Der Holocaust als Argument
Ultra-orthodoxe Juden in Israel fordern, dass Frauen in Bussen hinten sitzen sollen, damit die frommen Männer vorne nicht in Versuchung geführt werden. Auf einer Demonstration trugen sie Judensterne, denn sie argumentieren mit dem Holocaust. Der Schriftsteller Yiftach Ashkenazi erklärt, warum das berechtigt und trotzdem falsch ist.
Um es klar zu sagen: Ich selbst zähle mich zu den säkularen Juden und teile die Ansichten der Ultra-Orthodoxen keineswegs. Aber in diesem Fall hatten diese Extremisten wohl doch Recht, als sie bei den Demonstrationen gelbe Judensterne getragen haben. Denn der Holocaust ist wahrscheinlich der einzige Hintergrund, vor dem wir verstehen können, warum im heutigen Israel so heftig über die Geschlechtertrennung debattiert wird, obwohl das doch nur eine kleine Minderheit fordert.
Diese Trennung ist zwar schon lange Zeit Teil des jüdischen Rechts, der Halacha. Lange vor dem Holocaust. Aber nicht alle Gesetze haben im Alltag denselben Rang. Zum Beispiel hält niemand die jüdische Vorschrift ein, alle fünfzig Jahre den gesamten Grundbesitz aufzugeben und mit Nichts wieder anzufangen. Dass nun ausgerechnet die Geschlechtertrennung für die Ultra-Orthodoxen so entscheidend ist, liegt im Holocaust begründet. – Und in der Frage: Weshalb ist der Holocaust geschehen?
Für manche Rabbiner der streng orthodoxen Gemeinde war er eine Strafe Gottes, weil viele Juden die fromme Lebensweise aufgegeben hätten. Und deshalb fordern einige wenige auch heute die strikte Trennung von Frau und Mann: damit kein frommer Jude in Versuchung gerät, vom rechten Lebenswandel abzuweichen, wenn zum Beispiel im Bus eine Frau neben ihm sitzt. Sie wollen die Sitten bewahren und einen weiteren Holocaust verhindern. So argumentieren manche Ultra-Orthodoxe.
Doch das ist rhetorische Spiegelfechterei, und der Holocaust ist nur ein willkommener Vorwand, eine Waffe im politischen Kampf. Es geht um viel.
Die Probleme, die wir heute haben, wurden schon bei der Staatswerdung Israels angelegt. Die ultra-orthodoxen Juden sollten ihre Lebensart beibehalten. Deshalb wurden sie von der allgemeinen Wehrpflicht befreit, deshalb zahlte der Staat für jeden Zögling der Talmud-Hochschule Gebühren und Lebensunterhalt. Der erste Ministerpräsident David Ben-Gurion erklärte, dass der Holocaust der einzige Grund für solche Entscheidungen war.
Die Ultra-Orthodoxen bekamen viele Sonderrechte. Es ist der folgerichtig nächste Schritt, ihre eigenen Sitten der Mehrheit aufzuzwingen, etwa durch ein PKW-Fahrverbot am Samstag oder durch ein Arbeitsverbot für öffentliche Unternehmen am Schabbat. Dass manche nun dem Rest der Gesellschaft ihr eigenes Frauenbild aufnötigen wollen, passt ins Bild. Deshalb stehen wir vor der grundlegenden Frage: Wie viel will und kann die säkulare Mehrheit für die ultra-orthodoxe Minderheit opfern – während diese gleichzeitig keinen anderen Glauben oder Lebensstil als den eigenen anerkennt?
Der Holocaust ist nicht nur der Grund, weshalb die Ultra-Orthodoxen Geschlechtertrennung verlangen oder die Meinung vertreten, dass eine bestimmte Lebensart wichtiger sei als die Demokratie. Er ist auch der Grund, weshalb die Liberalen in Israel diesen Kampf am Ende wahrscheinlich verlieren werden.
Die Mehrheit in Israel mag heute gegen die Geschlechtertrennung eintreten. Und der deutlich vernehmbare Protest ist wichtig. Aber er täuscht darüber hinweg, dass sich unsere Gesellschaft nicht damit auseinandersetzt, dass sie insgesamt in eine undemokratische Richtung treibt. Der eigentliche Kampf dreht sich längst nicht nur um die Ultra-Orthodoxen oder um Frauenrechte. Denn für die meisten Israelis ist ein jüdischer Staat bis heute immer noch wichtiger als ein demokratischer Staat - wobei diese Werte einander widersprechen.
Wenn die israelische Gesellschaft wirklich liberal sein will, muss sie Menschenrechte über ethnische Herkunft, über drohende Warnungen vor einem nationalen Sicherheitsverlust und über die Angst vor einem zweiten Holocaust stellen. Ich bin nicht der Meinung, dass der Holocaust der Grund für alles und jedes ist, was in Israel geschehen ist. Doch hat er immer wieder denjenigen Vorwände und Gründe geliefert, die lieber einen mit Scheuklappen geschlossenen Staat Israel wollen als ein liberales Gemeinwesen.
Yiftach Ashkenazi, Jahrgang 1980, Schriftsteller. Er studierte Geschichte und Cultural Studies und arbeitete in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Sein erster Roman "Die Geschichte vom Tod meiner Stadt" (Luchterhand Literaturverlag) erzählt von seinem Geburtsort Karmiel im Norden Israels, den er nach dem Militärdienst wieder besuchte und nun mit anderen Augen sah. Weitere Veröffentlichungen: "Birkenau my love", "Persona non grata" sowie Kurzgeschichten und Gedichte.
Diskutieren Sie mit zum Thema auf unserer Facebook-Seite
Diese Trennung ist zwar schon lange Zeit Teil des jüdischen Rechts, der Halacha. Lange vor dem Holocaust. Aber nicht alle Gesetze haben im Alltag denselben Rang. Zum Beispiel hält niemand die jüdische Vorschrift ein, alle fünfzig Jahre den gesamten Grundbesitz aufzugeben und mit Nichts wieder anzufangen. Dass nun ausgerechnet die Geschlechtertrennung für die Ultra-Orthodoxen so entscheidend ist, liegt im Holocaust begründet. – Und in der Frage: Weshalb ist der Holocaust geschehen?
Für manche Rabbiner der streng orthodoxen Gemeinde war er eine Strafe Gottes, weil viele Juden die fromme Lebensweise aufgegeben hätten. Und deshalb fordern einige wenige auch heute die strikte Trennung von Frau und Mann: damit kein frommer Jude in Versuchung gerät, vom rechten Lebenswandel abzuweichen, wenn zum Beispiel im Bus eine Frau neben ihm sitzt. Sie wollen die Sitten bewahren und einen weiteren Holocaust verhindern. So argumentieren manche Ultra-Orthodoxe.
Doch das ist rhetorische Spiegelfechterei, und der Holocaust ist nur ein willkommener Vorwand, eine Waffe im politischen Kampf. Es geht um viel.
Die Probleme, die wir heute haben, wurden schon bei der Staatswerdung Israels angelegt. Die ultra-orthodoxen Juden sollten ihre Lebensart beibehalten. Deshalb wurden sie von der allgemeinen Wehrpflicht befreit, deshalb zahlte der Staat für jeden Zögling der Talmud-Hochschule Gebühren und Lebensunterhalt. Der erste Ministerpräsident David Ben-Gurion erklärte, dass der Holocaust der einzige Grund für solche Entscheidungen war.
Die Ultra-Orthodoxen bekamen viele Sonderrechte. Es ist der folgerichtig nächste Schritt, ihre eigenen Sitten der Mehrheit aufzuzwingen, etwa durch ein PKW-Fahrverbot am Samstag oder durch ein Arbeitsverbot für öffentliche Unternehmen am Schabbat. Dass manche nun dem Rest der Gesellschaft ihr eigenes Frauenbild aufnötigen wollen, passt ins Bild. Deshalb stehen wir vor der grundlegenden Frage: Wie viel will und kann die säkulare Mehrheit für die ultra-orthodoxe Minderheit opfern – während diese gleichzeitig keinen anderen Glauben oder Lebensstil als den eigenen anerkennt?
Der Holocaust ist nicht nur der Grund, weshalb die Ultra-Orthodoxen Geschlechtertrennung verlangen oder die Meinung vertreten, dass eine bestimmte Lebensart wichtiger sei als die Demokratie. Er ist auch der Grund, weshalb die Liberalen in Israel diesen Kampf am Ende wahrscheinlich verlieren werden.
Die Mehrheit in Israel mag heute gegen die Geschlechtertrennung eintreten. Und der deutlich vernehmbare Protest ist wichtig. Aber er täuscht darüber hinweg, dass sich unsere Gesellschaft nicht damit auseinandersetzt, dass sie insgesamt in eine undemokratische Richtung treibt. Der eigentliche Kampf dreht sich längst nicht nur um die Ultra-Orthodoxen oder um Frauenrechte. Denn für die meisten Israelis ist ein jüdischer Staat bis heute immer noch wichtiger als ein demokratischer Staat - wobei diese Werte einander widersprechen.
Wenn die israelische Gesellschaft wirklich liberal sein will, muss sie Menschenrechte über ethnische Herkunft, über drohende Warnungen vor einem nationalen Sicherheitsverlust und über die Angst vor einem zweiten Holocaust stellen. Ich bin nicht der Meinung, dass der Holocaust der Grund für alles und jedes ist, was in Israel geschehen ist. Doch hat er immer wieder denjenigen Vorwände und Gründe geliefert, die lieber einen mit Scheuklappen geschlossenen Staat Israel wollen als ein liberales Gemeinwesen.
Yiftach Ashkenazi, Jahrgang 1980, Schriftsteller. Er studierte Geschichte und Cultural Studies und arbeitete in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Sein erster Roman "Die Geschichte vom Tod meiner Stadt" (Luchterhand Literaturverlag) erzählt von seinem Geburtsort Karmiel im Norden Israels, den er nach dem Militärdienst wieder besuchte und nun mit anderen Augen sah. Weitere Veröffentlichungen: "Birkenau my love", "Persona non grata" sowie Kurzgeschichten und Gedichte.
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Der israelische Schriftsteller Yiftach Ashkenazi© Luchterhand Literaturverlag