"Der grüne Spießer"

Von Stephan Hebel · 17.08.2011
Der Spießer ist der Allzweck-Feind aller Denkrichtungen in Deutschland. Er ist immer der Andere, aber das für alle. Der Spießer hat sich in seiner kleinen Welt eingerichtet und hasst alles, was ihn stört. Allen, die sich für unterdrückt oder fortschrittlich halten oder beides, ist er ein Gräuel.
Den Bürgern der alten Bundesrepublik war der Spießer lange Zeit nur als Feindbild der 68er vertraut. Selbst der Linkenhasser Guido Westerwelle hat die Revolte treffend beschrieben: "Spießigkeit und Muff sollten überwunden werden. Das war positiv."

Aber der Spießer lässt sich nicht reduzieren auf das verklemmte Kleinbürgertum der 50er- und 60er-Jahre. Das Feindbild gab es lange davor. Bekämpft wurde der couchfixierte Langweiler von den kulturellen Avantgarden der 20er ebenso wie später von Nazi-Propagandist Joseph Goebbels. Er rief 1943 nicht nur zum "totalen Krieg", sondern befahl die Frauen an der Heimatfront zu kriegswichtigen Arbeiten, und zwar mit den Worten: "Wer wollte jetzt eine spießige Bequemlichkeit über das nationale Pflichtgebot stellen?"

Und heute? Heute richtet sich der Spießer-Vorwurf auch gegen jene, die ihn einst am lautesten erhoben: die 68er und ihre Erben, vor allem die Grünen. Und das gleich aus zwei Richtungen.

Da ist einerseits die Kritik aus den eigenen Reihen, die ja meistens am besten trifft. Sie ergeht sich nicht in pauschaler Verurteilung, sieht aber auch die Probleme und Grenzen der politischen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt sexuellen Befreiung. Die Autorin Silvia Bovenschen, damals im Frankfurter Weiberrat aktiv, hat es vielleicht am griffigsten auf den Punkt gebracht: Es sei ein Irrtum, sagt sie, zu glauben, "ein Spießer, den man sexuell befreit, sei etwas anderes als ein sexuell befreiter Spießer."

Niemand wird bestreiten, dass heute viele der alternden 68er all das selbst pflegen, was sie einst als spießig verurteilten. Einen Kleingarten zu hegen, sich über laute Straßenfeste zu erregen und die Jugend für unerzogen zu halten, das ist wahrlich kein Privileg des rechten Lagers.

Da ist aber, andererseits, der Gegenschlag der modernen Konservativen. Sie haben genug von Bildung für alle, von liberaler Zuwanderungspolitik, von Umverteilung und internationaler Solidarität. Wer unbedingt will, darf ihre Haltung also spießig nennen. Aber nun versuchen sie ihrerseits, das herabsetzende Allzweck-Etikett ihren vertrauten Feinden anzuhängen: den Grünen und ihren Milieus. Mit anderen Worten: Spießer nennen Spießer Spießer. Wer zuerst aufhört, hat verloren.

Schauplatz und zugleich Gegenstand dieses Spielchens sind die Latte-Macchiato-Viertel der großen Städte, vor allem Prenzlauer Berg. Besonders "FAZ" und "Welt" diffamieren die materiell abgesicherte, den Wohlstand genießende, im Bioladen kaufende und Atomkraft ablehnende Spezies im sanierten Altbau pauschal als - na was? Spießer. Und die Autoren wissen, wovon sie reden, denn sie leben ja mit diesen grünen Spießern Tür an Tür.

Es schleicht sich in diese Variante des Spießer-Spiels allerdings etwas ganz Neues ein. Die modernen Konservativen bekämpfen es in Wahrheit gar nicht, das wirkliche oder vermeintliche Spießertum. Sie werben geradezu darum. Mit dem spießigen Teil der Grünen, der Rest ist ihnen egal, möchten sie Schwarz-Grün zur Koalition der Spießer machen. Schwarz und Grün gegen Sozialdemokraten und Linke. Espresso-Spießer gegen Filterkaffee-Spießer, sozusagen. Volker Zastrow schrieb jüngst in der "FAZ" am Sonntag: "Klar, keiner will sich selbst als Spießer sehen. Aber wir sind die Mehrheit im Lande."

Nicht ausgeschlossen, dass die schwarz-grünen Träume irgendwann wahr werden. Die Grünen müssen einfach nur weiter daran arbeiten, ihre emanzipatorischen Traditionen durch Anpassung an Koalitions-Optionen zu ersetzen.

Stephan Hebel, Journalist, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik und Romanistik, bevor er 1986 Redakteur der "Frankfurter Rundschau" wurde. Er arbeitete im Nachrichtenressort, als Korrespondent in Berlin, im Ressort Politik und als Mitglied der Chefredaktion (bis 2011). Derzeit ist er freier Autor, schreibt Bücher und für seinen Blog.
Stephan Hebel, freier Autor
Stephan Hebel, freier Autor© Frankfurter Rundschau