Der gregorianische Choral und die frühe Mehrstimmigkeit

"Wer singt, betet doppelt"

Zisterzienser-Mönche vom Kloster Heiligenkreuz im Wienerwald singen in einer Kapelle des Klosters in Bochum-Stiepel gregorianische Choräle.
Fundament der abendländischen Musiktradition: Mönche bei der Interpretation des gregorianischen Chorals © picture alliance / dpa / Bernd Thissen
Gast: Stefan Klöckner, Theologe, Musikwissenschaftler und Dirigent; Moderation: Bettina Schmidt · 14.10.2018
Mönche im Mittelalter, eine Welt hinter Klostermauern: Der gregorianische Choral ist das älteste Repertoire, das heute noch gesungen wird. Wie interpretiert man eine Musik, die über eintausend Jahre alt ist?
Der gregorianische Choral, benannt nach Papst Gregor dem Großen (gestorben 604), erfuhr seine Ausprägung wohl im 8. Jahrhundert im Frankenreich. Dabei schöpfte der unbegleitete einstimmige Kirchengesang aus verschiedenen – auch nicht-christlichen – Quellen. Über Jahrhunderte weiterentwickelt und zur Grundlage mehrstimmiger Musik gemacht, verblasste seine Bedeutung in der Frühen Neuzeit.

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Vom Gotteslob zum Wohlfühlklang

Erst im 19. Jahrhundert wurde das älteste überlieferte Repertoire der abendländischen Musik wiederentdeckt – und gerade von Komponisten begeistert aufgegriffen. Die Liste der gregorianischen Anleihen und Anspielungen in Werken der Romantik und Moderne ist schier endlos, am berühmtesten ist wohl der spektakuläre Einsatz des "Dies irae" im Finale der 1830 komponierten "Symphonie fantastique" von Hector Berlioz.
Nach der Pionierarbeit, die im 19. Jahrhundert von Mönchen des französischen Klosters Solesmes geleistet worden war, wurde der gregorianische Choral allmählich wieder zum Allgemeingut der Kirchenmusik. Im späteren 20. Jahrhundert machte er im Windschatten von Mittelalterfantasien wie "Der Name der Rose" sogar Karriere als esoterisch angehauchte Wohlfühlmusik.
Der Pilgerhymnus "Dum Pater familias" aus dem "Codex Calixtinus" in der Kathedralbibliothek von Santiago de Compostela
Der Pilgerhymnus "Dum Pater familias" aus dem "Codex Calixtinus" in der Kathedralbibliothek von Santiago de Compostela© Stefan Klöckner

Zurück zu den Wurzeln

Möglich ist das auch, weil der gregorianische Choral dank seiner sehr weit zurückliegenden Entstehungszeit eine große Projektionsfläche darbietet, und wer sich heute mit der frühen christlich-liturgischen Musik beschäftigt, wird schnell feststellen, dass ein und derselbe gregorianische Choral sehr verschieden klingen, ein und dieselbe Liedmelodie gänzlich andere Klangräume bedienen kann. Manchmal könnte man sogar meinen, man erlebe ein anderes "Stück". Unser Wissen um das Fundament der abendländischen Musiktradition hat sich seit dem 19. Jahrhundert stark erweitert, was folgenreich für die klangliche Umsetzung gewesen ist. Spezialist für das einstimmige und frühe mehrstimmige Repertoire ist Stefan Klöckner, Professor für Musikwissenschaft/Gregorianik und Geschichte der Kirchenmusik an der Folkwang Universität der Künste. Er wird mit vergleichbaren Aufnahmen unsere Sensibilität für eben jene interpretatorische Entwicklung schärfen.
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