"Der größte Stilist Frankreichs"

16.11.2006
Der französische Mathematiker, Physiker, Literat und Philosoph Blaise Pascal gehörte nach Galileo zu den revolutionärsten Naturwissenschaftlern seines Zeitalters. Bereits in seiner Jugend soll er die Pariser Gelehrten durch seine wissenschaftlichen Arbeiten verblüfft haben. In "Blaise Pascal. Biographie eines Genies" zeichnet Jacques Attali ein facettenreiches Bild des "größten Stilisten Frankreichs".
Der politisch korrekte Deutsche wird ein wenig melancholisch, wenn er die vollbrüstigen Niederwerfungen vor "dem französischen Genie" Blaise Pascal durch seinen aktuellen Biographen Jacques Attali mitverfolgt – ganz zu schweigen vom "Genie Frankreichs". Pascals Zeitgenossen Leibniz dementsprechend zum "deutschen Genie" zu krönen, oder von der Weimarer Klassik als Manifestation "deutschen Geistes" zu sprechen, fiele uns nicht mehr ein.

Schon aus Gründen des diesbezüglichen Kulturvergleichs lohnt sich die Lektüre von Jacques Attalis umfangreichem Buch "Blaise Pascal. Biographie eines Genies".

Attali, geboren 1943 in Algier führt eine Intellektuellenexistenz, die hierzulande leider viel zu selten anzutreffen ist. Der Ökonomieprofessor war Berater von François Mitterand und veröffentlichte gleichzeitig Romane, Sachbücher und Theaterstücke und provozierte mit erzkonservativen Feuilletons. Ein Literatenleben reinsten Wassers, das in Frankreich im Unterschied zu Deutschland Politiknähe herstellen kann. 1993 stolperte Attali über einen Finanzskandal und zog sich aus der Politik zurück, um fürderhin sich ganz der Literatur zu widmen.

Seine Pascal-Biographie vibriert auch in der ausgezeichneten Übersetzung von Hans Peter Schmidt in engagierter Quirligkeit. Seine Detailfreudigkeit ist aber nie redselig, sondern liebevoll und unaufdringlich gründlich. Über viele Seiten stellt er historische Hintergründe dar und lässt die "Grande Époque" unter Ludwig XIV. lebendig werden.

Attali charakterisiert Blaise Pascal als jemanden, den man am besten mit dem Begriff der multiplen Persönlichkeit bezeichnen könnte. Nicht nur, weil Pascal dafür berühmt wurde, in seinen zahlreichen Streit- und Denkschriften unterschiedliche, sogar antagonistische Pseudonyme zu verwenden. Sondern weil der "größte Stilist Frankreichs" in seiner zerrissenen Persönlichkeit bereits etwas verkörpert, was wir Deutschen "Dialektik der Aufklärung" zu nennen pflegen.

Einerseits war Pascal, der mit seinen Schwestern von seinem hochgebildeten Vater zum Wunderkind erzogen wurde, nach Galileo der revolutionärste Naturwissenschaftler seines Zeitalters. Mit zwölf soll er die Euklidsches Lehrsätze selbständig bewiesen haben. Mit 16 verblüffte er die Pariser Gelehrten mit einer Abhandlung über die Geometrie der Kegelschnitte. Er entwickelte eine Rechenmaschine, die bereits die Grundlagen für die Entwicklung des Computers realisierte. Er bewies experimentell die Existenz des Vakuums und entwickelte die Integralrechnung.

Auf der anderen Seite verkörpert Pascal eine frühe, radikale Vernunftskepsis, die sich nicht durch die Verwendung von Pseudonymen mit seinem wissenschaftlichen Rationalismus vereinbaren ließ. Seine berühmten "Provinzbriefe" sind zwar eine religionspolitische Verteidigung der Jansenisten, aber sie sind auch eine Verteidigung des gnadenabhängigen Glaubens gegen die als technokratisch empfundene Rationalität der Jesuiten.

Diese beiden Aspekte arbeitet Attali überzeugend heraus. Er arbeitet so dicht an den Quellen – und vor allem so lebendig – dass sogar abschreckende Details folgerichtig erscheinen, wie etwa Pascals Neigung zu flagellantischen Praktiken. In späten Jahren trug er einen Dornengurt am Körper, um sich für jede aufkeimende Lust am Leben zu demütigen. Krankheit war für ihn – Pascal litt sein Leben lang an bestialischen Kopfschmerzen – nicht nur Symbol für die kranke Welt, sondern auch Fahrzeug zu Gott.

In einem abschließenden Essay versucht Attali die geistesgeschichtliche Einordnung in die europäische Aufklärungsgeschichte, wobei man "europäisch" und "französisch" bei ihm getrost austauschen kann. Dabei auf Nietzsches Kritik ausführlich einzugehen, der den großen Franzosen als typisches Beispiel für die "Entartung und Verkümmerung des Menschen, wie sie der christliche Europäer ist" bezeichnete, wäre sicher interessant gewesen.

Blaise Pascal, das macht Attali transparent, hatte mehr als zwei Seelen in seiner Brust. Heute arbeiten Päpste und Philosophenpäpste wieder unter Hochdruck an seiner großer Lebensfrage: Wie Ratio und Glaube, Verstand und Herz zusammenkommen. Blaise Pascal entschied sich eindeutig und radikal – darin viel zu modern für die Lösungsvorschläge der gerade zu Ende gegangenen Renaissance, die er nicht gelten lassen konnte. Er fand seinen Trost in einem grausamen und gnädigen Gott, der für ihn die noch so faszinierende Erhabenheit der Naturgesetze wie Blendwerk überstrahlte.

Rezensiert von Marius Meller

Jacques Attali: Blaise Pascal. Biographie eines Genies
Aus dem Französischen von Hans Peter Schmidt
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2006
470 Seiten, 29,50 Euro