Der geniale Networker

Von Volkhard App |
Das Werk Kurt Schwitters' steht im Mittelpunkt einer Ausstellung im Sprengel-Museum Hannover. Die Schau zeigt nicht nur den Künstler, sondern vor allem die Netzwerke, die er geschaffen hat. Wie viel die künstlerische Entwicklung von Schwitters (1887-1948) den Strömungen der Moderne verdankt, veranschaulicht diese Ausstellung mit zahlreichen Vergleichsbeispielen.
Er spielte mit den Formen und Materialien - und den Erwartungen des Publikums. Der "Merz"-Matador war ständig in Bewegung: zwischen Kunstgattungen und -stilen, beschäftigt mit Bildcollagen und -assemblagen, mit "Anna Blume" und der "Ursonate". Und auch sein geographischer Aktionsradius war in den zwanziger Jahren beachtlich: Rezitationsabende vielerorts, zum Beispiel mit dem Dadaisten Raoul Hausmann, die Herausgabe von "Merz"-Heften und Graphikmappen zusammen mit Künstlern wie Hans Arp und El Lissitzky, 1923 Teilnehmer eines "Kunstfeldzugs" in Holland mit Mitgliedern der konstruktivistischen Gruppe "de stijl". Als Akteur des "Rings neuer Werbegestalter" entwarf er moderne Layouts für die hannoversche Stadtverwaltung und für private Firmen, und wirkte in lokalen und internationalen Organisationen mit, die der abstrakten Kunst verbunden waren: von 1930 an in "cercle et carre", dann in "abstraction, creation, art non figuratif". So hatte Schwitters viele Mitstreiter und Freunde.

Mit seinem Aktionsradius hängt der Titel dieser Schau unmittelbar zusammen.
Kuratorin Isabel Schulz über die "Merzgebiete":

"’Merzgebiete’, so hat Schwitters seine Adressbücher überschrieben, die er auf seinen Reisen gebraucht hat. In den zwanziger Jahren war er ständig von Hannover aus auf Achse und nach Norden, Süden, Westen und Osten in Europa unterwegs. Und so sind auch seine Adressbücher aufgebaut: nach Städten und Ländern sortiert, so dass er, wenn er nach Paris oder Dresden fuhr, immer sofort wusste, welche Personen dort unter welcher Adresse oder Telefonnummer erreichbar waren."

Wie viel die künstlerische Entwicklung von Schwitters den Strömungen der Moderne verdankt, veranschaulicht diese Ausstellung mit zahlreichen Vergleichsbeispielen. Im Umfeld der Berliner Galerie "Der Sturm" und beeinflusst von Fernand Leger, Franz Marc und Delaunay versuchte Schwitters zunächst in Zeichnung und Malerei die gegenständlichen Formen aufzubrechen und zur Abstraktion vorzustoßen. Eine neue Qualität erreichte er dann mit seinen Collagen – das konnten farbige Papiere sein, die da montiert wurden, oder konkrete Alltagsreste: vom Zeitungsausriß über ein Stück Bindfaden bis zur Fahrkarte. Auch hierzu ließ sich Schwitters von außen anregen:

"Wesentlich zur Geburt von ‚Merz’ hat der Austausch mit den Berliner Dadaisten beigetragen. Es gibt einen Text von Raoul Hausmann, der bereits die alltäglichen Materialien benennt, die man für künstlerische Arbeit benutzen kann. Wesentliche Initialzündung für das Prinzip Collage – weg von der Ölmalerei – war sicherlich das Kennenlernen der einfachen, abstrakten Papierarbeiten von Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp. Es gibt in dieser Ausstellung ein schönes Bildpaar: eine der ersten Collagen von Schwitters, Ende 1918 entstanden, wird einer in Form und Farbe sehr ähnlichen Collage von Hans Arp gegenübergestellt, die 1916 bis 1918 datiert ist. Dort sieht man sehr stark die Nähe dieser Künstler in jener Zeit, die mit farbigen, unbedruckten Papieren und elementaren geometrischen Formen wunderbar komponierte Blätter geschaffen haben – jenseits der gemalten Ausdruckskunst."

Und sicher zählte auch Hannah Höch zu den ihn anregenden Persönlichkeiten.
Nie ging es Schwitters um Antikunst: Er wollte Kunst, eine neue, autonome Formensprache, die Erschaffung einer eigenen Welt. Die Auseinandersetzung mit konstruktivistischen Künstlern wie Moholy-Nagy und El Lissitzky bedeutete für ihn einen Fortschritt in der Abstraktion, eine strengere Geometrie.

Unübersehbar war aber auch die kreative Gegenrichtung: Wenn holländische Künstler wie Thijs Rinsema und Theo van Doesburg ihrerseits im Umfeld von Schwitters begannen, Collagen herzustellen, die denen des "Merz"-Meisters verblüffend ähnlich waren. Während Schwitters wiederum Impulse einzelner Kollegen aufnahm: Eines dieser Bilder wirkt wie eine Komposition von Mondrian, ein anderes läßt ein maritimes Motiv Feiningers als Vorlage erahnen.

Und immer wieder widmete Schwitters seine Arbeiten den Kollegen: so Moholy-Nagy oder dem "Fürsten von Sibirien", damit war Kandinsky gemeint.
Karin Orchard, die zweite Kuratorin dieser Schau:

"Das sind Freundschaftsbezeugungen. Schwitters war immer sehr darauf bedacht, Kunstwerke auszutauschen. Er hat die Kollegen regelrecht bedrängt:
‚Schick mir doch mal ein Bild, dann kriegst Du auch eins von mir.’ Und das war dann immer mit entsprechenden Widmungen versehen."

Von 1937 an lebte Schwitters im norwegischen Exil, 1940 floh er nach England. Nach den 20er Jahren mit den vielen Aktivitäten und Korrespondenzen nun die Zeit der großen Einsamkeit?

"Kann man nicht unbedingt so sagen. In London, nachdem Schwitters aus der Internierung entlassen war, hat er sehr stark Kontakt gesucht. Er ist Mitglied im ‚Pen Club’ geworden, hat dort die Vorträge gehört und sich mit den Literaten und Künstlern auseinandergesetzt, hat aber auch Kontakte zu englischen Künstlern und Galeristen geknüpft, so zu Roland Penrose und zu Maddox. Und hat in der Galerie von Mesens ausgestellt, der hat ihm die erste Einzelausstellung in London verschafft, und Mesens wiederum hat sich von ihm anregen lassen, wieder Collagen zur Zeit zu machen."

Auch der Brite Ben Nicholsen ist in Hannover mit Collagen vertreten, in die er mal eine Busfahrkarte eingearbeitet hat, dann wieder ein Telegramm. Arbeiten von 1942, als sich Schwitters im englischen Exil aufhielt. Veranschaulichen diese Werke seinen direkten Einfluss? Der Stellenwert von Schwitters wird bei den Vergleichsstücken dieser Schau nicht immer deutlich.

Seine Entwicklung erscheint hier im übrigen als nahezu ungebrochene Fortschrittslinie hin zur autonomen Kunst: Dass er im Exil nicht nur aus Gründen des Broterwerbs wieder verstärkt gegenständlich malte, Fjordlandschaften und Porträts – bleibt in dieser Ausstellung außen vor, passt offenbar nicht ins Kraftfeld der Moderne.

Deren Panorama aber wird im Sprengel Museum breit aufgefächert, mit "Dada Zürich", "konstruktivistischer Internationale" und den Verbindungen zu "Bauhaus"-Künstlern. Schwitters wird so in den Zusammenhang seiner Zeit gestellt, ohne dass ihm seine Unverwechselbarkeit abhanden käme. Und es geht eben um seine Haltung, seine Offenheit, seinen Radius. "Merz", so hatte er einmal formuliert, bedeute "Beziehungen schaffen, am liebsten zwischen allen Dingen der Welt". Isabel Schulz:

"Nicht zuletzt die Notizbücher, die er ‚Merzgebiete" genannt hat, belegen, dass es nicht nur auf die Dinge und Materialien in seiner Kunst ankam, sondern dass das ‚Schaffen von Beziehungen’ Personen einbezog. Schwitters würde man heute als genialen ‚networker’ bezeichnen. Er hat nicht nur selber profitiert von seinen Vermittlungsaktivitäten und Kontakten, die sein Lebenselixier waren - er hat Künstler zusammengebracht, hat versucht, zwischen Dada und Konstruktivismus, die in Spannung zueinander standen, zu vermitteln, eine Synthese zu schaffen. Sein Ideal war es, alles, was ihm produktiv erschien, aufzugreifen und zusammenzuführen. Hierin liegt die Aktualität des ‚Merz’-Konzeptes: dass nichts ausgeschlossen wird, es keine Grenzen gibt. Er war offen für die verschiedenen Formensprachen und wollte sie zur Synthese führen."


Service:
Die Ausstellung "Merzgebiete. Kurt Schwitters und seine Freunde" ist bis zum 4. Februar 2007 Sprengel Museum Hannover zu sehen.