Der Geist von Königsberg

Von Jürgen Manthey |
Als mein Sohn in Hamburg das Abitur machte, hatte er in seiner ganzen Schulzeit weder das Wort Königsberg noch Kaliningrad je gehört. Das Gleiche berichtete ein Freund von seiner Tochter, die etwa zur selben Zeit in der DDR das Abitur bestanden hatte.
Die einstige, für den Ost-West-Handel so wichtige Hafenstadt, im 18. Jahrhundert noch doppelt so groß wie Berlin, einzige große Handelsmetropole an der Küste, seit 1544 mit einer berühmten Universität, Königsberg stand in dem Ruf, als frühere Residenz der preußischen Herzöge und, später, als Krönungsort der Hohenzollern-Könige, für all das verantwortlich gewesen sein, was uns heute an Preußen so abstoßend erscheint. Zu unrecht. Schon eine Äußerung von Hannah Arendt, Tochter aus einer alten jüdischen Königsberger Familie, müsste uns stutzig machen. Die bekannteste politische Philosophin des 20. Jahrhunderts, seit 1933 als Emigrantin erst in Frankreich und danach in den USA lebend, hat noch 1964 bei einem Deutschland-Besuch gesagt: „In meiner Art zu denken und zu urteilen, komme ich immer noch aus Königsberg.“

Die Stadt war ein geistig-politisches Zentrum, das weit nach Deutschland, ja, nach Europa hineingewirkt hat. Hegel hat noch 1828, drei Jahre vor seinem Tod, erklärt, es gebe nur zwei Orte, an denen (wörtlich) „Genie, Geist und Vernunfttiefe erblühten“, im Nordosten Königsberg, im Süden (von Berlin aus gesehen) Weimar. Die preußischen Könige mussten sich seit jeher mit den so genannten „Königsberger Zuständen“, wie Friedrich Wilhelm IV. den notorischen „Oppositionsgeist“ der Bürger dieser Stadt umschrieb, zähneknirschend abfinden. Friedrich der Große hat sich denn auch geweigert, die Stadt nach der Krönung noch einmal zu betreten.

Hier lebte und wirkte zu dieser Zeit immerhin der größte Philosoph der Welt seit Platon, Immanuel Kant. Von Kant machen wir uns ein völlig falsches Bild, wenn wir in ihm nur einen hoch-theoretischen Studierstuben-Gelehrten sehen wollten. Von ihm stammt der Satz: „Die Bestimmung des Menschen ist die Geselligkeit.“ Er war tagtäglich Gast in einem der über die Stadt hinaus berühmten Salons, Mittelpunkt aller Gesprächskreise Königsbergs. Als er dann selbst ein Haus besaß, lud er, und auch das täglich, zu seiner legendären Tischgesellschaft ein. Kants eigentlicher Imperativ lautet: Selber denken, sich danach aber in andere versetzen. Bezeichnend, was er an seinem großen Vorgänger in der Antike, Sokrates, auszusetzen hatte, nämlich: „Der Sokratische Dialog ist kein Gespräch, weil immer einer als Lehrer betrachtet wird. Im Gespräch aber ist keiner Lehrer oder Schüler.“

Königsberg war spätestens seit dieser Zeit die Hochburg des Republikanismus und Liberalismus in Deutschland. Von hier nahmen Anfang des 19. Jahrhunderts die preußischen Reformen ihren Ausgang, nicht zuletzt dank des bedeutendsten Schülers von Kant, des Staatsrechtlers Christian Jakob Kraus. Wir leben heute noch in selbst verwalteten Städten, deren Städteordnung von dem Königsberger Polizeidirektor Frey stammt, verabschiedet 1808 in Königsberg.

Demokratie-Bewegung und Verfassungskampf im 19. Jahrhundert haben hier ihr publizistisches Zentrum. Im Königsberger Magistrat stellen die Bismarck-Gegner, linke Liberale, die Mehrheit. Sie werden nach der Reichsgründung 1871 abgelöst durch die Sozialdemokraten. Hugo Haase, ein jüdischer Anwalt aus Königsberg, ist vor dem 1. Weltkrieg neben August Bebel erster Vorsitzender der SPD. Ein anderer Königsberger Sozialdemokrat, Otto Braun, bedeutendster Politiker der Weimarer Republik, ist von 1920 bis 1932 preußischer Ministerpräsident, eines Preußen, das das einzige und letzte demokratische Bollwerk war, das den Nazis den Weg zur Macht versperrte. Im so genannten Preußenschlag wurde daher Otto Braun am 20. Juli 1932 von der Papen-Regierung widerrechtlich seines Postens enthoben.

In Königsberg selbst gehen die Vertreter der liberalen Stadt-Obrigkeit noch bis zuletzt demonstrativ zu den Beerdigungen bekannter jüdischer Bürger. Der letzte Polizeipräsident Königsbergs vor Hitlers Machtantritt, ein Sozialdemokrat, verfasst eine Protestschrift gegen den sich ausbreitenden Antisemitismus. Bis zuletzt heißt: bis 1933. Es waren Hitler und sein Gauleiter Erich Koch, und nicht erst die Rote Armee 1945, die der großen Tradition dieser Stadt ein Ende bereiteten, die Königsberg von der Landkarte der Zivilisation löschten.

Jürgen Manthey, geboren 1932 in Forst, war Leiter der Literatur-Redaktion beim Hessischen Rundfunk, Cheflektor beim Rowohlt Verlag und Herausgeber des Rowohlt Literaturmagazins und der Reihe das neue buch; 1986 bis 1998 Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Essen. Jürgen Manthey lebt heute als freier Autor und Literaturkritiker in Münster.