Der Geschmack von Babyfleisch

29.09.2013
Der Friedenspreisträger Liao Yiwu lenkt in einem dritten Band mit Interviews, die er selbst geführt hat, den Blick auf die vielen menschlichen Dramen in China. Ein Feinschmecker etwa schwärmt von Babyfleisch, eine Mutter wiederum erzählt vom Verlust ihrer einzigen Tochter bei einem Erdbeben.
Die alten chinesischen Luftschutzbunker sind heute Partyzentralen, Dongdong-Bars genannt. Hier wird im Schummerlicht getanzt, und schnell ist man sich mit den teils professionellen Tänzerinnen über den Preis für weitergehende Dienstleistungen einig. Auch Liao Yiwu war 2009 in einer dieser Bars und ist dort mit der Tänzerin Dai Fenghuang ins Gespräch gekommen.

Im Interview erzählt sie Liao davon, wie mit den Privatisierungen in den 90er Jahren viele Staatsbetriebe geschlossen wurden. In ihrer Familie wurden fast alle arbeitslos, dabei konnten die Dais "zwei Generationen reinrassige Arbeiterklasse" vorweisen. Als dann auch noch ihre alte Mutter Krebs bekam, fraß die medizinische Versorgung der Familie den letzten Rest Geldes weg. Irgendwann war die Verzweiflung so groß, dass ihr Bruder die alte Mutter tötete: "Es war ein Leichtes für ihn, Mutter aus dem Toilettenfenster zu werfen und dann ist er selbst hinterhergesprungen. Flapp, flapp."

Dreißig derart offene Interviews hat Liao Yiwu in seinem neuen Buch "Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch" versammelt. Er hat sie in den Nullerjahren vor allem in den südchinesischen Provinzen Sichuan und Yunnan geführt. Ein Restaurantbesitzer erzählt zum Beispiel vom Kochen mit Altöl, ein Gourmet schwärmt vom Geschmack von Baby-Fleisch, ein alter Maler erzählt von seiner Sucht nach Muttermilch und ein Künstler davon, dass er zum Abschuss freigegeben ist. Liao spricht mit Säufern, Drogenabhängigen, Angeklagten, Huren, Spielern, Irren und anderen Leidenden, etwa mit einer Mutter, die ihre einzige Tochter 2008 beim großen Erdbeben in der Provinz Sichuan verloren hat.

"Liao fragt zugewandt und vorurteilslos nach"
So strotzt sein dritter, nun erschienener Gesprächsband – wie auch schon vorherige Bände – von drastischen Geschichten, und doch liest man diese nicht schockstarr, sondern voller Staunen über ihre Ausdruckskraft und auch voller Mitgefühl für Liaos durchweg ehrlichen Interviewpartner. Liaos zugewandtes, niemals bloß höfliches, sondern fundamental interessiertes und vorurteilsloses Nachfragen überträgt sich als Haltung auf den Leser. Seine Gespräche gewähren den Befragten großen Freiraum - und das ist ungewöhnlich für ein Land, in dem bis heute Kampagnen lanciert werden, um das politische Bewusstsein der Massen zu steuern. Auch für seine Unvoreingenommenheit hat Liao Yiwu den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2012 völlig zu Recht erhalten.

Als er 2011 nach Deutschland emigrierte, hat er etwa 300 Interviews als Rohmaterial mitgebracht. Diese gibt er nun Band für Band heraus. Nach "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" und "Die Kugel und das Opium" ist "Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch" Liaos dritter dicker Interviewband. Zwischendurch ist außerdem sein ebenfalls umfangreicher persönlicher Gefängnisbericht "Für ein Lied und hundert Lieder" erschienen. So hat Liao Yiwu in nur wenigen Jahren eine veritable Handbibliothek geschaffen, die den Leser weitab von offizieller Berichterstattung ein wildes und schmerzerfülltes China erleben lässt.

Besprochen von Katharina Borchardt

Liao Yiwu: Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch - Geschichten aus der chinesischen Wirklichkeit
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann.
Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2013
496 Seiten, 24,99 Euro