Moses Mendelssohn

Der gute Mensch aus Dessau

09:51 Minuten
Portät des jüdischen Philosophen und Dichters Moses Mendelssohn (1729-1786)
Moses Mendelssohn war ein deutscher Philosph, der zwischen 1729 und 1786 gelebt hat. In Dessau wird versucht, sein Andenken lebendig zu halten. © picture alliance / akg-images
Von Blanka Weber |
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Was ist vom Philosophen Moses Mendelssohn in Dessau geblieben? Die Spuren des bedeutenden Vertreters der Aufklärung verblassen langsam. Ein jährlicher Preis, der nach ihm benannt ist und in Dessau vergeben wird, soll sein geistiges Erbe sichern.
Als Grazyna Jurewicz den Moses-Mendelssohn-Preis 2022 entgegennimmt - ringt sie einen Moment mit den Tränen. Alles, was Osteuropa und Russland jetzt erlebten, sagt sie, sei das Gegenteil der Gedanken eines aufgeklärten Bürgertums, von Toleranz und Menschenrechten geprägt, wie es Moses Mendelssohn im 18. Jahrhundert gegen viele Widerstände verteidigte.
„Toleranz und Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht des andren - sind nach Mendelssohn die beiden zentralen Elemente eines gesunden Gemeinwesens. Genau das fordert Mendelssohn von seinen christlichen Zeitgenossen für die jüdische Minderheit.“
Und er eckte damit immer wieder an. Die Mehrheit der Menschen seiner Zeit wünschte, ihn zu bekehren, sodass er übertreten würde zum anderen Glauben. Genau das tat Moses Mendelssohn nicht.

Übertritt in der verschlossenen Gesellschaft

Wenngleich fast alle seine Kinder später diesen Schritt tatsächlich wagten - um anzukommen, anerkannt zu sein in einer Gemeinschaft der verschlossenen Türen. Für Mendelssohn war das Konvertieren tabu - im Gegenteil, er machte sich für ein modernes Judentum stark:
„Was mich faszinierte, ist sein Verständnis des Judentums. Mendelssohn glaubt an eine widerspruchsfreie Vereinbarkeit des traditionellen, gesetzestreuen Judentums und der Moderne.“
Er macht sich damit auch bei den orthodoxen jüdischen Vertretern seiner Zeit nicht gerade beliebt. Er selbst lebte übrigens traditionell, befolgte die Gebote. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Händler von Seidenstoffen.

Individuelle Freiheiten respektieren und stärken

Und in den frühen Morgenstunden - so heißt es - widmete er sich der intellektuellen Arbeit:
„Drei Jahre vor seinem Tod publizierte er sein intellektuelles Testament, die Schrift ‚Jerusalem‘. Es ist ein geistreiches Plädoyer für die Gleichheit und Freiheit - jeder Mensch hat das Recht auf die Selbstbestimmung, er hat das Recht, nach seiner Façon zu leben, seinen Gott so zu verehren wie er das für richtig oder wichtig erachtet. Er hat auch das Recht, seine Kultur auszuleben. Mendelssohn geht auch noch weiter.“
Und behauptet, das Recht, die eigene Differenz auszuleben, sei nicht nur für einen Menschen wichtig. Auch der Erfolg einer Gesellschaft hänge davon ab.

Fremd im eigenen Land

„Ein Jude, der aus einer unterdrückten Randgruppe kommend, kulturelle Grenzen überschritt und sich in der christlichen Gesellschaft etablierte als Intellektueller und nicht nur etablierte, sondern ein berühmter deutschsprachiger Schriftsteller wurde - was völlig unerhört war, weil Juden aus einer 'anderen Sprache' kamen und aus einer völlig anderen Kultur.“
Bernd Ulbrich ist Historiker und lebt in Dessau. Hier gibt es heute noch immer die Gräber der Familie Mendelssohn:
„Der Friedhof reicht zurück bis ins 17. Jahrhundert - wird heute wieder belegt, von der jetzigen jüdischen Gemeinde". Er sei kulturgeschichtlich sehr reich, weil Dessau in den 1670er-Jahre eine einflussreiche und größer werdende Gemeinde hatte. "Die bekanntesten Gräber sind natürlich die Mendelssohn‘schen Familiengräber – das heißt, es gibt die Grabsteine noch: seiner Mutter, seines Vaters und seiner Schwester.“

Schwäche zum Vorteil nutzen

Ansonsten erinnert heute nicht mehr viel an den großen Philosophen und Vertreter der Aufklärung in der Stadt, außer eine Plakette an einem sehr schlichten Haus aus der Zeit der DDR. An diesem Ort soll einst das Wohnhaus des Moses Mendelssohn gestanden haben. Vis à vis entsteht heute wieder eine Synagoge. Vor Kurzem war Richtfest.
Doch was weiß man in der Stadt über jenen Hochbegabten, der bereits in der Schule auffiel durch hohe Auffassungsgabe, Sprachgewandtheit und deshalb auch gefördert wurde und seinem Lehrer später nach Berlin folgte? Bernd Ulbrich formuliert es so:
„Sein Vater war Elementarlehrer in der jüdischen Gemeinde und Torarollen-Schreiber, was an sich ein wichtiges, ein heiliges Amt war, aber materiell einfache Verhältnisse. Er war von Kindheit an körperlich benachteiligt - starke Rückgratverkrümmung zunehmend mit dem Alter, er stotterte, ein schüchterner, zurückhaltender Jüngling.
Gerade daraus entwickelte er Eigenschaften, mit seinen Mitmenschen umzugehen, ihnen genau zuzuhören, nicht auf Konfrontation aus zu sein, sondern versuchen auch bei Streitpunkten zu vermitteln und aus beiden Seiten das Positive, das Vorwärtsweisende heraus zu ziehen - und das ist beeindruckend gewesen.“

Der gute Mensch aus Dessau

Grazyna Jurewicz, die diesjährige Preisträgerin des Moses-Mendelssohn-Preises, ist Juniorprofessorin für Jüdische Religions- und Kulturgeschichte Mittel- und Osteuropas an der Universität Potsdam. Mit Mendelssohn beschäftigt sie sich seit ihrer Dissertation und sagt: Er war kein Mensch, der die große Bühne suchte. Im Gegenteil.
„Seine Zeitgenossen beschreiben ihn als einen konfliktscheuen, auf Harmonie bedachten Menschen, der bescheiden, liebenswürdig, respektvoll allen gegenüber war, in jedem Menschen das Gute sehen wollte und das Schlechte gern den Umständen anlastete.“

Unter Dichtern und Denkern

Nur manchmal, wenn auch ihm der Kragen platzte, da konnte er auch anders sein:
„Das zeigen seine zahlreichen Briefe, in denen auch ein anderer Mendelssohn zum Vorschein kommt: Er konnte beißend ironisch sein, spöttisch, zynisch, sarkastisch, höhnisch - nur dann aber, wenn er glaubte, keine andere Wahl zu haben, und verteidigte die Sache, an die er glaubte.“
Schon als Kind musste er sich vermutlich durchsetzen. 1729 in Dessau geboren. Im selben Jahr erblickt Lessing in Kamenz das Licht der Welt. Fünf Jahre zuvor wird Kant in Königsberg geboren. Drei prägende Denker - auch wenn es um Moses Mendelssohn später stiller wurde im Kanon der Erinnerung.

Freundschaften zählen mehr als Meinungen

Cord-Friedrich Berghahn hält die Laudatio zum Moses-Mendelssohn-Preis. Er ist Germanist, lehrt an der TU Braunschweig und forscht vor allem zur deutsch-jüdischen Aufklärung im 18. Jahrhundert. Was macht für ihn den in Dessau geborenen Philosophen heute noch wertvoll?
„Der ist einer den bedeutenden Ästhetiker im 18. Jahrhundert, der ist gewissermaßen der, der Lessing als Dramatiker auf die Spur setzt in der Mitte des 18. Jahrhunderts. 1755 fangen die an gemeinsam zu schreiben, gemeinsame Bücher zu schreiben. Und der mit Lessing bis zum Lebensende - Lessing stirbt 1781, Mendelssohn 1786, in einem ganz intensiven Dialog bleibt, der nicht immer einer Meinung ist, sondern der Lessing zeigt: Ich habe eine andere Auffassung von verschiedenen Dingen, aber das hat mit unserer Freundschaft und mit unserem Projekt nichts zu tun.“

Vorlage für Lessings Nathan

Als Lessing seinen „Nathan der Weise“ als Figur entwarf, so war es das Bild eines Moses Mendelssohn, das ihn immer wieder beeinflusste:
 „Als Jude hat er eine Idee von Aufklärung entworfen, die vor allen Dingen auf Bildung setzt und auf ästhetische Bildung, auf kulturelle Bildung, auf Miteinander, gegenseitige Bildungsprozesse. Und es ist kein Zufall, dass der Schöpfer unseres Bildungsgedankens, nämlich Wilhelm von Humboldt, als junger Mann im Hause Mendelssohn ein- und ausgegangen ist.“

Schreiben unter Mendelssohn'schen Prinzipien

Für Grazyna Jurewicz ist der Blick auf Biografien, das biografische Schreiben und Erzählen von Lebenswegen etwas, das sie heute auch mit den Studierenden erarbeitet. Denn:
„Ich komme aus Polen, aus einem Land, das vor dem Zweiten Weltkrieg den größten jüdischen Bevölkerungsanteil hatte. Ich wuchs in einem Land auf, in dem diese Vergangenheit aktiv verschwiegen wurde. In der Schule lernte jedes Kind Julian Tuwims Gedichte, dass Tuwim aber ein Jude war, wurde nie zum Thema. In meiner Schule gab es mehrere Kinder mit jüdischem Namen. Ich habe sie nie danach gefragt, obwohl ich selbst aus einer Familie komme, in der das Thema Judentum immer ein wichtiges Thema war.“
Manchmal denkt Grazyna Jurewicz an ihre Kindheit im Riesengebirge, wo die alten klobigen Schränke im Haus der Großeltern standen. Großeltern, die ihrerseits zuvor vertrieben worden waren und sich später dort ansiedeln sollten, wo wiederum andere Menschen die Flucht ergriffen und Hab und Gut zurückgelassen hatten.
Vielleicht sind es auch deshalb die beiden Begriffe des Moses Mendelssohn - Toleranz und Respekt - die sie bis heute als Wissenschaftlerin ermutigen, bestärken und immer wieder motivieren.
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