"Der Fall stinkt so sehr"

Roger Willemsen im Gespräch mit Dieter Kassel · 16.12.2010
Die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Julian Assange würden den Blick dafür verstellen, "was WikiLeaks wirklich geschafft hat", so Roger Willemsen im Interview. Die Öffentlichkeit beschäftige sich nun mit "seiner Psychologie, mit seiner Persönlichkeit und einem möglichen kriminellen Delikt" aber "sehr viel weniger mit dem, was er ans Licht gebracht hat".
Dieter Kassel: Unser Schweden-Korrespondent Albrecht Breitschuh über die Ermittlungen im Fall des WikiLeaks-Gründers Julian Assange. Ob er erst mal freikommt auf Kaution, das wird heute entschieden in London. Tatsache ist, dass viele Prominente sich für seine Freilassung einsetzen, ideell und zum Teil sogar materiell, indem sie Geld geben zu dieser Kaution. Unter diesen Leuten ist zum Beispiel der Dokumentarfilmer Michael Moore, Bianca Jagger ist dabei, der britische Regisseur Ken Loach und viele andere. Wir wollen jetzt mit Roger Willemsen reden, der Moderator, Publizist und Autor ist auch Botschafter von Amnesty International, im Moment ist er übrigens auf Lesereise mit seinem aktuellen Buch "Die Enden der Welt", und deshalb begrüße ich ihn am Telefon jetzt im Hotel in Dortmund. Guten Morgen, Herr Willemsen!

Roger Willemsen: Guten Morgen, Herr Kassel!

Kassel: Schließen Sie sich dieser prominenten Unterstützung für Julian Assange an?

Willemsen: Ideell schon, denn materiell, glaube ich, ist es nicht so furchtbar nötig, aber ideell muss man zunächst mal sagen: Der Fall stinkt so sehr, dass man sich wünscht, dass die Geschichte zumindest aus diesem Boulevard-Bereich, in dem sie im Moment ist, befreit wird und zu einem Politikum wird.

Kassel: Wird sie denn aus dem Boulevard-Bereich befreit, nur wenn er freigelassen wird?

Willemsen: Zumindest wird dann vielleicht der Blick wieder frei für das, was WikiLeaks wirklich geschafft hat, denn etwas muss man ja schon als Erfolg der jetzigen Kampagne gegen Assange sehen, dass nämlich man plötzlich sich mit seiner Psychologie, mit seiner Persönlichkeit und einem möglichen kriminellen Delikt beschäftigt, und sehr viel weniger mit dem, was er ans Licht gebracht hat. Insofern kann man sagen, ist zumindest, was den Verblendungszusammenhang angeht, der über WikiLeaks geworfen werden soll, das bereits ein Erfolg der Gegenseite.

Kassel: Aber ist nicht gerade, wenn – wie wir das jetzt sofort wieder tun im Gespräch –, wenn man die schwedischen Ermittlungen in einem Sexualdelikt in einen Topf wirft zum Beispiel mit dem Vorwurf des Landesverrats, der aus Washington kommt, tun wir dann nicht genau das Gleiche, dass wir das verwischen? Denn ich meine, er sitzt in London nicht wegen WikiLeaks im Gefängnis, sondern wegen dem, was er angeblich in Schweden getan hat.

Willemsen: Da haben Sie völlig recht, es ist nur ganz schwer, das voneinander zu trennen. Sehen Sie mal, die Feministin Naomi Wolf, die 23 Jahre lang Vergewaltigungsopfer verteidigt hat, die sagt: Sie ist absolut sicher, dass in diesem Falle ein Theater gespielt wird, denn niemals habe sie gehört, dass in einem Falle von angeblicher sexueller Gewalt ein Mann von zwei Ländern gesucht würde, ohne Kaution in Einzelhaft gehalten wird für eine Vergewaltigung, angeblich, bei der es zunächst einvernehmlichen Sex gegeben hat und dann es zu Problemen wegen eines Kondoms gegeben haben soll. Dieser Fall einfach, wenn man ihn so rekapituliert, der ist so wenig überzeugend, dass man sagen kann: Der Aufwand, der hier betrieben wird, ist – unabhängig von der medialen Begleitung, die überdimensional groß ist –, ist einfach so hoch, dass man sagt, das Motiv für diese Verfolgung scheint offenbar ein anderes zu sein.

Kassel: Das kann ich zwar einerseits nachvollziehen, andererseits geht bei mir immer die Warnleuchte an, wenn ich daran denke, Herr Willemsen, dass wir ja über Schweden reden und nicht über irgendeine Bananenrepublik.

Willemsen: Da haben Sie recht, und Schweden hat übrigens, was die Veröffentlichungspflichten angeht, das allerliberalste Gesetz schon seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts, also da darf buchstäblich alles veröffentlicht werden, und WikiLeaks wäre in Schweden bestimmt nicht gegründet worden. Also gleichzeitig weiß man aber auch, dass Schweden ein außerordentlich hartes Sexualstrafrecht hat, und den Opferschutz ganz besonders extrem formuliert, und ich meine, die Tatsache, dass die Frau schon Ratschläge darüber gegeben hat, wie man am besten eine Vergewaltigung vortäuscht, die ist nicht gerade ein Ruhmesblatt für die Frau. Immer ganz wichtig zu sagen: Natürlich müssen die Ermittlungen abgeschlossen werden, natürlich muss man die Frauen schützen, es gibt ja gar keinen Zweifel daran, dass das so ist. Aber gleichzeitig kann man nicht verhindern, dass man irgendwie das Gefühl bekommt, hier geht es um ein Politikum und weniger um Sexualstrafrecht.

Kassel: Das sagen ja nun auch die prominenten Unterstützer, aber andererseits weht denen natürlich auch Gegenwind um die Ohren. Nehmen wir mal das Beispiel Michael Moore, der amerikanische Dokumentarfilmer, den hat sich nun wiederum Rush Limbaugh aufgespießt. Den kennt man in Deutschland kaum, in Amerika sehr wohl, das ist der bekannteste rechtskonservative Radio-Talkshow-Host, den hören Millionen von Amerikanern, und der hat das, was Sie jetzt so fast schon ausgeschlossen haben, aber genau diesen prominenten Unterstützern vorgeworfen. Er hat gesagt, Michael Moore unterstütze einen Vergewaltiger.

Willemsen: Na ja gut, man kann eigentlich die konservativen amerikanischen Radiomoderatoren kaum mehr zitieren, denn die sagen auch schon, dass man nicht in eine Kirche gehen soll, in der das Wort soziale Gerechtigkeit fällt, denn das sei ein Kommunismusbegriff. Also das ist derartig unter jeder Diskussionswürdigkeit. Ganz wichtig ist, immer zu sagen: Wir können über diesen Vergewaltigungsvorwurf überhaupt keine Aussage treffen, wir können nur sagen, dass im Moment eine Kampagne ein Format annimmt, das irgendwie nicht mehr richtig im Verhältnis zum möglichen Schutz dieses Opfers steht. Ich wünschte, man könnte das Opfer hören, ich wünschte, man könnte möglichst rasch da Klarheit kriegen, aber noch mehr wünschte ich mir, dass die Resultate von WikiLeaks – außerhalb dessen, was da eher der "Bunten" gehören könnte, nämlich wie ist Guido Westerwelle privat und wie ist Sarkozy privat –, dass das Politische daran wirklich erkannt und analysiert würde.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit dem Publizisten und Journalisten Roger Willemsen, der auch Amnesty-International-Botschafter ist, über die prominente Unterstützung für WikiLeaks-Gründer Julian Assange. Dann reden wir halt wirklich mal über WikiLeaks, und lassen Sie mich dann jetzt keinen konservativen Talkshow-Host in den USA zitieren, sondern sozusagen die Gegenseite in dem Fall tatsächlich, nämlich Michael Moore. Der hat nämlich auf seiner Internetseite gesagt, wenn es WikiLeaks schon in den letzten 50 Jahren gegeben hätte, dann hätte es vielleicht den Vietnamkrieg, die beiden Irakkriege und auch die Terroranschläge vom 11. September 2001 nicht gegeben. Ist da was dran, oder geht er da ein bisschen weit?

Willemsen: Das hätte ich nicht gesagt, aber dass das Herstellen von Undurchsichtigkeit zur Politik gehört, das kann man in jedem kleinen und großen Fall sehen. Wenn sich die Deutsche Bahn weigert, die Kalkulationen für Stuttgart 21 offenzulegen, dann darf der Bürger ganz schlicht fragen, mit welchem Recht eigentlich? Ihr tut das im Sinne der öffentlichen Hand, zum öffentlichen Wohl, warum wird so etwas nicht offengelegt? Und ich glaube, dass, wenn man wirklich erführe, welche Argumente hin- und hergegangen sind angesichts der Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein, von denen wir wissen, es hat sie nicht gegeben, dann hätte eine Veröffentlichung aller dieser Debatten sehr bald zur Durchsichtigkeit geführt, dass es hier um andere Zwecke geht, als um eine vermeintliche Weltgefahr auszuschalten.

Kassel: Ist das nicht trotzdem gefährlich, wenn gerade auch prominente Unterstützer das Ganze konzentrieren auf diese Person Julian Assange? Denn immerhin – diese Egomanie, zu der er ja zu neigen scheint, hat schon WikiLeaks-intern für Konflikte gesorgt und viele Leute sind da gegangen, nur weil sie gesagt haben, lange bevor das alles losging: Ich kann das eigentlich nicht mehr mitspielen, dass so getan wird, als sei WikiLeaks ausschließlich Julian Assange. Ist es da nicht gefährlich, wenn jetzt Prominente auf dieser Welt sich so auf ihn als Symbolfigur konzentrieren?

Willemsen: Herr Kassel, Sie haben natürlich recht. Auf der anderen Seite muss man dazunehmen: Jetzt bewegen wir uns wieder im Bereich der Psychologie, das heißt, wir fangen an, ein Politikum – nämlich zu fragen, was sind das für Fakten, was bedeuten die für die Unsichtbarmachung von politischen Entscheidungsprozessen, was bedeuten die für Propaganda, für Demagogie – das alles wegzunehmen, uns auf einen Mann zu konzentrieren, zu sagen: Ist der herrschsüchtig, ist der Egomane, hat der seine Angestellten schlecht behandelt, ist der unter Umständen ein potenzieller Vergewaltiger? Alle diese Fragen sind letztlich unpolitisch, und ich würde am liebsten das Politische an dem Fall – und das bezieht sich ausschließlich auf das, was durch Julian Assange an die Öffentlichkeit gekommen ist – trennen von all dem, was jetzt Unterstützer sagen, meinen, glauben, auch was ich selber in diesem Augenblick sage. Ich würde am liebsten haben, dass die Konzentration auf die politische Analyse geht, und ich glaube, die steht noch aus. Sie steht auch deshalb aus, weil aus naheliegenden Gründen man sich bisher bei der Veröffentlichung auf die "Bunten"-Details konzentriert hat. Man könnte sich aber jetzt mal anfangen, auf analytischere, politischere Details zu beschränken.

Kassel: Dann stelle ich Ihnen einen politische Frage zum Schluss, Herr Willemsen: Unabhängig davon, ob das Gericht heute entscheidet, ob er Weihnachten außerhalb des Gefängnisses verbringen darf oder nicht, die wichtigere Entscheidung fällt am 11. Januar, nämlich die, ob er nach Schweden ausgeliefert wird. Wenn er a) das wird und dann b), wie viele befürchten, von Schweden an die USA ausgeliefert wird und da im Gefängnis landet, ist das dann ein Tiefschlag für die Pressefreiheit?

Willemsen: Das wird davon abhängen, wie substanziell die Vorwürfe gegen ihn sind, aber dass es eine allgemeine Skepsis darüber gibt, dass ihm Gerechtigkeit widerfahren könnte in Amerika, das ist – spätestens nachdem man sieht, wie Amerika mit Staatsgegnern in Guantánamo und anderen Lagern umgeht und auch, wie wir erfahren können, wenn wir die WikiLeaks-Protokolle sehen –, das ist mehr als zweifelhaft. Insofern muss Amerika es sich schon selber an die eigene Fahne heften, wenn plötzlich Zweifel daran besteht, dass da Rechtsstaatlichkeit speziell in diesem Falle noch gewahrt werden kann.

Kassel: Sagt Roger Willemsen, Publizist, Journalist und Botschafter von Amnesty International. Herr Willemsen, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Willemsen: Danke, Herr Kassel!
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