Der dienstälteste Ballettchef der Welt

John Neumeier im Gespräch mit Andreas Müller · 01.12.2009
Am 1. Dezember 1969 wurde der damals 27-jährige US-amerikanische Tänzer und Choreograf John Neumeier Ballettdirektor in Frankfurt/M. "Eine Form von Intuition", erklärt der heutige Leiter des Hamburg Balletts an der Hamburgischen Staatsoper sein Erfolgsrezept. Dort ist sein Vertrag gerade bis 2015 verlängert worden.
Andreas Müller: Der Choreograf und Tänzer John Neumeier begeht heute ein ganz besonders Jubiläum. Er ist seit 40 Jahren Ballettchef und damit der dienstälteste Ballettchef überhaupt. Aus Milwaukee in Wisconsin kommt er, nicht unbedingt eine Kulturmetropole. Seit vier Jahrzehnten prägt er die Welt des Ballett. Mit gerade mal 27 Jahren übrigens fing er damals an. Ja, und jetzt ist er bei uns zu Gast. Schönen guten Tag, Herr Neumeier!

John Neumeier: Guten Tag!

Müller: Sie sind jetzt 67 Jahre alt und bleiben in Bewegung. Sie haben gerade Ihren Vertrag in Hamburg bis 2015 verlängert. Könnten Sie sich das überhaupt vorstellen, sich zurückzulehnen und eben nicht mehr in Bewegung zu sein und auch nichts mehr zu bewegen?

Neumeier: Im Moment nicht, weil ich stehe weniger als eine Woche vor einer Premiere, und es ist natürlich eine sehr spannende Zeit oder eine sehr aufgewühlte Zeit, weil man wie immer nicht genau weiß, wie es wird und was man noch machen muss. Im Moment kann ich mir das überhaupt nicht vorstellen, nein.

Müller: Als Sie 1969 Direktor in Frankfurt am Main wurden, wussten Sie wahrscheinlich auch noch nicht, was wird, was wird geschehen. Was aber war, es waren sehr bewegte Zeiten. Also kurz vorher waren Menschen auf dem Mond gelandet, die westlichen Gesellschaften erlebten gewaltige politische und kulturelle Umwälzungen. Wie war es damals, Ballett zu arbeiten?

Neumeier: Es war sehr aufregend, und ich glaube, für mich war all das ein Teil meiner Arbeit zu der Zeit. Ich kann diese Mondlandung ganz genau erinnern, und die wurde sogar ein Teil, die erste Produktion in Frankfurt, die ich gemacht habe. Ich bin am 1. Dezember Ballettdirektor geworden in Frankfurt, und das war ein bisschen überraschend. Der damalige Intendant Ulrich Erfurth hat mich aufgefordert. Ich dachte, er wollte eine Inszenierung, ein Ballett von mir haben, und dann hat er gesagt: Sie werden überrascht sein, aber wir wollen, dass Sie Ballettdirektor werden. Die erste Premiere war "Feuervogel", und ich hab das wirklich fast wie auf dem Mond gespielt. Das heißt, es wurde, dieses russische Märchen habe ich so völlig umgearbeitet und mit einer ganz anderen, sehr modernen, sehr poppigen, basiert auf der Beatles-"Yellow Submarine"-artigen Dekoration. Und der Prinz landete auf irgendeinem fremden Planet.

Müller: Also Sie haben die Klassiker des Balletts choreografiert, immer auch in die Moderne aber gebracht. Sie haben Sinfonien Gustav Mahlers auf die Ballettbühne gebracht, Bachs Matthäuspassion, Homers Odyssee. Sie kombinieren Mozart mit Shakespeare, die Artus-Sage mit Musik von Sibelius und Henze. Sie haben einmal geschrieben, Zitat: "Stücke müssen entstehen, die nur zu dieser Zeit und nur mit diesen Tänzern möglich sind." Warum passt ein Ballett, eine Musik in eine ganz bestimmte Zeit hinein und in eine andere nicht?

Neumeier: Ich glaube, das ist eine Form von Intuition. Man kann auch nicht genau beschreiben, warum man gerne an einem Abend ein Steak essen möchte oder einen Fisch. Es ist so, dass in dem Künstler ein gewisser Appetit erweckt wird. Und dieser Appetit kann auch von einem Tänzer geweckt werden, dass man sagt, gerade für diesen Moment muss ich ein Ballett für diesen Mensch machen, wie zum Beispiel "Tod in Venedig" für Lloyd Riggins. Es war absolut die Zeit, die für ihn perfekt war. Und dieses Ballett, das ich über viele Jahre erdacht habe, ja, die Zeit war dafür reif. Aber man kann es glaube ich nicht rational erklären, warum es so ist.

Müller: Was für ein Stück passt heute? Sie haben demnächst Premiere, "Orpheus", reden wir vielleicht gleich noch drüber – ist das das Stück, das heute passt?

Neumeier: Ich hoffe. Ich hoffe ja. Nein, das Stück war auch inspiriert von einem Menschen, das heißt, es war vorgesehen für Roberto Bolle. Ich wollte einfach irgendwas für ihn machen, und diese Figur von "Orpheus" schien mir wirklich ideal. Leider ist er erkrankt worden an den Folgen einer früheren Verletzung und musste ausscheiden. Und dafür macht es Otto Bubenicek. Aber da muss man sehen, dass das, was Roberto in diesen Text hingegeben hat und mitgebracht hat, das bleibt irgendwie als Teil, dieser getanzte Text, und es wird glaube ich ganz toll von Otto Bubenicek gemacht.

Müller: Welche Themen haben Sie immer besonders interessiert, inspiriert oder vielleicht auch provoziert?

Neumeier: Die Virtuosität von Tanz finde ich immer wunderbar, aber das kann ich auch im Zirkus sehen. Mich interessiert eigentlich die Form von Tanz, weil Mensch ist wirklich das Sujet von Tanz, ist auch das Instrument des Tanzes. Die Dinge, wo ich gesagt habe, das könnte so sein, das könnte mein Problem sein, ich könnte auch so reagieren, ich könnte auch so leiden, die Dinge, die nicht wirklich echt sind, an die ich glaube.

Müller: Wie sehen Sie Ihre Arbeit eigentlich im Vergleich mit dem neuen Tanztheater? Also ich denke an Sasha Waltz und vor allem auch natürlich Ihre US-amerikanischen Vorbilder. Da sind teilweise extreme körperliche Konfrontationen auf der Bühne, und das hatte in den letzten Jahren noch eine enorme Beliebtheit gewonnen. Wie sehen Sie das?

Neumeier: Jede neue Form von Tanz ist eine Bereicherung für die Kunst, denn die Kunst ist sehr groß. Die Kunst hat keine Grenzen. Aber man kann einfach nicht die neueste Mode einfach so anziehen, weil es modisch ist. Das heißt, man kann nur aus sich selber wirklich ehrlich schöpfen. Wenn man meint, es wäre ganz toll, wenn die Menschen sich schlagen und auf den Boden fallen, dann muss man das machen. Wenn man denkt, ja, ich weiß nicht, ob das so wichtig ist, dann muss man eben eine andere Form dafür finden. Aber das sagt nichts gegen irgendeine neue Form von Bewegung. Ich bedauere nur, dass ich zu wenig Zeit habe, um das alles mehr intensiv mitzuarbeiten. Aber es ist ganz komisch, weil ich habe das Gefühl, dass umso älter ich werde, ist es nicht so, dass ich weniger zu tun habe, sondern eher mehr.

Müller: Hatten Sie eigentlich irgendwann mal das Gefühl, die Ausdrucksmöglichkeiten des klassischen Balletts könnten zu Ende, die Geschichten vielleicht auserzählt sein?

Neumeier: Nein. Für mich das klassische Ballett ist eine Form von Training. Man trainiert eigentlich eine gewisse Routine jeden Tag, damit der Körper spielbar ist, damit ich als Choreograf oder Sasha Waltz oder wer auch immer diesen Körper nehmen kann und sagt: Wow, was für Möglichkeiten hat dieser Körper! Ich sehe immer noch kein besseres Training, aber das begrenzt nicht die Ausdrucksmöglichkeiten, die dadurch ermöglicht sind.

Müller: Im Deutschlandradio spreche ich mit John Neumeier, der feiert heute, wenn man so will, sein 40. Dienstjubiläum als Ballettdirektor. Und es gibt eigentlich auch noch ein zweites Jubiläum: Im Herbst 1989, vor 20 Jahren also, eröffnete in Hamburg Ihr Ballettzentrum, und da wird dann trainiert, dort wird er ausgebildet, der Nachwuchs. Was denken Sie, wenn Sie die sehen, diese Leute manchmal, was ist das für ein Gefühl? Sehen Sie sich selbst auch wieder?

Neumeier: Das ist das tollste Gefühl eigentlich, wenn man sieht, dass man jungen Menschen eine bessere Möglichkeit gibt als das, was man selber gehabt hat, dass man vor allem eine Kreativität fördert, dass die jungen Menschen nicht nur Technik lernen oder verschiedene Techniken lernen, sondern lernen, selber eigentlich kreativ zu sein.

Müller: Sie führen immer ein Arbeitsbuch. Einblicke konnten wir im vergangenen Jahr nehmen, als Ihr Buch "In Bewegung" erschien. Derzeit arbeiten Sie an "Orpheus", Premiere ist am 6. Dezember. Was haben Sie zuletzt in Ihr Arbeitsbuch eingetragen?

Neumeier: Da kann ich gleich schauen, wenn Sie Zeit haben dafür. Wahrscheinlich irgendwelche Verzweiflungsschreie. Ja, ich schaue immer die Videos an und schreibe – das ist für Menschen völlig uninteressant, glaube ich, so etwas zu lesen. Ja, das kann ich nicht verraten.

Müller: Also doch kein Einblick in die Werkstatt des Meisters an dieser Stelle. Ich habe es vorhin gesagt, Sie bleiben im Amt, Ihr Vertrag wurde bis 2015 verlängert. Was wollen, was müssen Sie noch schaffen? Was fehlt Ihnen noch?

Neumeier: Ja, ganz wesentlich ist eine Jugend-Company. Es fehlt, finde ich, in Hamburg, weil die Schule wird immer besser, die Schule hat immer mehr sehr Interessante und sehr Starke, und es fehlt einfach die Möglichkeit, dass sie einen Plafond haben, eine Company, weil ich kann nicht alle aufnehmen in die Company jedes Jahr, weil ich kann nur so viel aufnehmen, wie Tänzer weggehen. Und das heißt, es wäre ganz gut, so eine Brücke zu haben, eine Company, in der man, wie es in den Niederlanden ist, wie es in der Schweiz ist, dass man eine Company hat, so eine Training-Company für junge Menschen, wo sie ein oder zwei Jahre bleiben könnten. Und das ist im Gespräch, ich hoffe, dass das irgendwann mal dazu eine Entscheidung von der Kulturbehörde gibt.

Müller: Er bleibt in Bewegung, es geht gar nicht anders. Der Choreograf und Ballettdirektor John Neumeier. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!

Neumeier: Bitte schön!