Der Griff nach der Revolution

19.07.2010
Kurz bevor der 1892 in Berlin geborene Walter Benjamin 1940 in die USA emigrieren musste, übergab er der Philosophin Hannah Arendt eine Kopie seiner Thesen "Über den Begriff der Geschichte". Nach dem Einmarsch der Deutschen waren beide gezwungen, Frankreich zu verlassen. Der Austausch von Manuskripten war eine Vorsichtsmaßnahme.
Benjamins Flucht endete im September 1940 an der spanisch-französischen Grenze, wo er in einer für ihn ausweglosen Situation Selbstmord beging. Nur seine "Thesen" gelangten in die Staaten. Hannah Arendt sandte sie an Theodor W. Adorno. Erschienen sind sie zuerst 1942 in Los Angeles in einem kaum verbreiteten Heft mit dem Titel "Walter Benjamin zum Gedächtnis".

Einer größeren Öffentlichkeit wurde der Text erst 1950 bekannt. Adorno veröffentlichte ihn in der Zeitschrift "Die Neue Rundschau". Damals schon galten die "Thesen" als das geschichtsphilosophische Vermächtnis des Autors. Immer wieder hatte er sie verändert. Von den Varianten sind ein Hannah Arendt-Manuskript, Benjamins Handexemplar, eine französische Fassung, eine überarbeitete Zwischenabschrift, das Dora-Benjamin-Typoskript und eine posthume Abschrift erhalten. Was der Autor korrigiert und gestrichen hat, kann man im soeben erschienenen Band der neuen "Kritischen Gesamtausgabe" nachlesen.

Die Textfassungen lassen sich im Unterschied zu den älteren "Gesammelten Schriften" nun erheblich leichter vergleichen. Denn jetzt sind sie, ebenso wie sämtliche Entwürfe und Fassungen, im Textteil des Bandes zu finden. Dass alles, was Benjamin geschrieben hat, nun gleichberechtigt nebeneinander im Textteil erscheint, ist ein Gewinn der neuen, sehr akribischen Ausgabe.

Doch wie steht es um die Bedeutung von Benjamins "Thesen" heute? Inzwischen ist es nicht mehr der Aufsatz über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", der häufig zitiert wird, sondern der "Angelus novus". Vom Engel der Geschichte spricht Benjamin in der IX. These. Inspiriert wurde sie durch ein Bild von Paul Klee. Der Engel der Geschichte entfernt sich, in Benjamins Interpretation, immer weiter vom Paradies. Denn was wir Fortschritt nennen, ist der Wind, der den Engel rückwärts in die Zukunft treibt, die er nicht sieht. Sein Blick fällt auf die Trümmer und die Toten, die er nicht mehr erwecken kann. Benjamin ging davon aus, "dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist"; und dass das Staunen darüber, welche barbarischen Ereignisse im 20. Jahrhundert möglich sind, kein philosophisches sei. Dieser Befund ließ ihn zu der Überzeugung gelangen, dass die Katastrophe darin besteht, dass alles weitergeht wie bisher. Seine Hoffnung richtete sich auf die Unterbrechung der Kontinuität – weshalb er in den Revolutionen den Griff nach der Notbremse sah.

Heute scheint der Griff nach der Revolution längst keine Alternative mehr. Aber es stellt sich die Frage, ob die Menschheit bereit ist, sich mit der rückwärtsgewandten Perspektive des "Angelus novus" abzufinden. Dann dürfte sie weder von den Trümmerbergen noch von den vielen Erschlagenen irritiert sein. Das wäre der Preis, den sie für den "Fortschritt" zu zahlen hätte.

Besprochen von Michael Opitz

Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte
Werke und Nachlaß
Kritische Gesamtausgabe, Band 19
Hrsg. v. Gérard Raulet
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
379 Seiten, 34,80 Euro