Der geniale Sohn von Alfred Döblin

Von Bettina Kaps · 27.09.2005
In einem Schulheft hat Wolfgang Döblin der Nachwelt eine Bahn brechende Studie zur Wahrscheinlichkeitsrechnung hinterlassen. Er gilt damit als bedeutender Mathematiker des 20. Jahrhunderts. Der französische Germanist Marc Petit hat sich auf seine Spuren begeben und das Buch "Die verlorene Gleichung" über den Schriftsteller und seinen Sohn geschrieben.
60 Jahre lang wurde der versiegelte Umschlag des Mathematikers Wolfgang Döblin im Archiv der französischen "Academie des Sciences" geheim gehalten. Als die Wissenschaftler den Brief im Mai 2000 öffnen, kommt ein billiges Schulheft zum Vorschein. Sein Inhalt: eine Bahn brechende Studie zur Wahrscheinlichkeitsrechnung. Marc Petit – Literaturwissenschaftler und Germanist - horcht auf. In der Zeitung liest er, dass Wolfgang Döblin nach dieser überraschenden Entdeckung als einer der bedeutendsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts betrachtet werden kann. Petit kennt Werk und Leben von Alfred Döblin. Von diesem Sohn hat er noch nie gehört. Und noch etwas fesselt ihn:

" … eine dritte Sache, vielleicht die wichtigste: der Mann ist mit 25 Jahren gestorben und hat sich umgebracht, weil er in französischer Uniform gegen die Nazis kämpfte und er wollte nicht gefangen genommen werden. Er wollte sterben, um seine Freiheit zu bewahren. So jung und so genial – die Figur des bisher unbekannten WD war für mich eine Figur wie Arthur Rimbaud oder Georg Büchner. Eine wunderbare und traurige Geschichte zugleich. "

Die Familie Döblin war 1934 nach Frankreich ausgewandert, um der Judenverfolgung zu entgehen. Zwei der vier Söhne, Wolfgang und Klaus, wurden später zur französischen Armee eingezogen – damit ermöglichten sie sich und den Eltern eine schnelle Einbürgerung. Wolfgang kämpfte später in den Ardennen und in den Vogesen. In einem eiskalten Winter muss er nachts als Funker Wache schieben. Auf diesem Posten verfasst er seine Studie über die "Gleichung von Kolgomoroff". Als das Bataillon im Juni 1940 von der Wehrmacht eingekesselt wird, verlässt Wolfgang seine Einheit und erschießt sich in der Scheune eines Bauern. Marc Petit stellte überrascht fest, dass der Sohn in der Literaturwissenschaft völlig unbekannt ist:

" In der bekanntesten Biografie Alfred Döblins, von Schröter, drin ist keine Erwähnung Wolfgangs. Obwohl wichtig ist zu wissen, dass er fürs neue erworbene Vaterland gestorben war. "

Nur einige Mathematikerkollegen wussten von ihm: In der Welt der Wahrscheinlichkeitsrechnung hatte sich Wolfgang schon vor seinem frühen Tod mit 26 Aufsätzen und einer Doktorarbeit einen Namen gemacht.

Petit beschließt, ein Porträt zu schreiben und kontaktiert die noch lebenden Brüder Klaus und Stephan Döblin. Sie warnen ihn: Er werde wohl kaum ein ganzes Buch über Wolfgang zustande bringen. Beide erinnern sich an einen spröden und wortkargen Menschen. Doch Petit ist von Wolfgangs Person und seinem Schicksal schon so fasziniert, dass er nicht loslässt. Und er entdeckt auch andere Züge an ihm:

" Wolfgang war nicht immer so schweigsam, das ist eine Folge der Machtergreifung durch die Nazis. Er musste sein Abitur in Berlin machen, schon als Hitler an der Macht war. Vorher war er ein politisch engagierter Schüler, und damals hatte er keine Furcht, seine Meinung zu äußern, Rechten und Nazis gegenüber. Er war mutiger junger Marxist. Dann hat er verstanden, dass er schweigen musste, um sein Leben zu bewahren. Auch um seine Arbeit im Underground zu betreiben. "

Im Lauf seiner Recherchen interessiert sich der Autor immer mehr für das komplizierte Verhältnis zwischen dem introvertierten Wolfgang und seinem lebensfrohen Vater. Die beiden haben sich nicht gut verstanden, Wolfgang stand vielmehr auf der Seite seiner Mutter Erna, die von Alfred häufig betrogen wurde. Petit stößt jedoch auf überraschende Gemeinsamkeiten zwischen Vater und Sohn, zwischen dem Schriftsteller und dem Mathematiker, ja er zieht sogar Parallelen zwischen ihren Werken. Das Buch wird zum Doppelporträt.
" Es war möglich für mich, neue Brücken zu schlagen zwischen Vater und Sohn, zum Beispiel der Sohn hat auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeitsrechnung über den Zufall gearbeitet, die Brownsche Bewegung, Markowschen Prozesse. Ich las den "Berlin Alexanderplatz" wieder, fand, dass es der erste Roman in der neueren deutschen und europäischen Literatur ist mit dieser Dimension des Zufalls, der Wahrscheinlichkeitsrechnung, der erste stochastische Roman. "

Alfred Döblin hat sich später Vorwürfe gemacht, dass er seinen Sohn nicht genug geliebt habe. Er fühlte sich schuldig. Immerhin hatten er und seine Frau in den USA Zuflucht gefunden, während Wolfgang gegen Nazi-Deutschland kämpfte und starb. Diese Gedanken und Gefühle, so schreibt Marc Petit, sind in Alfred Döblins letzten Roman "Hamlet oder die lange Nacht nimmt kein Ende" eingeflossen. Die Hauptfigur Edward habe Ähnlichkeit mit Wolfgang.

Trotz der wenigen Quellen und Zeitzeugen, die er gefunden hat, gelingt es Marc Petit, Wolfgangs Schweigen zu interpretieren und mit Leben zu erfüllen.

" Worüber man schreibt, ist wie ein weißer Fleck, eine unbekannte Wüste. Man schreibt nicht, um etwas auszudrücken, sondern um etwas zu untersuchen und zu entdecken. Das, was im Innersten steckt, das bleibt immer geheim. Ich glaube, der schweigende Wolfgang ist auch ein Bild des schweigenden Menschen. Die Tatsache dass ich ein Buch von 400 Seiten schrieb über einen Menschen, der gar nichts gesagt hat, kann paradox klingen. Am Ende bleibt, was Geheimnisvoll ist, noch immer geheimnisvoll. Nur dass das Geheimnisvolle dichter und lebendiger wird."

Alfred und Erna Döblin ließen sich rechts und links von Wolfgang beerdigen. Der Tod hat Vater und Sohn versöhnt. Marc Petit hat Versöhnendes in ihrem Leben und Werk gesucht und gefunden. Zugleich hat er einen genialen Menschen aus der Vergessenheit gerissen.

Marc Petit: "Die verlorene Gleichung - Auf den Spuren von Wolfgang und Alfred Döblin", Eichborn Verlag, 24,90 Euro