Der Grenzgänger

26.03.2009
Hans Otto Bräutigam, ehemals Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin, hat seine Memoiren geschrieben. Darin erinnert sich der 78-Jährige an Ereignisse wie die Biermann-Ausbürgerung - und wirbt um Verständnis für die Lebensleistung der Menschen in der DDR. Ein überaus sachkundiges deutsch-deutsches Lesebuch.
Hans Otto Bräutigam ist Diplomat – durch und durch. Und er ist einer der profiliertesten Deutschlandpolitiker der alten Bundesrepublik, auch wenn sich der parteilose Jurist weniger als Politiker, vielmehr als Staatsdiener im preußischen Sinne verstand und versteht. Hans Otto Bräutigam baute in den 70er Jahren die Ständige Vertretung der Bundesrepublik bei der DDR, wie es offiziell heißen musste, mit auf. In den 80er Jahren übernahm er die Leitung der westdeutschen Repräsentanz in Ost-Berlin, verließ diese aber auf eigenen Wunsch ein knappes halbes Jahr vor dem Mauerfall. Selbst als intimer Kenner der Machtverhältnisse in der DDR konnte er die friedliche Erosion des zweiten deutschen Staates nicht vorhersehen.

Nun hat Hans Otto Bräutigam, inzwischen 78 Jahre alt, seine Memoiren vorgelegt – ein überaus sachkundiges deutsch-deutsches Lesebuch. Er beschreibt die Geschichte der verschwundenen Welt des Kalten Krieges, stellt dar, wie die beiden deutschen Staaten einander feindlich gegenüberstanden, wie sie die Annäherung in kleinen und kleinsten Schritten wagten, wie die Vertretung erbittert um "humanitäre Erleichterungen" für die Bürger diesseits und jenseits der Mauer rang. Bräutigam beschreibt die politischen Hintergründe der neuen Ost-Politik von Willy Brandt und Egon Bahr. Was als politischer Kurswechsel in der Haltung gegenüber den kommunistischen Staaten gedacht war, wurde für ihn zum Motto seines Berufslebens: Niemand hat Egon Bahrs Wort vom "Wandel durch Annäherung" so verinnerlicht wie Hans Otto Bräutigam.

Der aus dem Saarland stammende Jurist bekennt, dass er zunächst gar nichts über die DDR gewusst habe. Doch man spürt: Der andere deutsche Staat faszinierte und prägte ihn, er mag dessen Bürger und hat im Laufe seiner Dienstjahre ihr Vertrauen erworben. Nicht zuletzt deshalb rief ihn nach der Vereinigung Manfred Stolpe als Justizminister in sein brandenburgisches Kabinett – eine Zeit, die Bräutigam in seinem Buch jedoch nicht mehr behandelt. Auf den rund 470 Seiten geht es ausschließlich um seine Zeit in Ost-Berlin, um die mühsame Verständigung auf dem offiziellen Parkett. Bräutigam erinnert an Ereignisse wie die Biermann-Ausbürgerung, das Treffen von Schmidt und Honecker am Werbellinsee, Honeckers West-Reise 1987. Er beschreibt seine Begegnungen mit anderen Künstlern, sein Verhältnis zum Dichter Reiner Kunze, zum SED-Kritiker Rudolf Bahro, und er berichtet über die Arbeit in der Ständigen Vertretung – insbesondere natürlich die dramatische Situation, als das Gebäude von Flüchtlingen besetzt war, die ihre Ausreise erzwingen wollten.

Anfangs habe man sich auf der offiziellen Ebene nichts zu sagen gehabt, gesteht er. Doch das Bemühen um Verständigung trug unter Gaus Früchte und Bräutigam setzte den Kurs der Verständigung fort – ein schwieriges Unterfangen, da in grundlegenden Fragen (wie der Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft) eine politische Verständigung unmöglich war. Öffentliche Auftritte im Scheinwerferlicht des Fernsehens waren seine Sache nicht, bekennt Hans Otto Bräutigam. Auch in seinem Buch ist er zurückhaltend: Er rückt seine Person nicht ins Scheinwerferlicht – was dem Charakter des Diplomaten entspricht (und ihn angenehm von seinen beiden Vorgängern Günter Gaus und Klaus Bölling unterscheidet), was aber für das Buch einen Nachteil birgt: Etwas mehr Persönliches hätte den Memoiren gut getan.

Der heute 78-jährige Jurist lässt weiter Milde gegenüber der Diktatur walten. Einst war das eine der Grundvoraussetzungen für den Aufbau der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR: Kritik an den Verhältnissen war nicht gestattet und wurde von der SED reflexhaft als "Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR" mit Empörung zurückgewiesen. Bis heute sind Rechtsbruch und Menschenrechtsverletzung nicht Bräutigams Themen – viel wichtiger ist ihm die Anerkennung der Lebensleistung der Menschen in der DDR. Für sie wirbt er um Verständnis – in der schmerzlichen Gewissheit, dass die Bürger der alten Bundesrepublik die Geschichte der DDR weitgehend ignorieren und sich wenig für ihre - längst nicht mehr "neuen" - Mitbürger interessieren.

Rezensiert von Jacqueline Boysen

Hans Otto Bräutigam: "Ständige Vertretung. Meine Jahre in Ost-Berlin"
Hoffmann und Campe 2009
420 Seiten, 22 Euro