Der Einfluss des Glaubens auf die Psyche

"Hochreligiöse Menschen haben weniger Schmerzen"

Eine Marienstatue in Trappeto bei Sonnenuntergang
Marienstatue im sizilianischen Trappeto bei Sonnenuntergang: Wer im konstruktiven Sinn fest glaubt, dem geht es besser © Stephan Morgenstern
Michael Utsch im Gespräch mit Anne Francoise Weber · 10.01.2016
Der feste Glaube an Gott kann bei einer Krankheit eine große Hilfe sein. Glauben kann aber auch krank machen. Wie, wann und warum Religionen auf die Seele von Menschen wirken, erläutert der Psychotherapeut Michael Utsch.
Anne Françoise Weber: Wenn wir schon nicht wissen, wie sehr uns Religionen oder der Glaube ins Jenseits begleiten, dann können wir aber doch fragen, wie viel sie uns im Leben helfen. Natürlich können religiöse Texte Trost spenden – die von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen ausgewählte Jahreslosung stammt in diesem Jahr übrigens aus dem Jesaja-Buch und heißt: "Gott spricht: ich will Euch trösten wie einen seine Mutter tröstet."
Eine schöne Vorstellung – aber es gibt ja auch die Bilder eines strafenden Gottes, es gibt Menschen, die ihr Glaube so fanatisch macht, dass sie andere dafür umbringen, und das auch bei Religionen, die angeblich den Frieden predigen. Grund genug, einmal danach zu fragen, was Glaube, was Religiosität eigentlich für psychische Folgen hat.
Dazu habe ich vor der Sendung mit Michael Utsch gesprochen. Er ist promovierter Psychologe und ausgebildeter Psychotherapeut, Referent bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin und Leiter des Referats "Religiosität und Spiritualität" der DGPPN, der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.
Studien haben gezeigt, dass sich zum Beispiel bei Brustkrebspatientinnen eine starke, vertrauensvolle Gottesbeziehung positiv auf die Verarbeitung der Krankheit auswirken kann. Die Vorstellungen eines strengen, strafenden Gottes kann dagegen einen zusätzlichen Druck erzeugen. Zunächst habe ich deshalb Michael Utsch gefragt, ob Glaube also – grob zusammengefasst – im Grunde sowohl heilen als auch krank machen kann?
Die Wirkung des Glaubens ist ambivalent
Michael Utsch: Ja, das kann man durchaus so zusammenfassen. Die Wirkungen des Glaubens sind also durchaus ambivalent. Es kann sehr schädlich sein, an bestimmten rigorosen Gewaltfantasien, Gottesbildern festzuhalten und von dort Druck zu empfinden, sich gemaßregelt zu fühlen, aber empirische Studien belegen auch eindeutig, dass andere Gottesvorstellungen – Sie erwähnten eben diesen mütterlichen, zugewandten, freundlichen, barmherzigen Gott – dass solche Bilder, Vorstellungen durchaus ein Gesundheitsplus bewirken, die jetzt auch zunehmend von der Medizin und Psychotherapie erforscht werden. Man will also wissen, gibt es Bewältigungsstützen, gibt es Resilienzfaktoren, die sich aus dem religiösen Glauben, aus bestimmten religiösen, spirituellen Praktiken und Überzeugungen speisen. Das wäre ja eine sehr interessante Alternativmedizin, wenn wir Techniken wüssten, die in Krisensituationen stabilisierend helfen können.
Weber: Zur Therapie möchte ich gleich noch kommen, aber erst noch mal die Nachfrage: Das hängt also vom Gottesbild ab, was ich gefunden habe, was mir vielleicht vermittelt wurde – hat das aber auch nicht viel mit der Persönlichkeitsstruktur zu tun? Wird nicht ein ängstlicher Mensch auch eher Angst vor einem strafenden Gott haben als ein vertrauensvolles Gottesbild zu finden? Ist das nicht auch ein bisschen die Frage nach der Henne und dem Ei?
Utsch: Das ist eine ganz lebendige Wechselbeziehung. Was ich für eine Charakterstruktur habe, was ich an Ausstattung mitbringe, prägt natürlich auch das, wie ich glaube, und ein ängstlicher, eher zwanghaft strukturierter Mensch benutzt dann auch bestimmte religiöse Vorstellungen und bastelt sich so ein Bild von Gott zurecht, was in sein Schema passt.
Wir wissen aber, dass Bindungserfahrungen unsere Persönlichkeit maßgeblich prägen, und solche Bindungserfahrungen werden ja in den ersten Jahren maßgeblich festgelegt, und heute ist man soweit, dass man sagt, auch die Beziehung zu einem unbekannten, unsichtbaren Dritten, also auch zum Gottesbild kann man eine Bindung aufbauen und dass also Bindungserfahrungen zu Gott durchaus auch so einen Faktor darstellen, den man untersuchen kann, wo man schauen kann, wie hat meine Form der Bindung zum Transzendenten – wenn man das jetzt mal allgemein formulieren würde – welche Auswirkungen hat das auf Krisensituationen, auf die Bewältigung von Schmerzen und Leiden.
Wer tief glaubt, kann Krisen besser meistern
Da gibt es schon erstaunliche Ergebnisse, dass also zum Beispiel hochreligiöse Menschen durchaus schmerzunempfindlicher sind, weil sie andere Weisen der Verarbeitung haben. Sie können Schmerzen, sie können leidvolle Erfahrungen uminterpretieren und durch ihre religiöse Deutung dem Ganzen doch teilweise noch einen Sinn abringen und dadurch auch besser mit ihrer Situation umgehen.
Weber: Und gilt das für Gläubige aller Religionen oder hat man da bisher hauptsächlich Studien für das Christentum?
Utsch: Nein, das gilt auch für Gläubige anderer Religionen, also für Hochreligiöse insgesamt, allerdings muss man natürlich schon sagen, dass die meisten religionspsychologischen Studien in den USA bisher durchgeführt worden sind und deswegen die Studienlage für den christlichen Glauben besser ist, aber man ist natürlich auch dabei, andere Glaubensrichtungen dort einzubeziehen, und es ist übergreifend so, hochreligiöse Menschen können Schmerzen und Leiden besser verarbeiten und sind sozusagen schmerzunempfindlicher.
Weber: Nicht nur das Gottesbild ist ja entscheidend, sondern auch das Verständnis von Krankheit und Heilung, also es macht ja wohl einen Unterschied, ob ich davon ausgehe, dass diese Krankheit eine Prüfung ist und dass ich davon errettet werden kann oder ob ich das doch als rein biologischen Prozess erfahre, mit dem Gott nur am Rande zu tun hat.
Der strafende Gott macht den Gläubigen klein und demütigt ihn
Utsch: Da haben Sie natürlich recht. Die Theologie, also die Art und Weise wie ich über Gott nachdenke, wie ich mir Gott vorstelle, hat natürlich entscheidenden Einfluss darauf, wie ich mein Leben gestalte, und wenn ich sozusagen so ein rigoristisches Gottesbild habe, einen Perfektionismus, Gott will, dass ich keine Fehler mache, und es ist auch möglich, perfekt als ein frommer Mensch zu leben, und wenn dann irgendwas passiert, dann wird Gott vielleicht verstanden als jemand, der dann eben Fehler bestraft und mich klein macht und mich demütigt.
Wenn ich also so eine verzerrte Theologie habe, wo es um Perfektionismus geht und Fehlerfreiheit, ein sehr unmenschliches Gottesbild vorliegt, kann durch diese Theologie auch die Krankheit gestärkt werden, und das ist eben therapeutisch dann auch sehr anspruchsvoll und kompliziert, Menschen mit so einem zugespitzten und einseitigen Gottesbild von ihrer Fehleinschätzung wegzubringen und ihnen neue Wege des Umgangs mit sich selber, mit ihrem Körper, mit ihrer Krankheit nahezubringen.
Gerade das Verständnis von Gesundheit und Krankheit kommt ja in den Religionen häufig vor, und da ist es aber wichtig, genauer hinzuhören und hinzuschauen, was für ein Gesundheitsverständnis, was für ein Krankheitsverständnis, letztlich auch was für ein Menschenbild liegt in dem Glauben vor, um dann dort entsprechend korrigierend einzugreifen.
Weber: Und wahrscheinlich gibt es da in den unterschiedlichen Religionen auch eine große Bandbreite, also es gibt ja Christen, die Krankheit als Strafe erfassen oder wahrnehmen und andere, die das überhaupt nicht tun. Das wird in anderen Religionen ähnlich sein, das heißt, es geht nicht darum, zu sagen, der Mensch ist Muslim, glaubt also, Krankheit ist das und das, sondern man muss wirklich beim Einzelnen herausfinden, wie er das jetzt versteht.
Utsch: Das ist die große Herausforderung, da haben Sie völlig recht, dass in allen Religionen eine große Palette von Vorstellungen, theologischen Verständnissen vorherrscht. Es ist natürlich klar, dass, wenn jetzt jemand in die Beratung kommt oder in eine Therapie oder in eine Behandlung, wo ich dann im Gespräch feststelle, da ist ein sehr fragwürdiges oder ein sehr einseitiges Gottesbild, was einen negativen Einfluss auf den Heilungsprozess hat, da bin ich natürlich als Ärztin oder Psychotherapeut herausgefordert, genau hinzuschauen, was für ein Gottesbild liegt dort vor.
Die religiös-spirituelle Anamnese wird immer öfter gemacht
Mittlerweile ist es in Deutschland zum Glück auch so, dass relativ regelmäßig auch eine sogenannte religiös-spirituelle Anamnese gemacht wird, dass man eben genau schon fragt. Das ist auch standardisiert, man kann dann in wenigen Minuten mit so einem halbstrukturierten Interview herausfinden, spielt Glauben eine Rolle überhaupt, was für ein Gottesbild ist im Groben vorliegend.
Wenn ich dann feststelle, dass da sehr einseitige, verzerrte Gottesbilder vorliegen, muss ich als Ärztin oder Therapeut natürlich aufmerken und dann möglicherweise sogar auch Seelsorge hinzuziehen, denn als Arzt, Therapeut, ist es ja nicht meine Aufgabe, Theologie zu machen, aber da an der Stelle ist eben die Zusammenarbeit mit der Seelsorge sehr wichtig, um mit einzelnen Gläubigen aus verschiedenen Religionen dann dort entsprechend weiterzuarbeiten.
Weber: Das ist dann der Versuch, die Religion oder den Glauben sozusagen ins Positive zu wenden. Könnte man sich aber auch vorstellen, dass es für manche Patienten gut wäre, den Glauben komplett hinter sich zu lassen und ohne eine Gottesvorstellung durch das Leben zu gehen, und ist das dann aber auch nicht sehr schwierig, also mit einem christlichen oder muslimischen Seelsorger wird man an den Punkt nicht kommen, und als Therapeut jemandem dazu zu raten, sich mal woanders umzusehen als in der Bibel oder im Koran ist auch schwer, oder?
Utsch: Gerade für Menschen, die den Glauben übergriffig, missbräuchlich, versektet erlebt haben und die darunter leiden, die sehnen sich natürlich nach einem Neuanfang. Wenn sie merken, dass ihre Freiheit eingegrenzt wird, suchen sie einen Neubeginn, aber das ist sehr schwer, weil in der Regel alle sozialen Kontakte in der Gruppe sind, und dann den Mut zu finden, neu anzufangen, das ist ganz schwierig. Für solche Leute ist es in der Tat wichtig, kompetente Begleitung zu erhalten, um aus diesem Netzwerk der Unterdrückung rauszukommen und einen Neustart zu begleiten. Das ist kompliziert, aber häufig ist eine nachhaltige Veränderung nicht möglich.
Weber: Wie ist das denn mit der Fanatisierung, die ja oft auch mit starkem Glauben einhergehen kann, also wo es dann wirklich zur völligen Negierung der Anders- oder Nichtgläubigen kommt, und das kann ja in sehr blutigen Taten enden – kann man da irgendwie im Vorfeld therapeutisch ansetzen, wenn man sieht, Jugendliche radikalisieren sich, gehen in so eine Richtung?
Bei einer Fanatisierung spielt das soziale Umfeld eine große Rolle
Utsch: Das ist ein Forschungsfeld, wo wir erst beginnen, jetzt genauer hinzuschauen. Wir wissen, dass das soziale Umfeld, die Familie eine ganz große Rolle spielt, und insofern ist präventiv natürlich zu schauen, wo sind die Leute sozial eingebettet, was für Hobbys haben sie, haben sie gute Möglichkeiten, positive Selbsterfahrung zu machen, wo sie sich selber als erfolgreich, durchsetzungsstark, selbstbestimmt erleben.
Wenn Menschen solche Erfahrungen verwehrt bleiben und sie eher zurückgezogen sind, sehr in der Isolation sind, an Minderwertigkeitsgefühlen leiden, solche Jugendlichen sind besonders gefährdet, sich auf fanatische Ideologien einzulassen, weil dort dann so eine Art Hilfs-Ich konstruiert wird. Man projiziert dann seine Sehnsüchte auf eine starke Gemeinschaft, auf irgendwelche radikalen Ziele und verbindet sich mit diesen hohen Zielen und kann dann seine schwache, minderwertige Selbstgefühle dadurch, meint, sie überwinden zu können.
Im Grunde, selbstwertsteigernde Tätigkeiten – Sport, Musik, Gruppenerfahrung – wo Erfolgserlebnisse vorkommen, sind präventiv sehr wichtig. Wenn Leute dann in so ein Milieu abgerutscht sind, ist es in der Tat sehr schwierig, an sie ranzukommen. Das geht dann eigentlich nur noch über Vertraute, also über Personen, die auch vorher guten Kontakt zu ihnen hatten, wo immer mal wieder nachgefragt werden muss, ist wirklich das, was du dir ersehnst, wird das in der Gruppe verwirklicht – also sozusagen diese kritische Realitätsprüfung – ist denn wirklich das, was du willst, wird das dort gelebt, kannst du das dort umsetzen, aber anders als über einen Freundeskreis ist es professionell sehr schwer, an diese Menschen ranzukommen.
Weber: In diesen Tagen ist ja viel von Integration die Rede, und die Menschen, die hier in der Fremde ankommen, aus Krieg oder Not fliehen, können sicher zum Teil Halt in ihrer Religion finden, egal welche Religion das ist, aber die Religionsgemeinschaft kann ja auch zur Abkapselung führen, also jetzt nicht gleich zur Radikalisierung, aber einfach so eine Abkapselung, dass man es eben nicht schafft, in die Gesellschaft reinzukommen. Gibt es da psychologischen Rat, wie man eben diese Religion positiv, integrativ nutzen kann?
Religionen sind nützlich für die Gemeinschaft
Utsch: Viele Religionen oder eigentlich alle Religionen haben ja durchaus auch eine soziale Seite, das heißt, sie wollen sich nicht nur um sich selber drehen, sondern haben den Impuls, nützlich für die Umwelt zu sein, Außenstehenden, Schwachen, Armen zu helfen, und ich glaube, gerade über diese Hilfsschiene, über die Aufmerksamkeit für die Menschen um einen herum, denen es oft schlechter geht als einem selber, kann man vermeiden, sich so abzukapseln.
Sobald eine Gruppe die Augen öffnet für die soziale Not um sie herum, ist das, glaube ich, schon eine sehr gute Methode, nicht nur um sich selber zu kreisen, sondern einfach auch zu gucken, was können wir machen, wo können wir beitragen. Man könnte jetzt den muslimischen Gemeinden zum Beispiel sagen – viele der Flüchtlinge haben ja muslimischen Hintergrund – könnt ihr da nicht Aktionen starten und Initiativen ...
Weber: Das gibt es ja auch schon.
Utsch: Das wird ja auch schon gemacht, aber solche Aktionen sind sicher sehr hilfreich, dass man sich nicht abkapselt, dass man also versucht, sich konstruktiv auf die anstehenden Probleme der Umgebung einzulassen und da mitzuwirken, und das ist ein gutes Hilfsmittel, um nicht in die Isolation zu geraten.
Weber: Vielen Dank, Michael Utsch, Religionspsychologe, Psychotherapeut und Referent bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Und wenn Sie in Berlin leben, können Sie am Montagabend in der Komischen Oper an einem Salon zum Thema "Brennen für den Glauben" teilnehmen, mit Michael Utsch, dem Religionswissenschaftler Michael Blume und Sängern und Musikern der Komischen Oper.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema