Der getriebene Lehrer

01.08.2012
Wegen seiner düsteren Darstellung von Seelenzuständen wird der mährisch-jüdische Dichter Hermann Ungar oft mit Franz Kafka verglichen. Thomas Mann gehörte zu seinen Bewunderern. Der Manesse Verlag hat seinen letzten Roman wiederentdeckt: eine ungewöhnliche Geschichte.
Ein Lehrer steht vor seiner Klasse und fürchtet sich. In dem Roman aus dem Jahr 1927 zeichnet der Autor das Psychogramm einer wahnhaften Angst. Es war der zweite Roman, das dritte Buch des 1893 in Mähren geborenen Autors - und es sorgte für Aufsehen, nicht nur wegen seiner bitteren, ganz und gar düsteren Weltsicht, sondern vor allem wegen seines zentralen Blicks auf die Sexualität.

Die Hauptfigur ist ein Aufsteiger, ein Mann aus kleinen Verhältnissen, der am Gymnasium die Jungen aus den höheren Kreisen unterrichtet. Er fühlt sich ihnen unterlegen, vermutet Hass und Verachtung in den Heranwachsenden, die er allein mit Strenge und Kälte zu bändigen meint. Keine Spur ist da von pädagogischem Furor oder freundlicher Zuneigung für die ihm Anvertrauten.

Er beobachtet jede kleinste Regung im Klassenzimmer, bezieht jedes Lächeln, jedes Stirnrunzeln auf sich, ist peinlich bemüht, keine Angriffsfläche zu bieten. Er fühlt sich in seinem schlecht sitzendenden Anzug den Jungen in ihren Matrosenanzügen unterlegen, bedroht von deren erwachender Körperlichkeit: "Er wusste, dass die Blicke der Knaben ihn umlauerten, dass jede Blöße, die er sich gab, sein Verderben werden konnte."

Der Lehrer denkt unablässig an seinen hässlichen Körper, der den Jungen Anlass bieten könnte, sich ihn nackt oder gar beim Geschlechtsakt vorzustellen. Er ist peinlich bemüht, sein Privatleben geheim zu halten, will vermeiden, dass seine schwangere Frau gesehen wird, verfolgt sie mit seiner Eifersucht, vermutet in jedem Schüler, jedem freundlichen Kollegen einen attraktiveren Nebenbuhler.

Hermann Ungar erzählt eine ungewöhnliche, eine pathologische Schulgeschichte. Im Zentrum stehen nicht die Schüler, sondern der von Furcht und Minderwertigkeitsgefühlen getriebene Lehrer, der sich von seiner demütigenden Vergangenheit nicht lösen kann, der meint, allein die Rolle des Despoten, nur "Zucht" könnte ihn vor der drohenden Lächerlichkeit retten. Ein Mann, der sich immer mehr in seinen Hirngespinsten verliert, der überall Revolte und Aufstand vermutet, - der dadurch schuldig wird.

Zur Seite steht ihm ein dubioser Vertrauter, ein Leidensgenosse seiner Kindheit, der es jedoch nicht weit gebracht hat, ein rundum bösartiger und durchtriebener, genau gezeichneter Charakter, der mit hinterhältigem Vergnügen, den Verschwörungsgedanken des Lehrers Stoff liefert. Dass der 1928 gestorbene Autor seinem paranoiden Helden dann doch noch ein glückliches Ende gönnt, kommt in diesem eindrucksvollen - und in der Zeichnung von grotesken Nebenfiguren durchaus auch komischen - Roman ein wenig überraschend.

Besprochen von Manuela Reichart

Hermann Ungar: Die Klasse
Manesse, München 2012
318 Seiten, 19,95 Euro

Links bei dradio.de:
Meisterhafte Parabel auf die Zwischenkriegszeit
Hermann Ungar: "Die Klasse". Manesse Verlag
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