Der gelbe Drache

Von Axel Dorloff · 15.08.2013
Etwa ein Viertel von Chinas Fläche ist Wüstenland - Tendenz steigend. In der Provinz Ningxia wehren sich die Menschen gegen die zunehmende Verödung, die aus fruchtbaren Ackerflächen staubigen Sandboden macht.
Sein ganzes Leben war die Wüste sein Nachbar. Der 60-jährige Bauer Sun Yanhui lebt in der chinesischen Provinz Ningxia. Sein Dorf Zhouzhuangzi liegt am Rande der Wüste Maowusu. Suns Gesicht ist von Sonne und Wind tief gebräunt und gegerbt. Auf dem Kopf trägt er einen Strohhut, um den Oberarm eine rote Binde. Sein blau-graues Hemd ist zur besseren Belüftung aufgeknöpft.

"Ich war bis zum Jahr 2009 der lokale Parteichef in unserem Dorf. Dann wurde ich Landschaftshüter, verantwortlich für die Bepflanzung. Deshalb trage ich auch dieses rote Armband – es zeigt, dass ich etwas zu sagen haben. Dass ich hier patrouillieren kann, ohne dass mich jemand stört."

Sun stapft über die Sanddünen, von denen heute die meisten mit Gräsern, Sträuchern und kleinen Büschen bepflanzt sind. Etwas weiter weg erkennt man die nackten Wanderdünen der Maowusu-Wüste. Seit 2009 wird hier im Rahmen eines deutsch-chinesisches Projektes versucht, die Ausbreitung der Wüste aufzuhalten. Damit der aufdringliche Nachbar, die Wüste, nicht immer weiter vorrückt. Und damit der Flugsand nicht Häuser, Höfe und ganze Dörfer schluckt. Mit dieser Angst lebt Bauer Sun.

"Wenn ein starker Wind kam, musste ich immer eimerweise den Sand aus meinem Hof tragen. Es war einfach alles zugeweht. Wären die Sanddünen nicht bepflanzt worden – ich befürchte unser ganzes Dorf wäre irgendwann komplett zugeweht."

Die Ausbreitung der Wüsten ist eines der größten Umweltprobleme in China – Experten nennen das Desertifikation. Mehr als ein Viertel der Fläche Chinas ist bereits Wüste und jeden Tag kommen neue Quadratkilometer hinzu. Die Versandung bedroht das Leben der Bewohner, Tiere und Pflanzen. Insgesamt sind in China rund 400 Millionen Menschen von der Wüstenbildung direkt oder indirekt betroffen. Besonders dramatisch ist die Situation in der Provinz Ningxia, schon jetzt eine der ärmsten Regionen Chinas. Die Provinz liegt am Übergang zum mongolischen Steppen- und Wüstenland. Im Westen, Norden und Osten ist Ningxia von Wüsten umgeben. Mehr als die Hälfte der Fläche der Armutsprovinz ist bereits Wüste. Etwa 600 Dörfer und kleine Städte gelten als gefährdet.

Wang Zhixiao ist Direktor der Forstverwaltung in Ningxias Hauptstadt Yinchuan. Er hat das Projekt zur Wüstenkontrolle mit ins Leben gerufen. Co-finanziert durch die KfW-Entwicklungsbank in Deutschland mit knapp zehn Millionen Euro. Mit seinem Arm holt Wang weit aus, malt eine Art Halbkreis in die Luft und zeigt über die Dünenlandschaft der Maowusu-Wüste.

"Als wir zwischen 2004 und 2006 die Gegend hier untersucht haben, um eine geeignete Stelle für unser Projekt zu finden, hatte sich die Wüste brutal ausgebreitet. Die Gründe dafür sind immer die gleichen: Überweidung und zu viel Landbau. Dazu dann die Dürre, also zu wenig Wasser. Überall hatten sich Wanderdünen gebildet, die nicht mehr von Pflanzen bedeckt waren."

Hinzu kommen die Auswirkungen des Klimawandels. Ein Resultat der Versandung von Chinas Nordwesten sind starke Sand- und Staubstürme. Sie kommen vor allem im Frühjahr. Die Saison der Staubstürme wird poetisch auch der "Gelbe Drache" genannt. Die Stürme fegen dann von den Ebenen im Westen Chinas über das Land hinweg und breiten sich über den ganzen Norden bis nach Peking aus. Der Himmel verdunkelt sich, die Luft färbt sich gelb und rot. Staub verstopft die Maschinen und Atemwege. Einer der stärksten Sandstürme fegte im April 2006 in die Millionenmetropole Peking, damals hatte sich der Himmel zwei Tage lang verdunkelt. Mehr als 300.000 Tonnen Sand und Staub legten sich über die Stadt. Und der Sand und Staub kam nicht aus den alten Wüsten, sondern aus Gebieten, die ursprünglich keine Wüsten waren.

Strohquadrate stabilisieren den Boden
Forstdirektor Wang beugt sich Richtung Wüstensand, schiebt die Äste der Sträucher zur Seite und zeigt, mit welcher kleinteiligen Handarbeit die Ausbreitung der Wüste bekämpft und kontrolliert werden soll.

"Mit dem Stroh pressen wir Quadrate in den Wüstensand und flechten so ein riesiges Netz, damit sich der Sand nicht mehr so einfach bewegen kann. Dann pflanzen wir Gräser und Sträucher, die schnell wachsen. So können wir den Sandboden stabilisieren."
Die Sanddünen sehen dann aus, als seien sie unter einem gigantischen Netz begraben. Die Strohquadrate stabilisieren den Boden der Sanddünen. Dann werden Büsche und Sträucher gepflanzt, die auch in extrem trockenen Gebieten wachsen. Shi Huishu ist der fachliche Direktor des Projekts. Er ist klein und gedrungen, und das Wüstenklima hat auf seinem Hemd bereits einige Schweiß-Spuren hinterlassen.

"Für das Netz aus Strohquadraten und die Bepflanzung stellen wir von der Forstverwaltung die Materialien: Weizenstroh, die Setzlinge und auch technische Unterstützung. Und die Bauern machen dann die praktische Pflanzarbeit, um sich Geld zu verdienen."

Bauer Sun macht diese mühsame Arbeit seit Beginn des Projekts 2009. Er war von Anfang an dabei und ist schließlich zum Gruppenleiter aufgestiegen – wie der Kapitän einer Fußballmannschaft zieht er seine rote Binde immer wieder mit Stolz nach oben. Insgesamt haben etwa 500 Bauern aus drei kleinen Dörfern dabei geholfen, aus Stroh in mühsamer Handarbeit Netze zu flechten, um die Dünen anschließend zu bepflanzen. Bauer Sun lächelt etwas gequält, als er von der Arbeit erzählt.

"Anfangs wussten wir alle gar nicht, wie man das macht. Wir kannten das ja nicht. Und die Bezahlung war zu der Zeit auch wirklich schlecht. Acht Fen für einen Quadratmeter. Und die Leute mussten sich natürlich etwas zu essen mitbringen, weil man von hier nicht einfach nach Hause gehen kann, um Mittag zu essen. So haben wir jeden Tag ein Dutzend Yuan verdient."

Umgerechnet knapp zwei Euro am Tag. Weil das selbst für die Bauern wenig ist, war die Begeisterung, bei dem Projekt mitzumachen, anfangs mäßig. Aber die Bauern konnten schließlich überzeugt werden. Auch weil es für sie um die Zukunft der eigenen Dörfer und Häuser geht. Als Bauer Sun aber die schlechte Bezahlung anspricht, gucken die beiden Funktionäre aus der Forstverwaltung erst irritiert und dann streng. Ein Wildkaninchen hüpft vorbei. Für den Leiter des Projekts, Shi, ein willkommener Anlass, das Thema weg vom Geld zu lenken.

"Seitdem sich die Vegetation erholt hat, sind natürlich auch viel mehr Tiere hier. Was wir oft sehen, sind Füchse und Wildkaninchen. Manchmal sehen wir die Füchse Fasane reißen. Die Zahl der wilden Tiere hat sich jedenfalls erhöht. Schlangen gibt es auch einige. Vorher war hier nichts, außer Wanderdünen und vertrocknete Steppe. Erst mit der Bepflanzung und den verschiedenen Sträuchern und Bäumen sind die Wildtiere wiedergekommen."

Es ist ein langer, zäher und mühsamer Kampf gegen den Sand, der auch von Wissenschaftlern unterstützt wird. Ein Partner ist die Universität für Forstwirtschaft in Peking. Wüsten-Experten aus Australien haben das Projekt beraten. Ein Wissenschaftler aus Deutschland hat längere Zeit hier gelebt. In den vier Jahren von 2009 bis 2013 konnte die bepflanzte Fläche in dem Projektabschnitt in Ningxia von 5 auf 85 Prozent erhöht werden. Forst-Direktor Wang gibt sich jedenfalls zufrieden.

"Jetzt kann man gut sehen, dass beide Seiten grün und üppig bewachsen sind. Das ist das Ergebnis unseres Projektes nach vier bzw. fünf Jahren anstrengender Arbeit. Da vorne, in der Mitte, können wir noch sehen, wie es vorher ausgesehen hat. Aber diese Stellen sind jetzt viel weniger geworden. Die meisten Sanddünen sind wieder begrünt und befestigt."

Mit dem Auto geht es weiter durch die karge Landschaft Ningxias. Lange Zeit über eine Schotterpiste, weil die Straße erst noch gebaut wird. Das deutsch-chinesische Wüstenkontroll-Projekt besteht aus zwei Teilen. Die Wiederaufforstung der Sanddünen ist der eine Teil. Der andere: Ist Land zurückgewinnen, das zuvor schon zur Viehzucht oder zum Ackerbau genutzt wurde. Vertrocknete und verkarstete Graslandflächen wieder nutzbar machen. Denn große Flächen des Weidelandes in Ningxia sind degradiert oder versandet.

Die Jungen sind in die Stadt gegangen, die Alten geblieben
Etliche Kilometer weiter geht es bis zum Dorf Yuhuangmiao. Viele der einstöckigen Häuser hier sind verlassen und verfallen. Die einfachen Stallungen und Nebengebäude der Bauern sind teilweise noch aus Lehm und Stroh gebaut. Die Hunde kommen neugierig angerannt. Zhang Cundong ist einer der Bauern im Dorf. Er hat etwa 70 Schafe und lebt hier mit seiner Frau und seinen Eltern.

"In unserm Dorf leben etwa 130 Menschen. Die jüngsten, die hier leben, sind auch schon über 50 Jahre alt. Alle unter 50 sind in die Städte gezogen und haben dort Arbeit gesucht. In der Hauptsstadt Yinchuan zum Beispiel. Hier gibt es ja nichts. Wovon sollen die jungen Leute leben?"

Auch Zhangs Kinder sind beide in die Stadt gezogen. Zurückgeblieben sind die alten Leute und die Schafe in einer vertrockneten, ausgedörrten Gegend. Aber seit 2009 laufen auch hier die Aufforstungsmaßnahmen. Stufenweise soll das Land wieder begrünt werden, erklärt Shi Huishu, der fachliche Leiter des Projekts.

"Wir haben das Gras- und Weideland jeweils in vier oder sechs Teilstücke aufgeteilt. Die bewirtschaften wir dann abwechselnd. Wir gucken jedes Jahr: Wie viel Grass ist da und welche Qualität hat es. Wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind und mehr als 80 Prozent der Fläche mit Gras bewachsen ist – dann bewirtschaften wir das Teilstück. Wenn aber kaum Regen gefallen ist und das Gras schlecht aussieht, dann weiden die Schafe dort halt nicht."

In den 90er-Jahren hatte sich die Zahl der Nutztiere in China in nur einer Dekade mehr als verdoppelt. Ohne dass sich die Wirtschaftsweise in den Trockengebieten geändert hätte. Überweidung war die Folge. Hier in Ningxia gilt für manche Flächen jetzt sogar ein totales Weideverbot. Das kann sich über mehrere Jahre hinziehen. Zu lange haben die Bauern hier ihre Schafe auf spärlichem Grasland weiden lassen. Zu lange wurde dem Boden zu viel Wasser entzogen. Das gibt es so jetzt nicht mehr, erklärt Bauer Zhang.

"Ein halbes Jahr sind die Schafe im Stall, das andere halbe Jahr sind die Grasweiden offen. Dieses Jahr haben wir die Weiden am 1. Juli geöffnet. Schließen tun wir sie dann am 1. Januar 2014."

Der alte Vater von Bauer Zhang ist mit den Schafen auf der Weide. Wie jeden Tag, erzählt Zhang. Der alte Mann war sein Leben lang mit den Schafen draußen. Für ihn ist es durchaus ungewöhnlich, dass nun die Schafe zu bestimmten Phasen nicht auf die Weide dürfen und zum Teil auf Stallhaltung umgestellt wird. Zhangs Vater trägt einen dunklen Arbeitsanzug, eine Schäfermütze und hat einen langen Stock in der Hand. Der alte Schäfer ist gerade dabei, die Schafe auf einen anderen Teil der Weide zu treiben.

In seiner Hemdtasche trägt der Schäfer einen Pass, der aussieht wie ein Reisepass. Wang Zhixiao, der Direktor der Forstverwaltung, nimmt ihm den Pass aus der Tasche, schlägt ihn auf und erklärt, was es damit auf sich hat.

"Das ist ein sogenannter Weidepass. Damit sagen wir den Leuten genau, wann sie ihre Schafe wo auf die Weide lassen dürfen. Alles wird eingetragen. Wenn die Schäfer so einen Weidepass nicht bei sich tragen, müssen sie Bußgeld zahlen. Oder sie werden anders bestraft. Der Pass sagt auch genau, wie viele Schafe Du auf die Weide lassen darfst."

Später wird uns der alte Schäfer erzählen, dass er das alles gewöhnungsbedürftig findet. Die Aufteilung der Weiden, diesen Pass in der Hemdtasche – zumal er gar nicht lesen kann. Aber er müsse zugeben: Das Grasland habe sich enorm erholt. Die Bauern konnten vor allem überzeugt werden, weil das Projekt Anreize bietet, mitzumachen, erklärt Forstdirektor Wang.

"Wenn die Bauern die Regeln des Projekts genau befolgen, werden sie belohnt. Dann zahlen wir eine Grasschneidemaschine, einen Stall für die Schafe oder es gibt einen Zuschuss für Gartenbepflanzung."

Wieder zurück am Haus von Bauer Zhang zeigt er uns stolz seine Belohnung. Als die Bauern auf Stallhaltung umstellen mussten, hatte er nur einen kleinen, alten Verschlag. Dann hat er Extramittel aus dem Projekt bekommen.

"Aus dem Projekt, das aus Deutschland mitfinanziert wird, habe ich 2500 Yuan bekommen. Um mir einen Stall für meine Schafe zu bauen. Das war im September 2012."

Wenig später sitzen die Bauern und die Funktionäre der Forstverwaltung beim gemeinsamen Mittagessen. Es gibt natürlich Lamm – die lokale Spezialität. Lammstücke mit viel Knochen und Knorpel in einer Soße. Dazu scharf angemachter Weißkohl, scharf gewürzte Gurken und selbst gemachte Nudeln. Und Bier aus kleinen Gläsern. Sogar der lokale Parteichef ist zum Essen geladen. In solchen Runden werden im ländlichen China in der Regel schon mittags gerne ein paar Gläser Bier getrunken. Dazu ein Trinkspiel, bei dem die Mitspieler die Hände voreinander halten, Zahlen raten und laut rufen müssen.

Große Teile der Weideflächen konnten wieder begrünt werden
Als sich die Runde wieder beruhigt, lässt der Leiter des Projekts, Shi Huishu, am Tisch einen Katalog über das Projekt herumgehen. Mit Bildern vor Beginn der Wüstenbekämpfung und mit aktuellen Aufnahmen. Das Grasland vor vier Jahren – und das Grasland 2013. Der Unterschied ist klar zu erkennen – große Teile der Weideflächen konnten wieder begrünt werden. Das sei auch ein Verdienst der Bauern hier, sagt Shi.

"Die Bauern mögen dieses Projekt. Jeder einzelne bekommt Subventionen und wird belohnt, wenn er das Weideland richtig bewirtschaftet. Und das Projekt hat natürlich einen großen ökologischen Nutzen: Die Vegetation erholt sich und es wächst wieder mehr. Dadurch, dass wir vorsichtig und systematisch bewirtschaften und regelmäßig Tests machen. Das Projekt verbessert die Lebensumstände der Menschen hier enorm."

Zumindest können die Menschen von der Landwirtschaft gerade so leben. Bauer Zhang zieht jedenfalls eine positive Bilanz.

"Vor etwa zehn Jahren waren viel zu viele Schafe auf dem Grasland, die ganze Gegend war total überweidet. Selbst wenn man die Schafe zwölf Stunden auf die Weide gelassen hat, wurden sie nicht satt, weil einfach kein Gras da war. Jetzt sind sie nach zwei, drei Stunden gesättigt – dann wollen sie nicht mehr fressen. Es gab Zeiten, da habe ich mit den Schafen kein Einkommen mehr erwirtschaftet. Jetzt bekommen sie allein dreimal soviel Nachwuchs wie früher."

Es gibt viele Projekte zur Wüstenbekämpfung in China. Das Projekt in Ningxia soll zunächst noch bis 2016 laufen. Aber die Verwüstung ist nicht nur ein Problem für die zentralasiatischen Regionen Chinas – sondern zunehmend auch für die küstennahen Regionen im Norden und im Osten. Die landesweiten Daten für China geben jedenfalls noch keine Entwarnung: Danach breitet sich die Wüste immer noch jährlich um 1700 Quadratkilometer aus. Auch wenn das Anfang der 90er-Jahre schon mal doppelt so viel war - der Nachbar bleibt aufdringlich. Die Wüste sucht sich weiter ihren Weg.
Mehr zum Thema