Der digitale Mauerführer

Von Philip Banse |
Mittlerweile stehen in Berlin nur noch wenige Mauerelemente, und die zentrale Mauergedenkstätte liegt abseits der touristischen Pfade. Wer mehr erfahren will zur Berliner Mauer, vielleicht mal den über 150 Kilometer langen einstigen Todesstreifen abwandern will, kann sich seit neustem einen digitalen Begleiter leihen.
"Hier ist das Studio am Stacheldraht! Hier ist das Studio am Stacheldraht!"

Berlins offizieller Mauerführer ist ein handlicher Computer so groß wie seine Kollegen in den Museen dieser Welt. Auf ihm gespeichert sind Informationen zu über 100 Orten entlang der größtenteils verschwunden Berliner Mauer.

"Das ist es! Das berühmte Brandenburger Tor!" "Am Checkpoint Charlie...." "Das Gedenkkreuz für Günter Littwien."

"Jetzt wird gerade eine Information gegeben über das Haus der Ministerien, heute Bundesfinanzministerium ..."

Als einer der ersten testete Berlins regierender Bürgermeister, Klaus Wowereit, den Mauerführer.

"Das Schöne daran ist die Kombination aus Bildern, Filmen, Texten und Zeitzeugen, historische Dokumente, die man so in dieser Komplexheit gar nicht bekommen könnte. Und in dieser Form ist das dann schon einmalig."

Für Mauer-Wanderer hält der handliche Begleiter liebevoll aufbereitete Informationen bereit: Zum Erzählertext erscheinen auf dem ausreichend großen Bildschirm historische Fotos und Filmaufnahmen.

"Mr. Gorbatschow, open this gate!"

Rund 30 Zeitzeugen geben der Mauer-Geschichte Stimme und Gesicht. Chris Geffroy, der letzte Mauertote, wurde 1989 bei einem Fluchtversuch in Berlin Neukölln erschossen:

"Chris Geffroys Mutter Karin erinnert sich: Es fielen dann so Schüsse, die fielen aber unentwegt, ich habe die ja nachts immer gehört, ich habe nicht so sehr weit weg gewohnt. Aber ich habe nicht gewusst, dass das dem Chris gegolten hat."

Rund fünf Stunden Material sind auf dem multimedialen Mauerführer gespeichert. Filme, Bilder und Texte wurden von Historiker redigiert, sagt Eva Wesemann, vom Hersteller "Antenna Audio", dessen digitale Führer Touristen auf der ganzen Welt begleiten. Auf dem Mauerführer hätten die Experten selbst ihnen unbekannte Dokumente entdeckt, sagt Projektleiterin Wesemann:

"Wir haben zum Beispiel Aufnahmen von Abhöreinrichtungen am Brandenburger Tor oder Stasi-Dokumente mit Personenbeobachtungen am Brandenburger Tor in die Führung integrieren können, die nicht nur einem breiten Publikum nicht bekannt sich, sondern auch für viele Sachverständige eine Überraschung waren, wie wir herausgefunden haben. Und diese Schätze haben wir wirklich alle gehoben und machen sie einem breiten Publikum bekannt."

""In den Stasi-Unterlagen füllen die Abhöraktionen der gegenüberliegenden Seite ganze Akten." "28.6.62, 6 Uhr 25 unregelmäßiges Klopfen. 19.9.62, 16 Uhr bis 16 Uhr 44, je ein kräftiger dumpfer Schlag ..."

Zu jedem der über 100 Mauerorte liefert der digitale Führer Basisinformationen, die jeder bei Bedarf vertiefen kann. Einfach mit dem Finger oder einem Stift auf den Bildschirm tippen.

"Am Brandenburger Tor ereigneten sich viele interessante Geschichten. Berührten sie einen der Kreise, wenn Sie mehr erfahren wollen."

Vom Berliner Senat hat Antenna Audio nur die Lizenz bekommen, darf sich also "offizieller Mauerführer" nennen. Alle Kosten musste Antenna Audio vorstrecken, nach eigenen Angaben rund 500.000 Euro. Geld müssen jetzt die Leihgebühren für den Mauerführer reinbringen: Vier Stunden kosten sechs Euro, ein Tag kostet zehn Euro. Im Gästebuch an der Ausleihstation Checkpoint Charlie überwiegt das Lob aus aller Welt: Anschaulich, lebendig, informativ. Doch nicht alle Touristen sind restlos zufrieden mit dem Mauerführer:

"Inhaltlich haben die sich viel Mühe gemacht, die Interviews, die Videos, die Fotos – das macht das ganze recht anschaulich. Was ich nicht so gelungen finde, ist das Bedienkonzept, ehrlich gesagt, bis ich da wusste in welche Richtung ich laufen soll, das hat doch eine Weile gedauert, ehrlich gesagt."

Das handliche Gerät bietet zwar mehr als ein Stadtplan, wer jedoch ein Navigationsgerät für Stadtwanderer erwartet, wird enttäuscht. Auf dem kleinen Bildschirm erscheint eine Straßenkarte, kleine Symbole markieren die 100 Mauerorte. Tippt man ein Ziel an, zeigt eine gelbe Linie auf dem Stadtplan den schnellsten Weg. Den eigenen Standpunkt markiert ein gelbes Kreuz, Dank Satellitennavigation stets sehr genau. Der Mauerwanderer muss wissen: Ist das gelbe Kreuz nicht mehr auf der gelben Linie, bin ich falsch. Genaue Richtungsangaben per Sprache oder Grafik wie bei einer Autonavigation gibt es nicht. Navigationsgeräte für Fußgänger scheiterten bisher am Karten-Problem: Denn Spaziergänger wollen nicht nur auf Verkehrsstraßen laufen, sondern durch Parks und über Friedhöfe Computerlesbare Karten aber, die all diese Fußwege erfassen, sind sehr rar. Für die Berliner Innenstadt hat Antenna Audio dieses Problem mit viel Aufwand gelöst, sagt Projektleiterin Eva Wesemann:

"Wir haben die komplette Berliner Innenstadt neu vermessen und haben tatsächlich die Wege, die Gassen, die Treppen, die Unterführungen mit in unsere Datenbank aufgenommen, die tatsächlich die kürzeste Entfernung von meinem Ausgangsstandpunkt bis zum Ziel garantieren."

Es wäre technisch möglich gewesen, mit diesem Kartenmaterial eine zeitgemäße Navigationssoftware zu füttern: Pfeile würden dann die Richtung weisen, die Karte auf dem Bildschirm würde sich automatisch in Marschrichtung drehen. Doch diese Orientierungshilfen hätten den kleinen Hand-Computer viel Rechenkraft gekostet. Der Mauer-Führer hätte schon nach vier Stunden wieder an die Steckdose gemusst. So hält der Akku bis zu acht Stunden durch, genug für einen entspannten Tag an der Mauer.

"Sie hörten das Studio am Stacheldraht! Landsleute, wir verabschieden uns von Euch! Bis morgen!"