Der Doktor auf dem Holzei

Von Lutz Reidt |
Im Zoo geborene Tiere in die Freiheit zu entlassen, ist unter Fachleuten umstritten. Als europaweites Vorzeigeprojekt gilt die Wiederansiedlung des Bartgeiers in den Alpen. An der österreichisch-slowakischen Grenze, in der größten Greifvogelstation Europas, werden die Bartgeier fit gemacht für ihr Leben in der rauen Bergwelt.
Es ist ein wirklich riesiger Bartgeier, der dort oben thront auf dem knapp drei Metern hohen Holz-Podest. Die mächtigen, grau-schwarzen Flügel sind angelegt, seine Flügelspannweite von fast drei Metern ist nicht zu erkennen. Neugierig neigt der größte Greifvogel Europas den Kopf mit dem markanten, schwarz-weiß gezeichneten Gesicht zur Seite und schaut mit stechendem Blick herab. Deutlich sind borstenartigen Federn unterhalb des Schnabels zu erkennen, die wie ein Bart herabhängen.

Für Dr. Hans Frey von der Universität Wien ein gewohntes Bild. Der Veterinärmediziner leitet die Pflege- und Aufzuchtstation für Greifvögel in Haringsee, einem kleinen, verträumten Dorf an der österreichisch-slowakischen Grenze.

Mit Bartgeiern kennt sich Hans Frey aus wie kein zweiter. Besonders seit seiner Liaison mit dem "Präsidenten". Mit diesem fehlgeprägten Bartgeier-Männchen war der Veterinär rund 20 Jahre lang regelrecht "verpaart":

"Das sind handaufgezogene Bartgeier, die halt wirklich auch sexuell auf Menschen geprägt sind, die nur am Menschen interessiert sind; man kann das Gleiche tun wie wenn das ein natürlicher Partner wäre; das heißt, man baut mit dem Bartgeier ein Nest, man bringt ihm Äste, man nimmt Wolle, macht ein schönes Nest, und gibt dann eines schönen Tages ein Ei hinein; ... Und dann beginnt das Männchen sofort zu brüten; man muss ihn allerdings dann ein, zwei Mal am Tag ablösen; das heißt, ich muss dann als Mensch zum Nest gehen, mich hineinsetzen und dann so tun, also ob ich brüten würde.”"

Um den Bartgeier zur Brut zu stimulieren, wendet Hans Frey einen Trick an. Er schmuggelt ein Gips- oder Holz-Ei ins Nest, das einem echten Bartgeier-Ei zum Verwechseln ähnlich sieht. Und dann hockt zuerst Hans Frey auf dem Horst:

""Inzwischen geht der Vogel auf Futtersuche, oder nimmt ein Bad, oder was auch immer und kommt dann wieder zurück und löst mich wieder ab. Da genügt es, wenn man das am Tag ungefähr eine halbe Stunde in der Früh und eine halbe Stunde am Abend macht. Dann ist man sozusagen der "Partner” dieses Vogels und dann kann man nach der Brutzeit ihm effektiv ein Jungtier geben; das zieht dann dieser einzelne Altvogel allein groß."

Dem Zuchtprogramm in den Gehegen kommt entgegen, dass Bartgeier-Weibchen häufig zwei Eier legen - wobei das zweite das Reserve-Ei ist, falls das Erstgeborene nicht hochkommt. Schlüpfen aber beide Küken, dann beginnt das junge Bartgeier-Leben gleich mit einem Geschwistermord. Der Schweizer Biologe Dr. Klaus Robin schildert, warum das ist:

"Wenn das erste Jungtier schlüpft, hochkommt und das zweite Jungtier verspätet, eben fünf bis sieben Tage später dann schlüpft, dann kommt es zu dieser Erscheinung, die man 'Kainismus' nennt, dass das zweite Jungtier dann vom Größeren totgebissen wird mit ganz gezielten und sehr, sehr intensiven Beißbewegungen auf die Kopfregion."

Deswegen nehmen die Zooleute diesen "Zweitvogel” rechtzeitig aus dem Nest und ziehen ihn rund drei Wochen separat auf. Danach wird der Jungvogel einem Bartgeier-Paar ohne Nachwuchs "untergejubelt”. Oder eben einem fehlgeprägten Bartgeier wie dem Präsidenten von Haringsee. Dort betreutet Zuchtkoordinator Hans Frey Dutzende von weiteren Bartgeiern:

Frey: "Eine Hauptaufgabe hier im Zuchtzentrum ist eben die Bildung von Brutpaaren. Wir haben hier ca. 40 Bartgeier da. Da können wir relativ rasch Paare zusammenstellen, die dann an Tiergärten gehen. Das ist eine Vereinbarung, eine Kooperation zwischen ca. 35 Tiergärten und einigen Zuchtzentren; wobei das hier das Hauptzuchtzentrum ist; und die Zoos übernehmen dann Paare und geben uns dann dort erzielte Jungtiere für die weitere Verwendung wieder zurück, sie werden dann wieder verwendet, entweder für die Zucht oder für die Freilassung."

Von den bislang gut 150 freigelassenen Jungvögeln haben die meisten in der Bergwelt der Alpen eine neue Heimat gefunden. Hinzu kommen noch mehr als 40 Bartgeier, die in der freien Natur geschlüpft sind. Eine Erfolgsbilanz:

""Also, der Bestand sollte nach allen Berechnungen jetzt schon gesichert sein. Wir versuchen trotzdem noch aus genetischen Gründen weitere Tiere aus den Gehegezuchten, aus den Zoos, in die Natur zurückzubringen; auch um die genetische Breite des Bestandes zu erweitern und ein schnelleres Anwachsen zu ermöglichen, weil das natürlich wieder vorteilhaft ist für das Überleben der Art. "

Nicht überlebt hat jedoch ein famoser Protagonist des Projektes: der Präsident. Im hohen Bartgeier-Alter von mehr als 30 Jahren ist er gestorben. Seine 20-jährige Liaison mit dem Projektleiter ist gekrönt worden von 16 jungen Bartgeiern, die inzwischen in den Alpen umher segeln.