Der Graf der Sprüche

24.04.2010
Die Herrnhuter Losungen sind der heimliche Bestseller des religiösen Buchmarktes. Für jeden Tag des Jahres bieten sie ein Bibelwort als Motto an. Eine missionarische Glaubenspraxis, die auf Nikolaus Graf von Zinzendorf zurück geht. Eine Spurensuche.
"Das ist ein erhebendes Gefühl, muss ich sagen, wenn man da beim Losungsziehen dabei ist. Ich denke, das Gefühl, das ich in dem Augenblick hatte, war schon, hier etwas zu tun, was von Bedeutung für viele Menschen sein kann. Und Gott spricht durch sein Wort und dieses Wort, das da gezogen wird, wird vielen Menschen von Bedeutung sein, wird viele Menschen ansprechen."

Klaus Dieter Kottnik ist Sitzungen gewohnt – als Präsident des Diakonischen Werkes nimmt er an unzähligen teil. Nur wenige davon bleiben ihm jedoch so eindrücklich im Gedächtnis wie die im Frühjahr letzten Jahres. Was da im kleinen Ort Herrnhut unter Mitwirkung Kottniks geschah, hat Auswirkungen auf zig Millionen Menschen weltweit. Denn so viele richten ihr Tagwerk nach jenen Bibelsprüchen aus, die in Herrnhut in einem Losverfahren festgelegt werden.

"Es beginnt mit der Andacht, dann beginnt das Losungsziehen, die Losungen sind kleine Schildchen, auf denen eine Ziffer in alten Zahlen geschrieben steht, und diese Ziffern liegen in einer Schale, man zieht dann aus der Schale ein solches Schildchen heraus, liest die Zahl vor. Das macht einer, der mit am Losungsziehen beteiligt ist, denn man wechselt immer so alle Vierteljahr zwischen den Beteiligten, hat ein Buch, und in diesem Buch stehen zu diesen Zahlen die entsprechenden Bibelverse. Man sagt also die Zahl, sag ich mal 234, und dann kommt der Bibelvers - schätz‘ ich mal, der Bibelvers wäre dann: 'Der Herr hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen'."

Was Diakoniepräsident Kottnik in Herrnhut erlebte, klingt merkwürdig – zumal für den protestantischen Glauben, der gemeinhin als kopflastig gilt und in dem wenig Platz für spirituelle Rituale zu sein scheint. In Herrnhut jedoch wird nicht etwa einer Kommission, sondern dem göttlich gelenkten Zufall die Entscheidung überlassen.

Die seltsame Tradition geht auf einen nicht minder seltsamen frommen Adligen zurück. Vor knapp 300 Jahren hatte Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf die Idee, Menschen für jeden Tag einen Glaubenssatz mit auf den Weg zu geben. Zinzendorf-Biograf Ralph Ludwig weiß, warum:

"Geistliche Ritterschaft das war die Idee, dahinter stand eine Losung für den nächsten Tag, die er ausgeben wollte. Beispielsweise hieß die erste Losung: 'Liebe hat ihn hergetrieben und ich sollte ihn nicht lieben?' Es war einfach eine zündende Idee, die an den militärischen Brauch anknüpfte, am Vorabend eines Tages die Parole auszugeben, mit deren Hilfe der Soldat sich bei den eigenen Wachen ausweisen konnte. Es waren nicht von Anfang an Bibelworte … "

… und am Anfang wurden diese Worte nicht ausgelost, sondern von Graf Zinzendorf höchstpersönlich festgelegt. Für heutige Ohren klingen die ersten Losungen reichlich schwülstig. Das ist einerseits dem barocken Lebensgefühl zuzuschreiben. Andererseits den außergewöhnlichen Lebenserfahrungen des Grafen Zinzendorf.

Seine Kindheit verbringt der Adelsspross bei seiner evangelisch-frommen Großmutter in Großhennersdorf, einem kleinen Ort in der Oberlausitz, südlich von Dresden. Die Großmutter schickt ihren zehnjährigen Enkel nach Halle, auf die Schule der Franckeschen Stiftungen. Hier wird Zinzendorf vom Geist des Pietismus erfasst: einer evangelischen Frömmigkeitsform, die die Beziehung zu Gott und das persönliche Gebetsleben in den Vordergrund stellt.

Sein Wissensdrang treibt Zinzendorf auf die Universität nach Wittenberg. Dort schreibt er sich 1716 für das Studium der Rechtswissenschaft ein. Eine Reise nach Paris wird zum weiteren Meilenstein seiner Entwicklung. Es entsteht eine innige Freundschaft mit dem dortigen Kardinalerzbischof.

Aus Paris zurückgekehrt, hat Zinzendorf als Hof- und Justizrat in Dresden nicht wirklich viel zu tun. So kann er sich seinen frommen Studien widmen. Eine vorweihnachtlicher Kutschfahrt im Jahr 1722 wird Anlass für die Schaffung seines Lebenswerkes. Nahe seines Gutes Berthelsdorf erblickt er Licht in einem sonst leerstehenden Haus. Evangelische Glaubensflüchtlinge aus dem benachbarten Mähren hatten sich Berthelsdorf als neue Heimstatt erwählt. Ihr Schicksal rührt den Grafen Zinzendorf und andere fromme Männer vor Ort so sehr, dass sie 1727 eine eigene christliche Gemeinde gründen. Auch ein Name ist schnell gefunden:

"Um diese Zeit wurde unter den Brüdern wegen der Einsamkeit der Häuser und wegen des nahegelegenen Hutberges dieser Platz die Hut des Herrn oder Herrnshut geheißen."

Bis heute ist die sogenannte Herrnhuter Brüdergemeine – auch "Brüder-Unität" genannt -, eine evangelische Freikirche, die sich um Glaubensflüchtlinge kümmert und den persönlichen Glauben an Christus in den Mittelpunkt stellt. Dass die Herrnhuter Tradition bis heute die evangelische Christenheit befruchtet, liegt unter anderem an den Liedern, die Graf Zinzendorf dichtete. Das bekannteste findet sich in jedem evangelischen Gesangbuch.

"Jesu, geh voran": Ein fast kindlicher Christusglaube, gemischt mit diakonischem Wirken und aufklärerischem Geist - diese Mischung war typisch für Graf Zinzendorf. Seine Überzeugung:

"Die Religion muss eine Sache sein, die sich ohne alle Begriffe durch bloße Empfindung erlangen lässt. Man betet das Lamm an und bittet es so lange, bis es alles, was noch hinderlich ist, mit seinem Gottesblute wegschwemmt und seinen Diener so zubereitet, wie es ihn haben will."

Sogar dem Zinzendorf-Biograf Ralph Ludwig ist diese frömmelnde Ausdrucksweise fremd geblieben:

"Wenn er Jesus als Braut verehrt und Gott den Schwiegervater nennt, das ist schon grenzwertig. Die Rede etwa vom "Lämmlein", mit dem Jesus gemeint ist."

Dennoch: Die Herrnhuter Gemeinde wuchs. Schon bald gründeten sich an anderen Orten Filialgemeinden. Zinzendorf schickt Missionare nach Nordamerika, nach Südafrika und ins ferne Asien. Zinzendorf studiert Theologie, legt das Examen ab und wird zum lutherischen Geistlichen und bald darauf 1737 zum "Brüderbischof" ordiniert. Als sich in Teilen der Brüder-Kirche enthusiastische, sogar ekstatische Spielarten seiner "Lämmlein"-Theologie ausbreiten, kann er nur mit Mühe und Autorität das Ansehen seiner Kirche wiederherstellen.

Enttäuscht von den Widerständen zieht er sich für eine Zeit zurück. Die weltweite Gründung von Herrnhuter Gemeinden bringen finanzielle Schwierigkeiten mit sich. Der Tod seiner Frau Erdmuthe versetzt Zinzendorf einen weiteren herben Schlag. Heimlich heiratet er eine langjährige und viel jüngere Mitarbeiterin. Schließlich schwächen ihn Krankheiten. Bei einem Aufenthalt in Herrnhut packt ihn heftiges Fieber. Am 9. Mai 1760 flüstert er seinem Schwiegersohn, der am Sterbebett wacht, zu:

"Mein guter Johannes, ich werde nun zum Heiland gehen; ich bin fertig, ich bin in den Willen meines Herren ganz ergeben, und er ist mit mir zufrieden. Will er mich nicht länger hier brauchen, so bin ich ganz fertig, zu ihm zu gehen, denn mir ist nichts mehr im Wege. Nun aber wollen wir noch ein bissel Konferenz halten."

Dazu kommt es nicht mehr: Graf Zinzendorf stirbt in derselben Nacht. Vier Jahre nach dem Tod ihres Gründers entscheidet die Herrnhuter Gemeine, dass die biblischen Tageslosungen künftig durch ein Losverfahren ermittelt werden. Eine Praxis, die auch 250 Jahre nach dem Tode Zinzendorfs Bestand hat und jährlich neue Rekorde bricht. Rund eine Million Bücher mit den Losungen werden Jahr für Jahr allein in Deutschland verkauft. In 50 weiteren Sprachen sind sie erhältlich.

Sie bereichern nicht nur das persönliche Glaubensleben – auch jene Art von "Konferenzen", die der Graf am Ende seines Lebens erlebt hatte. Davon weiß wiederum Diakoniepräsident Klaus-Dieter Kottnik zu berichten:

"Ich hab das erst kürzlich erlebt da war es vor einer Sitzung und die Sitzung beschäftigte sich mit einer sehr schwierigen Situation im Fusionsprozess den wir gerade haben zwischen dem evangelischen Entwicklungsdienst und dem Diakonischen Werk, wo wir ja planen, ein gemeinsames neues Werk zu schaffen, und dann kam eine Losung, die uns sozusagen gemeinsam an den Ursprung dessen erinnert hat, was wir miteinander zu tun haben. Und die Losung sagte: Gott ist ein Freund der Armen. Und das heißt: Wir sind für die Armen da. Und wir haben uns in der schwierigen Situation daran erinnert, dass wir einen gemeinsamen Auftrag haben, nämlich als Diakonie, als weltweite Ökumene, als weltweit wirkender Entwicklungsdienst für die Armen da zu sein und diese Erinnerung an den gemeinsamen Auftrag, der aus diesem Losungswort hervorkam, hat uns geholfen in der schwierigen Situation einen Schritt weiterzugehen."