Der große kleine Nick

Jürgen Ritte im Gespräch mit Frank Meyer · 30.03.2009
Frankreich hat gestern den Geburtstag eines wunderbaren kleinen Helden gefeiert - den 50. Geburtstag des kleinen Nick, der Kinderbuchfigur des Autors René Goscinny und des Zeichners Sempé. Warum die Franzosen diesen kleinen Mann so sehr lieben, erklärt Jürgen Ritte, Professor an der Pariser Sorbonne und selbst ein ausgewachsener Nick-Fan.
Frank Meyer: "Der kleine Nick im Élysée-Palast", so wird der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy manchmal genannt. Nach einem großen Vorbild, dem kleinen Nick aus den Kinderbüchern von René Goscinny und Sempé. Im Pariser Rathaus ist zurzeit eine Nick-Ausstellung zu sehen, im September kommt ein Nick-Spielfilm in die französischen Kinos.

Der kleine Mann ist in Frankreich allgegenwärtig. Und gestern konnte nun sein 50. Geburtstag gefeiert werden. Hier ist erst einmal ein Stück aus einem der Erlebnisse des kleinen Nick: Eine Rechenarbeit steht bevor, die Jungs der Klasse haben ihr Rechengenie Adalbert mit 32 Murmeln bestochen, er soll ihnen die Ergebnisse der Arbeit weiterreichen. Aber ob das gut geht?

"Als wir ins Klassenzimmer reingekommen sind und uns hingesetzt haben, hat die Lehrerin gesagt, wir sollen die Bücher unter das Pult legen, ein Blatt Papier nehmen und unseren Namen oben links hinschreiben. Dann ist sie an die Tafel gegangen und hat die Aufgaben angeschrieben. Eine, die handelte von zwei Zügen, die fahren von verschiedenen Seiten ab, und die Lehrerin wollte wissen, wann sie sich begegnen.

Die zweite war die Geschichte mit dem Wasserhahn und der Badewanne, die man vergessen hat zuzustöpseln. Und in der dritten ging es um einen Bauern, der eine Menge Eier, Tomaten und Kartoffeln auf dem Markt verkauft. Die waren alle drei ganz toll schwierig. Und wir haben schon zu Adalbert rübergeguckt, nämlich, wenn Adalbert die Lösung nicht weiß, dann ist alles verloren - die Rechenarbeit und die Murmeln.

Aber Adalbert hat sie gewusst. Er hat ganz schnell geschrieben, hat die Zungenspitze rausgestreckt und an den Fingern der linken Hand gezählt. Otto hat mich mit dem Ellbogen angestoßen, und er hat gesagt: "Es klappt!" Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen, denn Adalbert hat nicht so ausgesehen, als ob er sich um uns kümmert.

Aber da habe ich gesehen, wie Adalbert auf einen kleinen Zettel schreibt, und den hat er zu einer Kugel zusammengerollt. Er hat zur Lehrerin rübergeschaut, die hat an den Aufgaben was verbessert, dann hat er Georg angesehen, der saß auf dem Platz neben ihm, und hopp, hat er das Papier zu Georg rübergeschnippt.

'Der Zettel, Adalbert, ich habe dich gesehen, bring mir den Zettel her', hat die Lehrerin gerufen. Adalbert, der hat den Mund weit aufgerissen und dann hat er angefangen zu weinen. Die Lehrerin ist aufgestanden und hat den Zettel genommen, der lag auf dem Pult von Georg, und dann hat sie gesagt: 'Bravo, Adalbert, bravo, das hätte ich nicht von dir gedacht. Ich sehe, ich habe mich in dir getäuscht. Du bist genauso ungezogen wie deine Kameraden. Jetzt kannst du gehen, wir kommen noch darauf zurück. Zunächst einmal ist deine Arbeit ungültig.'

Adalbert hat sich auf dem Boden gewälzt, er hat gerufen, niemand liebt ihn und daran sind die anderen Schuld und er wird sich bei der Polizei beschweren und er will am liebsten sterben. Und dann ist er rausgegangen. Wir sind da gesessen und haben mit großen Augen auf die Tür gestarrt. Joachim hinter mir hat ganz leise gesagt: 'Mein Fahrrad kann ich vergessen.'"


Meyer: Der kleine Nick und die Katastrophe mit der Rechenarbeit. In Paris ist jetzt Professor Jürgen Ritte für uns am Telefon. Er ist der Direktor des Instituts für Frankreich-Deutschland-Studien an der Universität Sorbonne Nouvelle, und er ist bekennender Nick-Fan. Jürgen Ritte, wie lange feiern die Franzosen eigentlich nun schon den 50. von Nick, gestern war ja nur das offizielle Datum?

Jürgen Ritte: Also sie feiern ihn seit spätestens Anfang März, das war der Tag, an dem die neuen Geschichten, die neuen unveröffentlichten Geschichten, zehn weitere, Le Ballon, der Ball oder der Ballon, erschienen sind, die Ausstellung eröffnet wurde und täglich in den Zeitungen von dem kleinen Nick die Rede war. Außerdem ist die ganze Stadt plakatiert mit Plakaten von dem kleinen Nick - als Werbemaßnahme natürlich für das neue Buch, aber eben auch Erinnerung an einen 50. Geburtstag.

Meyer: Unübersehbar also, der kleine Nick, gerade in Frankreich. Wie hat das bei Ihnen angefangen mit der Leidenschaft für diesen kleinen Kerl?

Ritte: Wir sind mit unseren Kindern zusammen sozusagen hineingefallen, wie Obelix sagen würde beim Zaubertrank, als wir vor 23 Jahren nach Frankreich kamen. Und es ist so ausgegangen, dass wir wenige Geschichten zu Ende lesen konnten abends, weil wir selber mehr lachten als unsere Kinder darüber.

Meyer: Das ist ja schon mal interessant, weil manche auch sagen, eigentlich sind das mehr Geschichten für Erwachsene als für Kinder. Würden Sie das bestätigen?

Ritte: Ja, also auf jeden Fall ist es auch für Erwachsene, denn ein Erfolgsrezept des kleinen Nick beruht ja darin, dass er wie ein Eulenspiegel die ganzen Geschichten erzählt. Er nimmt alles wörtlich, was die Eltern sagen, und schreibt das in einem gewissen Ernst, ähnlich wie Eulenspiegel das tut, und führt sozusagen die Erwachsenenwelt damit ad absurdum. Das ist der Witz, der die Erwachsenen direkt anspricht. Bei den Kindern ist es wahrscheinlich wirklich eher seine Ausgebufftheit gegenüber Autoritäten.

Meyer: Nun liebt man diesen kleinen Nick überall auf der Welt, in 30 Sprachen, soweit ich weiß, sind seine Abenteuer übersetzt worden. Aber in Frankreich liebt man ihn noch einmal ganz besonders. Das zeigt ja auch die Ausschmückung des Landes zu seinem 50. Geburtstag, die Sie gerade beschrieben haben. Warum diese tiefe Liebe der Franzosen zu diesem kleinen Kerl?

Ritte: Ja, einerseits ist der kleine Nick, geschrieben von Goscinny, natürlich auch ein Beispiel für eine bestimmte Form von französischem Humor, der sich gerne so auf falsche Art und Weise naiv gibt, um damit den Gegner, oder was auch immer man fürchtet, auflaufen zu lassen. Und dafür ist der kleine Nick schon ein schönes Beispiel.

Aber, ich glaube, noch viel mehr spielt etwas Sentimentales eine Rolle. Frankreich ist ja ein Land, das bis vor Kurzem eigentlich noch sehr stark normiert war. Es gibt die Schule, die national organisiert ist, mit den gleichen Lehrplänen überall, die sah überall gleich aus. Das kennt man auch aus Filmen vielleicht, die man in Deutschland gesehen hat - "La Guerre des boutons", "Der Krieg der Knöpfe", oder aus Filmen von François Truffaut.

Also es ist ein gemeinsamer Erinnerungsraum, der alle Franzosen trifft. Das ist ein bisschen weniger dezentralisiert und bunt, als das vielleicht in Deutschland der Fall ist. Ich glaube, das trägt ganz wesentlich zur Popularität des kleinen Nick bei. Er spricht zu einem Publikum, das mehr oder weniger den absolut gleichen Erfahrungsraum hat und Erinnerungsraum hat.

Meyer: Und wenn Sie sentimental sagen - das ist ja auch ein Erfahrungsraum, das sind ja, die 50er-Jahre, die Welt, aus der dieser kleine Nick erzählt, der Schulalltag, die Kinderwelt der 50er-Jahre. Das ist ja auch noch eine sehr heile Welt. Ist die nicht manchmal auch ein bisschen zu heil für uns heutige Leser?

Ritte: Ja, es die Nostalgie. Es ist die gleiche Nostalgie, die uns aus den Filmen von Jacques Tati entgegenschlägt, "Mon Oncle". Also ich würde mich nicht wundern, wenn Monsieur Hulot bei seinen Ferien im Hôtel de la Plage auch auf den kleinen Nick mal gestoßen wäre. Die sind beide aus dem gleichen Esprit.

Und natürlich ist das eine Welt, an die man sich gerne zurück erinnert, zumindest die sich gerne zurück erinnern, die sie vielleicht auch wirklich noch erlebt haben, die 50er-Jahre. Und diese Welt ist natürlich heil, in Erinnerung auch natürlich immer etwas verklärter.

Der kleine Nick geht in irgendeiner französischen Stadt in die Schule - es ist jetzt unbedingt Paris, aber es ist auf jeden Fall ein städtisches Ambiente - und das Land ist niemals weit. Man fährt aufs Land hinaus zu den Großeltern oder in die Ferien. Die "Banlieues", die wir nun in Deutschland ja auch alle kennen - die "Banlieues", die problematischen Vorstädte und so weiter - alles das gibt es beim kleinen Nick natürlich nicht.

Meyer: Sehen Sie das als Einschränkung oder ist das auch eine spezifische Qualität, quasi eine Wunschwelt, in die man sich flüchten kann mit dem Nick?

Ritte: Es ist nicht das Thema des kleinen Nick. Das war nie gedacht als ein Kinderbuch oder als Geschichte, die irgendwas problematisieren sollte. Auch in den 50er-Jahren hatte Frankreich schon eine sehr hohe Einwandererquote, auch da gab es schon Probleme mit Gastarbeitern, und so weiter, und so fort.

Es ist vor allen Dingen der Hintergrund des Algerienkriegs, als der kleine Nick geboren wird, 1959. Alles das hat es gegeben. Aber es war nie das Ziel, in irgendeiner Weise Politisches, Zeitgenössisches zu problematisieren. Es war von Anfang an das Ziel von Goscinny und Sempé, denke ich, eine Kinderwelt, eine ideale Kinderwelt, eine heile Welt, nicht unbedingt als niedliche Welt, aber als eine doch weitgehend von solchen Anfechtungen befreite Welt darzustellen.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit Jürgen Ritte in Paris über den 50. Geburtstag des kleinen Nick. Sie kennen nun beide Seiten, die französischen und die deutschen Nick-Fassungen - wir natürlich zumeist nur die deutsche Übertragung. Was halten Sie von der, trifft die den Kern dieser so französischen Figur?

Ritte: Ja. Ja, ganz entschieden. Und der Übersetzer, Herr Lenzen, den man nur loben kann, hat etwas getan, hat sich etwas getraut, was heute eigentlich kein Übersetzer mehr machen kann oder machen darf: Er hat ja radikal alle Eigennamen, die sehr kurios sind - im Französischen heißen die Freunde von dem kleinen Nick dann Rufus oder Alceste und so weiter. Diese Namen hat er eingedeutscht und damit für deutsche Kinder oder deutschsprachige Kinder natürlich auch etwas erfahrbarer, erlebbarer gemacht. An den französischen Eigennamen wären sie schon zerbrochen.

So wie er auch alle anderen Namen eingedeutscht hat, sodass das ein Universum ist, das für Kinder durchaus übertragbar ist auf ihre eigenen Erfahrungen oder auch für die deutschen Erwachsenen dann übertragbar wird. Das ist ihm sehr gut gelungen. Und er hat auch den Ton genau getroffen, also diesen etwas falsch-naiven Tonfall, den Nick anschlägt.

Meyer: Nun ist ja auch das Seltsame an diesem kleinen Nick, dass immer wieder neue Dinge auf den Markt kommen. Sie haben diesen Band mit zehn bisher unveröffentlichten Geschichten erzählt, der zunächst nur in Frankreich erschienen ist, gerade jetzt im März. Im September soll nun sogar ein Nick-Spielfilm in die Kinos kommen. Wie schauen Sie dem entgegen? Mit Vorfreude oder eher mit Sorge um den kleinen Nick?

Ritter: Mit etwas gemischten Gefühlen, weil, wenn der kleine Nick dann ein konkretes Gesicht bekommt, wie auch seine Eltern, dann geht vielleicht viel von dem Charme und dem Zauber verloren, den man vor dem Kopfkino kennt, das man sich selbst erzählt, wenn man dieses Buch liest, wie bei allen anderen Büchern.

Andererseits könnte es ein durchaus witziger Film werden, denn in der Rolle des Vaters hat man Kad Merad, der in Deutschland, glaube ich, jetzt auch bekannt geworden ist aufgrund seiner Rolle in dem Film "Willkommen bei den Sch’tis". Und dazu haben wir auch Valérie Lemercier, eine der größten Talente, komischen Talente im französischen Kino.

Und das Ganze wird in ein Dekor zurückversetzt, die frühen 60er-Jahre sind also das Dekor des kleinen Nick. Man kann gespannt sein, mit etwas gemischten Gefühlen aber, wie gesagt, schaut man immer auf so etwas, wenn Kunstfiguren, vor allen Dingen gezeichnete Kunstfiguren, plötzlich ein Gesicht aus Fleisch und Blut haben.

Meyer: Im September können wir das dann im Kino sehen, in Frankreich zunächst. Jetzt ist der kleine Nick 50 Jahre alt geworden, gestern war der Geburtstag des kleinen Helden, den der Autor René Goscinny und der Zeichner Sempé erfunden haben. Und über den kleinen Mann habe ich mit dem Nick-Fan und Sorbonne-Professor Jürgen Ritte gesprochen. Vielen Dank nach Paris!

Ritte: Bitte schön!