Der Freischütz

In jedem Max steckt auch ein Kaspar

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"Der Freischütz ... ein psychologischer Thriller" auf der Bühne der Komischen Oper in Berlin © picture alliance / ZB
Von Herbert A. Gornik · 23.11.2013
Die Dramaturgin und Neutexterin der Produktion des Freischütz von Calixto Bietio an der Komischen Oper Berlin, Bettina Auer, sieht in der Figur des Max einen Mann unter enormem Erfolgsdruck. Das macht ihn zum Opfer des Bösen.
Max, der Förster, und Agathe lieben sich und wollen heiraten. Agathe ist die Tochter des Erbförsters. Für den Erbförster Kuno wird ein Nachfolger gesucht. Nach Kunos Wunsch soll es Max sein, nicht Kasper, der in der Hierarchie eigentlich vor ihm dran wäre. Doch die Tradition will es, dass Max zuvor einen Probeschuss ablegt, mit dem er Chef und Ehemann wird. Leider hat Max in letzter Zeit wenig Glück auf der Jagd. Also greift er zu den von Kaspar angebotenen Kugeln, so genannten Freikugeln; das ist eine Zaubermunition, mit der man jedes Ziel treffen kann. Aber der Preis dafür ist hoch. Kaspar hat seine Seele dem Bösen verschrieben, dem Samiel, auch der "Wilde Jäger" genannt: dem gehört die letzte Kugel, und er kann sie in sein eigenes Ziel lenken. Die zentrale Stelle markierte der Komponist Carl Maria von Weber selber in Max Seelenleben:
Musik: "Doch mich umgarnen finstre Mächte!
Mich fasst Verzweiflung, foltert Spott!
O dringt kein Strahl durch diese Nächte?
Herrscht blind das Schicksal? Lebt kein Gott? Mich fasst Verzweiflung, foltert Spott!"
"Der Max im Freischütz ist in einer Situation, die man heutzutage sehr gut verstehen kann. Er steht unter enormem Erfolgsdruck, unter enormem Stress. Man stelle sich mal die Situation vor, an einem Tag, in einer Minute entscheidet sich das ganze Leben. Er möchte Agathe heiraten, die Tochter des Erbfösters, und an diesem ebenso schönen wie aufregenden Tag muss er sich beruflich bewähren, er muss einen Probeschuss ablegen und muss unter allen Umständen treffen."
Das sagt Bettina Auer, Dramaturgin und Neutexterin der Produktion des Freischütz von Calixto Bieito an der Komischen Oper Berlin. Sie deutet die Geschichte so: Max lebt in einer Gesellschaft, die sich über den Erfolg definiert. Wer dabei sein will, muss mitmachen und den Regeln entsprechen. Jetzt ist die Frage: Welchen Preis will ich dafür zahlen? Wenn Religion ist, woran man sein Herz hängt, wie Martin Luther meinte, und wenn Max sein Herz an den Erfolg hängt, verinnerlicht Max die dunkle Religion des Erfolgs um jeden Preis. Dazu muss er in den Wald, an den Ort des Bösen.
Bettina Auer: "Man kann den Wald einfach als einen Ort bezeichnen, in dem wir blank sind, wo wir frei liegen. Das ist ja jetzt eine Frage, die ich mir jetzt persönlich ganz oft stelle, wie dünn ist mein Zivilisationsmäntelchen? Also ich habe das große Glück, dass ich bisher noch nicht in einer Situation gewesen bin, wo gefordert war, mit einer ethischen Grundfrage, also Du oder ich, ich weiß aber nicht, wie ich reagieren würde. Natürlich hoffe ich, ob es eine Kriegssituation ist oder eine Gefahrensituation, dass ich dann meinen ethischen Grundsätzen folge und immer noch so handle, wie ich es für richtig halte, aber garantieren kann ich dafür nicht. Und insofern ist der Wald nicht etwas, was mit uns etwas macht, sondern ein Bild dafür, wo wir blanker sind."
Und damit empfänglicher für das Böse. Die Botschaft des Freischütz lautet: In jedem Max steckt auch ein Kaspar. Wir alle können an einen Scheideweg geraten, an dem wir uns entscheiden müssen. Dazu haben wir im Verein mit anderen entschieden, was für uns als Gesellschaft gut ist und was wir für böse halten. Im Freischütz sind die anderen, denen Max zugehören will, die Jäger.
Musik: „Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen?
Wem sprudelt der Becher des Lebens so reich?
Beim Klange der Hörner im Grünen zu liegen,
Den Hirsch zu verfolgen durch Dickicht und Teich,
Ist fürstliche Freude, ist männlich Verlangen,
Erstarket die Glieder und würzet das Mahl.
Wenn Wälder und Felsen uns hallend umfangen,
Tönt freier und freud'ger der volle Pokal!
Jo, ho! Traalalalala!“
Bettina Auer: "Die Jäger im Freischütz stehen jetzt nicht für den Berufsstand des heutigen Berufsstand, das ist ja ganz wichtig, sondern sie stehen für ein Bild von Männlichkeit und für eine archaische Gesellschaft, in der eben der Jäger das Essen nach Haus brachte. Das verurteilt nicht jeden Mann, sondern meint ja auch eine bestimmte Vorstellung von Männlichkeit. Also nicht jeder Jäger ist ein Mörder, das fänd ich jetzt Quatsch zu behaupten, sondern das ist ein Bild. Wie die Oper ja ganz viel in Bildern arbeitet. Und wenn sich die Gesellschaft aber darüber definiert über den Wettbewerb, also entweder Du siegst oder ich siege, und wenn Du verlierst, dann wirst Du eigentlich ausgestoßen oder Du darfst gar nicht mehr mitmachen. Und das ist eigentlich, vielleicht nicht in ganz so brachialer Weise, ein durchaus männliches Prinzip. Also Frauen leben mehr in Gemeinschaften und Männer leben über Konkurrenzdruck."
So ein jagdgetriebener Männlichkeitswahn hat oft auch vor Frauen nicht halt gemacht. Wald und Jagd sind im Freischütz verdichtet im Bild der Wolfschlucht. Die Wolfschlucht steht für den Ort des Zivilisationsbruchs.
Bettina Auer: "Die Wolfsschlucht ist das zentrale Bild, wo da Unerhörte, das Unmögliche, also das Grenzüberschreitende passiert. Wenn wir jetzt noch mal auf das Stück zurückgehen, dann ist das doch der Ort, wo man nicht hindarf, weil dort der Teufel angerufen wird. Und dafür gilt es heute eine Übersetzung zu finden. Deswegen ist für mich das treffendste eigentlich: Die Wolfsschlucht ist ein Ort, an dem wir unsere Grenzen, unsere moralischen und ethischen, überschreiten. Wer sich dort hinbegibt, weiß, dass er als ein anderer wieder hervorkommt. Der Weg dorthin ist eine Entscheidung. Also dafür jetzt ein Bild zu finden, was wäre eine Grenzüberschreitung, was verändert mich so grundlegend, dass ich hinterher nicht mehr in den Spiegel gucken kann."
Weber hat musikalische Bilder für Grenzüberschreitungen in der Wolfschlucht gefunden: Bassposaunen und Klarinetten illustrieren den schwarzen Eber, die funkensprühenden Räder tauchen in wilden Streicherklängen auf, fast atonal klingende Hörner illuminieren das wilde Heer der Dämonen. Dieses furchtbare Dunkle der Wolfschlucht hat Weber mit einem Tonartenmix organisiert: mit c-moll tritt Samiel auf, Max kommt mit Es-Dur, der Kugelsegen wird in a-moll erteilt, und das Ende erklingt in der Ausgangstonart fis-moll. Diese vier Haupttonarten bilden den verminderten Septakkord c-a-fis-es, der hatte schon in der Ouvertüre das Dunkle der Handlung angedroht. Dieser verstörende Klang wird in ganz verschiedene Akkorde aufgelöst und ordnet gewissermaßen negativ die finstere Seelenlandschaft ‘Wolfsschlucht‘. Es ist, wie Weber selber einmal sagte, eine absichtsvoll geplante „böse Musik“.
Im Textbuch des Freischütz ist das Freikugelgießen das durch und durch Furchtbare. Was wäre es heute? Das neue Bild für die Grenzüberschreitung zu finden, nach der wir uns selber nicht mehr in die Augen schauen können, ist die Aufgabe des modernen Menschen als Hörer der Oper und als Christ in der ethischen Entscheidung. In der von Dramaturgin Bettina Auer betreuten Inszenierung von Calixto Bieto begeht Max die größte Grenzüberschreitung, einen Mord. Max verfällt der Religion des Erfolgs, der Ideologie des Mitmachens um jeden Preis. Seine Braut Agathe im Freischütz verfügt nur über ein innerliches, nach Ansicht Webers sehr weibliches, ahnendes Repertoire; sie betet zu Gott:
"Zu dir wende Ich die Hände,
Herr ohn' Anfang und ohn' Ende!
Vor Gefahren uns zu wahren
Sende deine Engelscharen!"

Nein, die Stimme der liebenden Vernunft ist das nicht. Die hätte sagen sollen: Das schiere Erfolgsstreben wird dich verführen, meine Liebe zu Dir ist nicht von einem magischen, willkürlichen Probeschuss abhängig. Aber diese Pointe stand der Frühromantik noch nicht zur Verfügung. Der Freischütz hält für den Schluss eine besondere Pointe bereit: Die Stimme der Vernunft nämlich hat in der Oper der Eremit, die Stimme der Aufklärung kommt von einem Christenmenschen, der am Rand der Gesellschaft und der Kirche lebt. Er benennt die Strukturen, die abgeschafft werden müssen, weil sie Menschen ins Verhängnis führen: Der Probeschuss selbst führt in die Irre. Noch einmal die Dramaturgin Bettina Auer:
"Ein neues Gesetz muss her, sagt der Eremit, aber es hätte ja auch der Pfarrer des Dorfes sein können. Es ist doch interessant, dass Weber bzw. sein Librettist Friedrich Kind dafür einen Mann wählt, der sich eigentlich aus der Gesellschaft schon längst ausgeklinkt hat. Also ein Eremit ist jemand, der allein im Wald lebt und eigentlich nur im Zwiegespräch mit sich und Gott ist, also jemand, der nicht als kirchlicher Vertreter unter den Menschen lebt und versucht, da den kleinen Sünden irgendwo beizukommen und den kleinen Sorgen der Menschen, sondern einer, der sich ausgeklinkt hat. Also der ist vielleicht den Weg gegangen, den Agathe und Max nicht geschafft haben."
Dennoch ist das kein glückliches Ende. Der Ernst der Wolfsschlucht bleibt. Der Eremit fordert eine zweite Chance für Max. Als er das Volk zum Gebet auffordert –„Nun erhebet Eure Blicke“ – mischt sich als Intervall der Tritonus in den musikalischen Fluss, also der Intervall, der für den Teufel steht, und nimmt die verstörende Wolfsschlucht-Musik auf. Da wächst zusammen, was nicht zusammen gehört. Zur damaligen Zeit musste ein Happy-End her, sonst hätte wohl der Zensor das Libretto kassiert. Weber aber hat mit dieser bewusst ungelenken Musikführung vielleicht ausdrücken wollen: Ich selber traue dem neuen Ehe-und Gesellschaftsfrieden nicht.