Der Fotolumpensammler

Von Jochen Stöckmann |
Ein Lumpensammler zieht schwer bepackt über das Pflaster der Vorstadt – und ebenso muss man sich den Fotografen Eugène Atget vorstellen, der diesen Moment des Großstadtlebens um 1900 festhielt: Als abgerissenen Straßenhändler, der in den staubigen Niederungen des Pariser Alltag fixierte, was die Hochkultur als nostalgisch glänzende Vergangenheit erst sehr viel später entdeckte. Kuratorin Sylvie Aubenas:
"Paris war im Begriff, unter den Spitzhacken der Abrissunternehmen zu verschwinden. Deshalb begannen Bibliotheken und Museen, Historiker und Sammler zu forschen und die Geschichte dieses 'alten Paris' zu schreiben."

Dafür erwiesen sich die Fotos des 1927 verstorbenen Straßenfotografen als unverzichtbare Quelle. Denn mit seiner schwerfälligen Plattenkamera, mit einer aus heutiger Sicht völlig überholten Fototechnik konnte Atget bereits einen "entscheidenden Moment" fixieren, jene historische Schrecksekunde, da das Gewirr mittelalterlicher Gassen ebenso verschwand wie ganze Berufszweige etwa eines ambulanten Korbmachers.

Wenn die französische Bibliothèque Nationale nun 350 Originalabzüge von Atget im Martin-Gropius-Bau zeigt, entsteht für Jean-Claude Crespy, Leiter des Institut francais, die einmalige Konstellation:

"Dass diese alte Paris, also dieser Augenblick, da der Wandel geschieht, in Berlin gezeigt wird. Berlin ist eben die Stadt, die die Narbe des Krieges, die Narbe des vorigen Jahrhunderts offen trägt und wo die Sehnsucht nach dem Alten auch eine Bedeutung haben kann."

Dabei ging es Atget nicht einfach um pittoreske "alte Sachen". Als professioneller Fotograf zielte der ehemalige Schauspieler auf die nüchterne Bestandsaufnahme – "documents pour artistes", "Bildvorlagen für Maler" stand auf einem Schild an seinem Atelier, Impressionisten wie Pissaro waren seine ersten Kunden.

Und jetzt, im Nachhinein, erzählen die Fotos keine geradlinige Geschichte, tut sich nicht einfach eine schlichte Chronik auf: Gasometer zum Beispiel, wie sie in der Nachfolge des einflussreichen Eugène Atget Ende des 20. Jahrhunderts Bernd und Hilla Becher dokumentierten, Giganten der Industrialisierung sind längst verschwunden.

Das Straßenpflaster aber oder auch Hausportale, die der Fotolumpensammler aufnahm, lassen sich heute noch im Pariser Stadtbild identifizieren. Und so hat der Eigenbrötler mit dieser bewußt parteiischen Auswahl seiner Sujets am Ende Recht behalten:

"Er ging gerade nicht auf die von Haussmann sanierten Boulevards, in die Kaufhäuser. Es ging nicht um jenes 'schöne Paris', dessen Bild das neunzehnte Jahrhundert ausmalte mit eleganten Avenuen, Bahnhöfen, Gaslaternen und elektrischem Licht. Er blieb bewusst außen vor."

Als Außenseiter mied der abgebrochene Schauspieler und erfolglose Zeichner die vom Baron Haussmann luxussanierten Viertel, jene guten Adressen also, die damals der Schriftsteller Marcel Proust bei seiner "Recherche" nach einer verlorenen Welt ansteuerte. Operettenseligkeit und Chanson-Idyll mochte Atget mit seinen Fotos nicht das Wort reden. Seine lebensnahe Utopie war nie mondän, blieb stets prekär, wie Thierry Grillet von der Bibliothèque Nationale erklärt:

"Paris, wie Atget es mit seinen Fotos konstruiert, ist quasi eingeklemmt zwischen den städtebaulichen Visionen von Haussmann, der auf Kosten der mittelalterlichen Stadt die Metropole im Geiste Baudelaires errichtet, und von Le Corbusier, der für seine geometrische Utopie das Marais ausradieren möchte."

Im Marais, sozusagen der Pariser Altstadt, schuf Atget am frühen Morgen inmitten der ansonsten so quirligen Gassen menschenleere Bilder, Fotos, die dem Betrachter genügend Freiraum lassen, um sich auch heute noch das urbane Gepräge von einst vorstellen zu können. Ein paradoxer Kunstgriff mit erstaunlichen Folgen. Kuratorin Sylvie Aubenas:

"Mich frappiert die außerordentliche Schönheit dieser Bilder, die sich zwei Seiten der Fotografie verdankt, dem Dokumentarischen und einer Vision des Künstlers."

Den Künstler im Fotografen entdeckten Ende der Zwanziger die Surrealisten, allen voran Atgets Nachbar Man Ray, der aus dem wohlgeordneten Archiv ein eigenes Album zusammenstellte:

"Er suchte 47 Fotos aus, vor allem Pittoreskes wie Prostituierte, Jahrmärkte, aber auch Schaufenster."

Diese Schaufenster haben Atget berühmt gemacht. Der zwitterhafte, sowohl kommerzielle wie künstlerische Zauber der Auslagen mit verzückt dreinblickenden Wachspuppen, kopflos davonschwebenden Herrenhüten und phantastisch gespiegelten Straßenszenen begeisterte den deutschen Philosophen Walter Benjamin ebenso wie den kommunistischen Schriftsteller Aragon.

"Das sind ganz besondere Blickwinkel wie bei André Breton oder Man Ray. Sie merkten bald, dass hier zum Preis gewöhnlicher Postkarten Arbeiten des größten Fotografen des zwanzigsten Jahrhunderts verkauft wurden."

Die Größe liegt in Atgets Bescheidenheit, seiner Zurückhaltung: Robert Doisneau, Jahrzehnte später der Fotograf von Paris, nahm genau dasselbe Portal des Kabaretts "L’enfer" auf, eine Türöffnung als Maul des zähnefletschenden Dämons – in das er zwei Flics stellte, zwei Polizisten. Eine vorwitzige Pointe, hinter der jenes Paris der anbrechenden Moderne verschwindet, das Eugène Atget genial voraussah, das Thierry Grillet heute noch in seinen Fotografien erkennt:

"Eine Stadt ohne Menschen, aus Mauern und Pflastersteinen. Ein Phantom, hervorgetreten aus Nacht und Vergangenheit. Eine rätselhafte Stadt, in der man gespannt auf das Ereignis wartet, das all diesem einen Sinn gibt."


Service:
Die Ausstellung "Eugène Atget - Retrospektive" ist bis zum 6. Januar 2008 im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen.