Der Fuchs im Wolf

09.11.2010
Erzählt wird die Geschichte eines Mannes am Hofe Heinrichs VIII. Cromwell ist schlau und redegewandt sowie ein gewiefter Manager der Macht. Der historische Roman im Stile eines Kammerspiels beschreibt den Aufstieg Cromwells in vielen kleinen, präzise gezeichneten Szenen.
Der Blaubart unter den englischen Royals, Heinrich VIII., gehört zu den bekanntesten Königen in der Geschichte Europas. Er ist der Mann, der sich nacheinander auf unschöne Weise seiner Ehefrauen entledigte. Keine andere Regentschaft wurde deshalb so gern literarisch verarbeitet und dramatisiert. Auch Hilary Mantels jüngst mit dem Booker-Prize ausgezeichneter Roman "Wölfe" erzählt die Geschichte des Tudor-Monarchen im 16. Jahrhundert. Doch sie nimmt einen anderen Blickwinkel ein, sie berichtet aus der Perspektive eines Höflings.

Ihre Hauptperson heißt Thomas Cromwell, ein "Finsterling" der Macht, der es schaffte, von ganz unten zum zweitwichtigsten Mann im Staate aufzusteigen. Ihm verdankt der König die Annullierung seiner Ehe mit Katharine, der es nicht gelungen war, dem Reich einen männlichen Thronerben zu schenken. Dabei schafft es Cromwell, die Macht der katholischen Bischöfe zu brechen, er provoziert den Eklat mit dem Papst, enteignet den Klerus und gründet die Anglikanische Kirche. "So gerissen wie ein Sack Nattern" macht sich der Sohn eines Schmieds unverzichtbar für den Erhalt der königlichen Macht.

Soweit ist die Geschichte bekannt. Doch Hilary Mantel überrascht mit einer anderen Variante des Mannes, den man bislang für das machiavellistische Böse schlechthin gehalten hat. Obwohl sie die abgründigen Seiten ihres Protagonisten nicht beschönigt – Intrigen, Ränkespiele und Hinrichtungen –, bürstet sie die gewohnte Lesart kräftig gegen den Strich. Cromwell, geschmeidig, schlau und redegewandt, ist Fuchs und Wolf in einem. Nebenbei versetzt die Autorin das Geschehen mit überraschenden Analogien zur Gegenwart. Cromwell ist nicht nur ein Manager der Macht, er weiß auch, dass die neuen Imperien von Kaufleuten geschmiedet werden. Geld, so denkt der Gewiefte, sei langfristig mächtiger als die Gewalt der Könige.

Die studierte Rechtswissenschaftlerin Hilary Mantel, Jahrgang 1952, verdingte sich als Verkäuferin und Filmkritikerin, bevor sie zu schreiben anfing. An "Wölfe", ihrem elften Buch, arbeitete sie 20 Jahre. Dass daraus kein staubtrockenes, aber auch kein nur munter dahinerzähltes Buch geworden ist, verdankt sich ihrem präzisen Sinn für große historische Bögen ebenso wie ihrem Gespür für einen archaisierenden, gleichwohl hochmodernen Ton.

Geschult an der Lyrik John Donnes, an Shakespeares komödiantischen Finessen, Vermeers Licht- und Schattendramaturgie, aber auch an der pointierten Ökonomie von Drehbuchdialogen lässt sie die üblichen, mit dickem Pinsel aufgetragenen Genrebilder historischer Romane weit hinter sich. Mantel kommt ohne das übliche "Sex and Crime"-Spiel aus, bei ihr tönt kein Schlachtenlärm, und identifikationsträchtige Lichtgestalten vornehmlich weiblicher Provenienz sucht man bei ihr vergeblich. Ihre Stärke ist das Kammerspiel. In unzähligen, präzise gezeichneten kleinen Szenen zeigt sie, wie Politik gemacht wird: nicht bei Haupt- und Staatsaktionen, sondern im Verlauf intimer, beiseite gesprochener, halboffizieller Unterhaltungen. Fein gewebt aus Anspielungen, Verweisen sowie einer subtilen Psychologie ist diese Geschichte von Verführung, Verrat und gewaltsamem Tod ein spannender Roman, der vorzüglich amüsiert und gleichzeitig aufs Schönste bildet.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Hilary Mantel: Wölfe
Aus dem Englischen von Christiane Trabant
Dumont Buchverlag, Köln 2010
770 Seiten, 22,95 Euro