines Buches, das einen geschichtswissenschaftlichen Perspektivwechsel beschreibt und mit einer gründlichen Analyse befördert.

Jahrzehntelang haben deutsche und internationale Historiker nach 1945 gefragt: "Wie war es möglich?" (so ein Buchtitel von Alfred Grosser.) Und sie meinten den Beginn der NS-Diktatur 1933. Walser Smith hält die Zeit für gekommen, dieselbe Frage aus einem anderen Blickwinkel zu erörtern.

"Fluchtpunkt 1941": Im Titel verwendet er bewusst einen Begriff aus der Malerei, um die Konstruktion seiner Arbeit deutlich zu machen: "Ein Fluchtpunkt ist ein Mittelpunkt, der dem gesamten Bild Konturen verleiht", schreibt er und wählt das Jahr 1941 als Fluchtpunkt für sein Geschichtsbild, das er von Deutschland zu zeichnen versucht; nicht Auschwitz 1942, den Beginn des industriellen Massenmordes, sondern 1941, das Jahr, in dem der Völkermord an den Juden begann.

Damit rückt er ein Phänomen in den Blickpunkt, das nach jüngeren Forschungen größere Bedeutung gewonnen hat: "Die Shoah, daran hat Ulrich Herbert jüngst erinnert, war 'zu einem ganz erheblichen Teil eine Menschenvernichtung in sehr traditionellen, nachgerade archaischen Formen mit einer entsprechend hohen Zahl von Direkttätern'." Walser Smith fragt, wie es dazu kam, dass ab 1941 eine große Anzahl von Deutschen zu Massenmorden an Juden bereit war.

Bei seinen Versuchen, dieses Phänomen zu erklären, untersucht er in einem ersten Schritt, wie der Nationalismus ein inneres Nationalgefühl erzeugt hat, das im 19./20. Jahrhundert den Ausschluss bestimmter Gruppen aus der Gemeinschaft ermöglichte. Eindrucksvoll verbindet Walser Smith diesen Prozess mit der Veränderung antijüdischer Gewaltaktionen in der Neuzeit.

Nach den schweren Pogromen des Mittelalters bleibt es in der frühen Neuzeit in Deutschland und Europa zunächst verhältnismäßig ruhig. Vereinzelte Gewaltausbrüche folgen bis ins späte 19. und sogar ins 20. Jahrhundert eher den archaischen Riten antijüdischer Gewalt: Vertreibungen, Verwüstungen, Erniedrigungen, aber es gibt – noch - eine Scheu vor Mord und Totschlag.

Im späten 19. Jahrhundert verfinstert sich der Himmel in Europa, ausgehend von Russland und Osteuropa. Dämme der Gewalt brechen, Pogrome fordern immer mehr Todesopfer. Deutschland ist davon noch relativ wenig infiziert, viel weniger als etwa Frankreich in den Zeiten der Dreyfus-Affaire. In Deutschland bricht der Damm erst in der Pogromnacht des 9. November 1938, drei Jahre später beginnt der Massenmord ungekannten Ausmaßes.

Das Beklemmende an den Untersuchungen von Walser Smith ist, wie sich die Tötungsbereitschaft wie ein ansteckender Bazillus ausbreitete und schließlich im scheinbar relativ resistenten Deutschland in die Katastrophe mündete.

Insofern führt der Untertitel des Buches "Kontinuitäten der deutschen Geschichte" in die Irre: Walser Smith beschreibt zu einem guten Teil den europäischen Hintergrund der deutschen Katastrophe. Er zeichnet Entwicklungen nach, die nicht zwangsläufig in den Holocaust münden mussten, die aber den Holocaust ermöglicht haben. Er liefert für diesen "Bruch in der deutschen Geschichte und in der Geschichte des Westens" nicht neue oder eindeutige Erklärungen, sondern Anregungen zur weiteren wissenschaftlichen Diskussion.

"Fluchtpunkt 1941" ist ein Buch, dessen Lektüre ein gewisses fachliches Interesse voraussetzt, zumal die einzelnen Themen etwas unverbunden nebeneinanderstehen. Zugleich ist es ein wichtiges Buch, weil es die Geschichtswissenschaft herausfordert, Daniel Goldhagens Fragestellung neu zu diskutieren und Perspektiven der historischen Forschung zu verschieben.

Besprochen von Winfried Sträter

Helmut Walser Smith: Fluchtpunkt 1941. Kontinuitäten der deutschen Geschichte
Übersetzt von Christian Wiese
Reclam Verlag, Stuttgart 2010
326 Seiten, 24,95 Euro