Der Geschmack der Glockenschläge

Rezensiert von Wolfgang Schneider |
Auch in seinem neuen Roman beschäftigt sich der Schweizer Autor wieder mit dem Verhältnis von Schein und Sein. Suter schickt seine Hauptfigur Sonia auf einen LSD-Trip, der bei ihr eine völlige Verwirrung der Sinne bewirkt. Sie riecht Farben, sieht Töne und schmeckt die Glockenschläge. Dann zieht die Physiotherapeutin in ein Dorf, in dem sich die ominösen Vorfälle häufen.
Martin Suters Lieblingsthema, das er schon im Erfolgsroman "Der perfekte Freund" zur Darstellung gebracht hat, ist das Verhältnis von Sein und Schein, Wirklichkeit und Halluzination. Auch Sonia, die Heldin seines neuen Romans "Der Teufel von Mailand", erleidet Zustände der Desorientierung.

Ein unfreiwilliger LSD-Trip hat unerwartete Nachwirkungen. Ein bisschen Bewusstseinserweiterung ist ja schön, aber was, wenn die Sinne nicht mehr in ihre geordneten Wahrnehmungsbahnen zurückkehren wollen? Sonia schmeckt Formen, riecht Farben, sieht Töne. Ein Mann hat einen "sandgelben" Namen, eine Farbe fühlt sich an "wie ein Maulwurfsfell", ein Geräusch hat "hellgelbe Noppen". Und die Glockenschläge einer Kirche haben den Geschmack von "überreifen Brombeeren".

Sonias Freude über derartige Synästhesien ist begrenzt. Die Verstörung ihrer Sinne scheint zugleich Ausdruck ihrer verfahrenen Lebenssituation zu sein. Die Enddreißigerin hat eine traumatische Ehe hinter sich: Ihr Mann Frederic Forster, ein Banker aus besten Kreisen, entpuppte sich als ordnungsbesessener Psychopath. In der Ehe gebärdete er sich als Erfüllungsgehilfe seiner dominanten Mutter.

Sonias Versuch, auszubrechen aus dem Beziehungsgefängnis, endete mit einem Mordversuch. Seitdem sitzt der verurteilte Gatte in einer psychiatrischen Klinik, und Sonia fürchtet den Tag, an dem er entlassen wird. Noch immer setzt ihr Frederics Familie zu: etwa mit dem Drängen, doch ein Gesuch um die vorläufige Einstellung des Verfahrens gegen ihren geschiedenen Mann zu unterschreiben.

Kaum erstaunlich, dass sich Sonia nach einem neuen Leben an anderem Ort umsieht. Sie besinnt sich auf ihren einstigen Beruf und nimmt eine Stelle als Physiotherapeutin in einem Wellness - Hotel an, fernab in einem Tal im unteren Engadin. Es handelt sich um ein frisch renoviertes neoromantisches Schlösschen, wie geschaffen für romanhafte Verwicklungen.

Und so geschieht es: Auch in Val Grisch kommt Sonia nicht zur Ruhe, für sie gibt es bis auf weiteres keine Wellness. Ohne dass zunächst viel passieren würde, versteht es Suter meisterhaft, eine bedrohliche Stimmung aufzubauen. Die 600-Seelen-Gemeinde ist von schrägen Charakteren bevölkert, wortkarg und misstrauisch. Auch meteorologisch bietet der Roman eindrucksvolle Drohkulissen auf:

"Der Wind, der den ganzen Nachmittag die Wolken über das Tal gejagt hatte, wuchs in der Nacht zu einem Sturm heran. In zornigen Böen tobte er durch das Dorf, riss die Geranienblüten von ihren Stängeln und fegte sie in bunten Haufen in den Ecken und Mauervorsprüngen der Dorfstraße zusammen. Er zerrte an der Fontäne des Dorfbrunnens und brachte die Kirchenglocken zu ein paar gespenstischen Schlägen. Bis in den Morgen heulte er über den Dächern, toste er in den Wäldern, orgelte er um die Felstürme. Kalt und unbeteiligt hing der fast volle Mond über dem Aufruhr."

Dann geschieht Merkwürdiges: Ein Ficus verliert über Nacht sämtliche Blätter. Der Baum wurde vergiftet, wie sich zeigt. Eine Turmuhr schlägt zwölf Mal, und zwar nachts um fünf. Der Hund der Hotelchefin rennt in Hemd und Hose durchs Dorf. Sonias Papagei Pavarotti wird ertrunken im Aquarium aufgefunden.

So mehren sich die Zeichen. Eine alte Bergwelt-Sage über den "Teufel von Mailand", Sonia ist bei einem Besuch in der Hotelbibliothek auf sie gestoßen, scheint das Muster der ominösen Ereignisse abzugeben. Was zunächst als Ausgeburt von Sonias überreizter Phantasie erscheint, wird mit jedem weiteren Vorkommnis im Hotel Gamander wahrscheinlicher: Da inszeniert jemand ein makabres Spiel, dessen letztes Opfer sie selbst sein soll.

Spannungsromane kommen oft humorlos daher, als wäre das Lachen eine Störfrequenz für den Thrill. "Der Teufel von Mailand" dagegen wartet mit Skurrilität und Augenzwinkern auf. Streckenweise liest sich das Buch wie die Parodie eines Schauerromans. Erst im letzten Drittel ist es dann vorbei mit der scheinbaren Harmlosigkeit. Da müssen einige Menschen dran glauben.

Oft stört an Unterhaltungsliteratur die reduzierte, mit Klischees durchsetzte Sprache. Suters unaufwendige, schlanke Sätze beweisen dagegen, dass er nicht nur ein Konstrukteur spannender Geschichten, sondern auch ein bewusster Spracharbeiter ist, der mit der eleganten Form seiner Romane überzeugen will.

Bei aller Leichtfüßigkeit des Erzähltons spürt man, wie vertraut dieser Autor mit den Dingen, Orten und Situationen ist, die er beschreibt – jedenfalls versteht es glänzend, diesen kundigen Eindruck zu erwecken. Das reicht von den Details des Hotelbetriebs und der physiotherapeutischen Arbeit (das Kneten und Bürsten der Leiber, die Fangopackungen im Warmhalteschrank) bis hin zu den atmosphärisch starken Landschafts- und Wetterbeschreibungen.

Ohne zu psychologisieren, stellt Suter die Menschen mit psychologischem Fingerspitzengefühl dar. So entstehen anschauliche Typen, die trotzdem unberechenbar bleiben. Der Leser kann sich nie sicher sein, woran er mit ihnen ist. Zwar hat man bald einen Verdacht, wer hinter dem ganzen Spuk stecken könnte, aber wer die Erfüllungsgehilfen des Täters sind, bleibt bis zum Schluss offen. Am Ende ist es der, den man am wenigsten in Verdacht hatte.

Wie schon in früheren Romanen dieses Autors geht es auch in "Der Teufel von Mailand" um die Frage: Was ist "Wirklichkeit"? Und wie viele gibt es davon? Aber philosophisch überstrapazieren sollte man das Buch nicht. Er ist kein "Zauberberg", sondern ein Unterhaltungsroman, der durch perfektes Handwerk überzeugt.

Martin Suter: Der Teufel von Mailand. Roman.
Diogenes-Verlag, Zürich 2006.
297 Seiten. 19,90 Euro.