Der europäische Blick auf das Fremde

Von Siegfried Forster |
"Mit einem Blick der Andere" ist mehr als eine Ausstellung. Es ist das Manifest des neu eröffneten Pariser Museums Branly. Von den Figuren der Kannibalen und Wilden bis zum Universalismus von Künstlern wie Matisse und Picasso wird die Geschichte des europäischen Blicks auf Afrika, Amerika und Ozeanien kritisch fokussiert.
"Mit einem Blick der Andere" ist keine einfache Ausstellung, sondern das Manifest des neu eröffneten Museums Branly. Jene, den außer-europäischen Kulturen gewidmete Stätte, die von Frankreichs Präsident Chirac mit dem ehrgeizigen Programm aus der Taufe gehoben wurde, den Dialog zwischen den Völkern, Kulturen und Epochen zu fördern. Der nun präsentierte Blick der Europäer auf die Länder Afrikas, Amerikas und Ozeaniens bildet nichts weniger als den programmatischen Sockel für die Zukunft des Museums. Deshalb der geheimnisvolle Titel? Frage an Kurator Yves Le Fur, der vier Jahre lang am Konzept gefeilt hat:

"Das ist kein rätselhafter Titel, sondern der Titel "D’un regard l’autre" – "Mit einem Blick der Andere" enthält verschiedene Ebenen: ein Blick, der andere, der Blick auf den anderen, von einem Blick zum anderen, eine Aneinanderreihung von Blicken – von der Renaissance-Zeit bis heute. Aber auch der Blick auf den Anderen mit einem großen A. Also jener Andere, der anders ist. Es geht um einen Blick, denn letztlich gibt es vielleicht eine Art und Weise zu sehen, die fundamental verwurzelt ist im kollektiven europäischen Unterbewusstsein."

Zu Beginn verlieren wir erstmal die Orientierung. Der abgedunkelte Vorraum ist von den Wänden über die Decke bis hin zum Boden mit Spiegeln ausgekleidet. Ein goldenes Schiff und ein grüner Globus helfen uns, Kurs zu halten. Außergewöhnliche Zeugnisse aus einer Epoche als Columbus Amerika entdeckte und man sich in Europa erstmals konkrete Bilder machte über diese fremde Welt mit ihren andersartigen Bewohnern. Gelenkt wird unser Blick auf diese Anderen und das Andere von Szenograph Nicolas Hugo, Dirigent unserer Blicke:

"Die ersten Pioniere, die mit dem Schiff losfuhren, warfen sich förmlich ins Wasser. Sie wussten überhaupt nicht, wohin es ging. Sie stürzten sich in das Unbekannte, in eine große Leere. Wir wollen mit diesen Spiegeln erreichen, dass die Besucher sich in einer Art großer verblüffender Leere wieder finden, ohne zu wissen, wohin es gehen wird. Die Spiegel werfen den Besuchern eine unzählige Zahl an Selbstbildern zurück, eine Art Galaxie mit kleinen Lichtern überall."

Nach der Leere folgt der Sprung in das Fremde und Andersartige: Masken, Skulpturen, Tapisserien, Ölgemälde, Zeichnungen, Fotografien, Filme. Über 600 Kunstobjekte vermitteln, mit welchen inneren Strukturen und äußeren Bildern der europäische Blick über Jahrhunderte hinweg fremde Völker und Zivilisationen wahrgenommen hat. Die Klischees von den Kannibalen und Wilden sind dabei nur der sichtbarste Ausdruck für die Verfassung des abendländischen Menschen, die sich bis heute nicht grundlegend verändert hat. Beim Stichwort Kannibalen wollen wir Blut sehen:

"(...) Der einzige Unterschied, der in der Zone der Kannibalen gemacht wird, also dort, wo Darstellungen zu sehen sind, wo Menschen Menschen fressen, ist eine rote Farbe an der Wand, das ganze hinter kleinen Vorhängen, wie bei einer Art Peepshow."

Was offenbaren diese Kabinette aus Kuriositäten und Kunstwerken heute noch über unsere Kultur? Frage an Kurator Yves Le Fur:

"Dazu muss man beispielsweise auf Montaigne zurückgreifen, auf seine Abhandlung über die Kannibalen. Er ist sehr früh überzeugt davon, dass es kein Fehler ist, Kannibale zu sein. Sondern für ihn ist das etwas, was auf den menschlichen Naturzustand zurückgeht. Auf der anderen Seite wird von Montaigne unsere Kultur auch als etwas Schlechtes angesehen, die den Wilden kontaminieren könnte. Sehr früh kommt es in dieser Epoche zu dem Bild vom 'guten Wilden'."

Ein Bild, das leicht ins Schwanken gerät. Das dramatische Schicksal des Kapitän Cook dient dabei als trauriges Beispiel. Auf Stichen sehen wir, wie man ihn auf Hawai zuerst als menschlichen Gott verehrt, seine letzte Landung dort jedoch tragisch endet. Vermutlich, weil die Hawaiianer damals gerade ihren Kriegsgott Ku verehrten, kam es zwischen den Engländern und den Eingeborenen zu blutigen Auseinandersetzungen, die für Cook tödlich ausgehen sollten. Erst im 20. Jahrhundert werden die "Wilden" wirklich wieder zu "guten Wilden" erklärt, angeführt von den Expressionisten Kirchner und Nolde, der sich selbst als "Wilder" bezeichnete bis hin zu Matisse und Picasso. Das 1948 geschaffene "imaginäre Museum" von Malraux stellte einen weiteren Wendepunkt dar:

"Der Blick auf den anderen hat sich mit dem 'imaginären Museum' von André Malraux verändert, weil er damals besonders bemerkenswerten Werken aus Afrika, Ozeanien, außer-europäischen Kulturen, den Einzug in den Ehrentempel der weltweiten Kunst ermöglicht hat. Das wurde dann von verschiedenen Sammlern und Ausstellungsmachern übernommen. Mittlerweile sind wir dabei, diese Kulturen immer mehr anzuerkennen, wie beispielsweise im Museum für so genannte primitive Künste im Louvre-Palast und hier im Museum Branly. Aber das muss noch weiter gefestigt werden."

Der Weg von der Verachtung zur Anerkennung war weit. Der Ausstellungsparcours ist vollkommen in neutrales Weiß getaucht und versucht, das Kunststück fertig zu bringen, keinerlei Werturteile abzugeben und trotzdem aussagekräftig zu bleiben. Was hilft uns diese Evolutionsgeschichte unseres abendländischen Blickes für unsere heutigen Probleme – von der Kolonialdebatte über Mohammed-Karikaturen bis hin zur umstrittenen Papst-Rede? Noch einmal Yves le Fur:

"Wenn ich in dieser Ausstellung eine Botschaft verbreiten will, dann jene, dass man sich selbst in Frage stellt. Um zu zeigen, dass die Werte der einen und anderen relativ sind. In dieser Ausstellung finden sie keinerlei Ideologie. Wir wollen deutlich machen, dass es immer einen Wandel gibt, dass Meinungen und Blicke immer nur einen relativen Wert besitzen. Dass unterschiedliche Meinungen und Blicke aufeinander folgten und auch künftig auf einander folgen werden."

Service:

Die Ausstellung "Mit einem Blick der Andere" (D’un regard l’autre) ist im Musée du quai Branly in Paris bis zum 21. Januar 2007 zu sehen.