Der deutsche Nationalstaat von 1871

War die Gründung des Kaiserreichs alternativlos?

30:10 Minuten
Wilhelm I. König von Preußen bei der Proklamation zum ersten Kaiser von Deutschland, 1871 im Spiegelsaal von Versailles. Otto von Bismarck, deutscher Kanzler, steht im weißen Anzug in der Mitte.
"Kalt und herzlos" war die Proklamation von Wilhelm I. 1871 im Spiegelsaal von Versailles zum ersten Kaiser von Deutschland, schrieb ein Beobachter. © picture-alliance / Mary Evans Picture Library
Von Hans von Trotha |
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Die Gründung des deutschen Nationalstaats 1871 jährt sich im Januar zum 150. Mal. Ihr gingen Kriege voraus und ein erstarkter Patriotismus. Doch wie passte ein Kaiserreich eigentlich in eine Zeit rasanter Modernisierung?
"Wer deutsche Stadtpläne aufmerksam liest, wird schnell merken, in welchem Teil Deutschlands er sich befindet. Wenn er nur eine Sedanstraße vorfindet, zum Beispiel", sagt Christoph Jahr.

Sedan – eine französische Kleinstadt an der Grenze zu Belgien. Mit einer monumentalen mittelalterlichen Burganlage. Die ist nicht der Grund für die Sedanstraßen. Sondern: Die Schlacht am 1. und 2. September 1870. Die Schlacht bei Sedan. Sie galt als Vorentscheidung im deutsch-französischen Krieg 1870/71.
Sogar der Französische Kaiser wurde damals gefangen genommen – was die Preußen zuerst gar nicht bemerkten: Napoleon III. - er ist daraufhin in Paris kurzerhand abgesetzt worden.
Schauen wir noch mal auf die deutschen Stadtpläne.

"Wenn er nur eine Sedanstraße vorfindet, ist er mit ziemlicher Sicherheit in Süddeutschland. Wenn er, wie wir hier in Berlin, einen Nikolsburger Platz vorfindet oder einen Prager Platz, das sind die beiden Friedensverträge mit Österreich 1866, und wenn es eine Königgraetzer Straße gibt – die Entscheidungsschlacht 1866 gegen Österreich – , dann befindet er sich ziemlich sicher im preußisch dominierten norddeutschen Teil unseres Landes."
Historische Zeichnung, Einzug der Deutschen Truppen nach der Schlacht von Orleans am 4. Dezember 1870, Deutsch-Französischer Krieg von 1870 - 1871 zwischen dem Kaiserreich Frankreich und dem Königreich Preußen.
Wie kam es dazu? Eine historische Zeichnung zeigt den Einzug der Deutschen Truppen nach der Schlacht von Orléans am 4. Dezember 1870.© imago images / imagebroker
Der Berliner Historiker Christoph Jahr hat anlässlich des 150. Jahrestags der Gründung eines deutschen Nationalstaats im Januar 1871 eine Geschichte der Einigung der deutschen Staaten zu einem Deutschen Reich geschrieben.

"Zum Beispiel stehen wir hier auf dem Nikolsburger Platz. – Diese Platz- und Straßenbenennungen sind so etwas wie ein Geschichtsparcours, der damals in den 1870er-, 80er-Jahren in der Regel, in den Gründerzeitquartieren, die heute so hoch geschätzt werden, angelegt wurden, um im alltäglichen Bewusstsein dieses Geschichtsbild zu vermitteln: Dieser wundersame Weg, wie es scheint, das kleine, arme Preußen am Rande des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wird über mehrere Jahrhunderte – mit Rückschlägen, aber dann doch – zur entscheidenden Vormacht Deutschlands, das endlich die nationalstaatliche Einigung vollbringt", sagt Christoph Jahr.

Historienmaler Werner erhält Telegramm vom Hofmarschall

15. Januar 1871. Anton von Werner, Kunstmaler, spezialisiert auf Historienmalerei, 27 Jahre alt, dieser Anton von Werner läuft mit seiner Braut Malvina, er läuft mit ihr Schlittschuh auf einem Teich im badischen Karlsruhe. Da wird ihm ein Telegramm zugestellt. Absender: Der Hofmarschall des Preußischen Kronprinzen. Versailles.

In Versailles befindet sich das Hauptquartier der preußischen und der mit ihnen im Krieg gegen Frankreich verbündeten Truppen. Seit Monaten, seit der für Preußen siegreichen Schlacht von Sedan wird Paris belagert.

Der in Versailles aufgegebene Telegrammtext lautet: "Geschichtsmaler v. Werner, Karlsruhe. Seine Königliche Hoheit der Kronprinz lässt Ihnen sagen, dass Sie hier Etwas Ihres Pinsels Würdiges erleben würden, wenn Sie vor dem 18. Januar hier eintreffen."
Anton von Werner war 1862 von der Berliner Akademie an die Kunstschule in Karlsruhe gewechselt, nicht zuletzt der politischen Verhältnisse wegen.

"Baden ist bei uns längst als konstitutioneller Musterstaat bekannt und gepriesen. Hier nun fühlte ich in der Tat den Hauch einer neuen Ära in dem Zusammenleben und Zusammenwirken von Fürst und Volk, die glückverheißend schien. … Der Vergleich zwischen Preußen, das als Inbegriff finsterster Reaktion galt, und Süddeutschland, dem Land der Freiheit, drängte sich überall und nicht gerade freundlich auf", wird Anton von Werner zitiert.

1866 kehrt von Werner trotzdem zurück nach Preußen. Ende 1869 erhält er den Auftrag, die Aula der Kieler Gelehrtenschule mit Wandbildern zu dekorieren.

Es ist eine Zeit, in der die Europäer die Geschichte für sich entdecken – wobei das "für sich" wörtlich zu nehmen ist. Geschichte ist zunächst vor allem Nationalgeschichte, also ein Nebeneinander unterschiedlicher, sich deswegen oft ausschließender Geschichten von Nationen, die es zum großen Teil noch gar nicht gibt, die sich gerade erst als solche herausbilden. Bildprogramme wie jenes, das Anton von Werner in Kiel entwerfen soll, wie sie aber auch an Rathäusern und anderen Gebäuden weithin sichtbar angebracht werden, gehören zu den Medien, mit denen ein kollektives historisches Gedächtnis gestiftet werden soll.

Als Themen werden Anton von Werner für die Kieler Aula vorgegeben: "Luther" und die "Nationale Erhebung von 1813".

Patriotischer Schub in Preußen

Damit ist ein patriotischer Schub in Preußen und anderen deutschen Staaten im Zuge der Befreiungskriege gegen Napoleon gemeint, wobei sich der Patriotismus vor allem aus dem erbitterten Hass gegen die Franzosen speist. Eine deutsche Nation gibt es ja noch gar nicht.

Es kommt zur Bildung freiwilliger Wehrverbände, darunter das Lützowsche Freikorps, dem willige Kämpfer aus fast allen deutschen Gebieten angehören.

Diese Freiwilligen-Trupps, die sich selbst versorgen und deren Angehörige keinen Sold erhalten, sind militärisch nicht besonders erfolgreich. Ihre nachhaltige Wirkung liegt woanders: Im Rückblick erscheint die gesamtdeutsche Lützowsche Freiwilligentruppe als Keimzelle einer deutschen Nationalbewegung.
Ihre Uniform-Farben sind: Schwarz, Rot, Gold.

"Die Geschichtsschreibung ist ein ganz wichtiger Faktor. Ich denke, man kann das etwas vereinfachend, aber insgesamt doch zutreffend so zusammenfassen, dass in vieler Hinsicht die Geschichtsschreibung an die Stelle der Religion tritt. Es ist ja nicht so, dass im 19. Jahrhundert die Religion bedeutungslos wird. Aber trotzdem setzen Säkularisierungsprozesse ein", sagt Christoph Jahr.

"Die Aufklärung wirkt fort, die Französische Revolution natürlich sehr stark. Das heißt, in dieser Zeit, wo sich so viel verändert, wirtschaftlich, ökonomisch, gesellschaftlich, politisch, was kann da noch festen Halt geben? Die Religion eben nur noch begrenzt, obwohl sie, wie gesagt, wichtig bleibt. Und da kommt man drauf: Die Geschichte ist es. Die Geschichte wird zur letzten Berufungsinstanz. Und das sieht man auch sehr schön daran, dass viele bedeutende Historiker aus Pfarrhaushalten kommen."

Paradigmatisches Beispiel einer Instrumentalisierung der historischen Perspektive für patriotisch-nationalistische Zwecke ist die Zusammenfassung einer Reihe unterschiedlich gearteter kriegerischer Auseinandersetzungen nach 1860 als "deutsche Einigungskriege". Als ob der Deutsch-Dänische Krieg 1864, der sogenannte Deutsche Krieg zwischen Preußen und Österreich 1866 - mit Österreichs Niederlage bei Königgraetz - und der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 jeweils die Deutsche Einheit zum Gegenstand gehabt hätten. Die Anlässe für diese Kriege waren ganz andere. Sie sind aus heutiger Sicht nicht immer leicht nachzuvollziehen.

Kriegsanlässe erscheinen nicht zwingend

Nicht nur aus heutiger Sicht. Vom britischen Premier Lord Palmerston ist der Ausspruch überliefert: "Die Schleswig-Holsteinische Frage haben überhaupt nur drei Menschen verstanden: Der Prinzgemahl Albert, aber der ist tot. Ein deutscher Professor, aber der ist darüber verrückt geworden. Und ich. Aber ich habe alles vergessen."

Auch als der Deutsch-Französische Krieg 1870 ausbricht, erscheint der Anlass vielen Zeitgenossen als keineswegs zwingend.

Es gab Verwicklungen um die Frage, ob ein Mitglied der verzweigten Hohenzollern-Familie, die auch den preußischen König stellte, spanischer König werden kann. Der französische Kaiser Napoleon III. lehnte das vehement ab. Bei einem Treffen des preußischen Königs mit dem französischen Gesandten in Bad Ems eskalierte die Lage diplomatisch.

Eine Depesche des Königs an seinen Kanzler Bismarck in Berlin nutzte dieser, um durch eine weitere Verschärfung der Formulierung und deren Veröffentlichung Öl ins Feuer zu gießen. Daraufhin erklärte Napoleon III. Preußen – und damit auch Preußens Verbündeten – den Krieg.

Wobei Kriegsberichterstatter Theodor Fontane betont: "Bismarcks Telegramm schuf nicht den Krieg, sondern zwang ihn nur in die richtige Stunde."

Auf der anderen Seite wettert der französische Schriftsteller Gustave Flaubert in einem Brief an George Sand: "Die Dummheit meiner Landsleute widert mich an, zerreißt mich … Das schreckliche Gemetzel, das sich vorbereitet, hat nicht einmal einen Vorwand. Es ist das Gelüst zu kämpfen, um zu kämpfen. … Sie haben gehört, dass ein Herr der Kammer die Plünderung des Großherzogtums Baden vorgeschlagen hat. Ah! Warum kann ich nicht bei den Beduinen leben!"
Zurück nach Baden.

"Wenn nur jetzt der Krieg nicht gekommen wäre!", seufzt Anton von Werner. Doch der Krieg hält für ihn noch die ganz große Chance bereit. Am 15. Januar 1871 bricht er auf Richtung Versailles. Der Historiker Christoph Nonn beschreibt in seiner Geschichte des Deutschen Kaiserreichs, ebenfalls anlässlich des 150. Jahrestags von dessen Gründung erschienen, wie der Maler dort ankommt.

Keine wirklich feierliche Atmosphäre

"Gegen elf Uhr eilte Werner schließlich zum Schloss, einigermaßen in Sorge um die Sauberkeit seiner Frackhosen. Denn das Eis und der Schnee der letzten Tage hatten sich mit dem Tauwetter in `furchtbaren Dreck´ verwandelt, wie ein Offizier des preußischen Generalstabs in seinem Tagebuch notierte. Auf der zum Schloss führenden Avenue de Paris und der davor liegenden Place d´Armes wimmelte es dennoch von Soldaten", ist nachzulesen bei Christoph Nonn.

"Kurz vor zwölf Uhr fuhr der Kronprinz vor und ging mit seinem Adjutanten zum Schloss. Bald darauf folgte König Wilhelm im offenen, von vier Pferden gezogenen Wagen. Trotz der Hurrarufe der Soldaten hatten sogar zu Pathos neigende Betrachter den Eindruck, dass sich eine wirklich feierliche Atmosphäre nicht einstellen wollte. Denn nicht nur mischte sich in das Hurra von Paris her der Donner französischer Festungsartillerie. Der Wagen des Königs musste zudem seinen Weg nehmen zwischen Kriegsfuhrwerk, Proviantladungen und Viehzutrieb, durch den lebhaften städtischen Verkehr hindurch, der am Markttage herrschte."

Der berühmte Spiegelsaal des Versailler Schlosses diente als Lazarett. Für diesen Tag war er geräumt worden.
Eine historischer Stich zeigt die Proklamation des Deutschen Reiches am 18.01.1871 im Spiegelsaal von Versailles nach der französischen Niederlage im Krieg von 1870 gegen Preußen. Wilhelm I. (1797-1888) wird in Anwesenheit von Otto von Bismarck zum Kaiser proklamiert - Stich von Maurice Pallandre in Les combattants de 1870-71 von Commandant Leonce Rousset (1850-1938). 
"Ich sah noch, wie der Kaiser den Kronprinzen umarmte", schrieb Anton von Werner, der bei der Kaiserproklamation anwesend war.© imago images / Leemage
"Im Spiegelsaal wartete Anton von Werner als einer von einer Handvoll Zivilisten unter Hunderten Uniformträgern … Mit dem Auge des Malers taxierte (er) schon das künstlerische Potential der in den Spiegeln reflektierenden bunten Uniformen, der blitzenden Orden und Waffen und des Lichts. Allerdings tappte er immer noch völlig im Dunkeln", heißt es bei Christoph Nonn weiter.

"Was kann aus diesem Gewirr `meines Pinsels Würdiges´ sich entwickeln?", so Anton von Werner.

"Angesichts des Datums schien es ihm am wahrscheinlichsten, dass ein Gedenken an die erste preußische Königskrönung am 18. Januar 1701 vorgesehen war", so Christoph Nonn.

Werner zeichnet Porträts von Anwesenden. Da ruft der Kronprinz: "Helm ab zum Gebet!"

Bernhard Friedrich Wilhelm Rogge, Hofprediger des preußischen Königshauses, erhebt die Stimme: "Heil Dir im Siegerkranz unterlegt."

Und weiter: "Was unsere Väter in der Erhebung der Befreiungskämpfe vergeblich sich ersehnt haben, wofür die deutsche Jugend in edler Begeisterung geschwärmt, was die Sänger jener Tage in immer neuen Weisen umsonst gesungen, was die Lieder und Sagen unseres Volkes nur als einen fernen Traum uns verkündet haben: wir sehen es heute zur Wirklichkeit geworden, sehen das deutsche Reich wieder auferstanden in alter Herrlichkeit, ja in einer Macht und Größe, die es vielleicht nie zuvor besessen hat, sehen dem Deutschen Reiche seinen Kaiser wiedergegeben und dürfen als solchen einen König begrüßen, dessen greises Haar mit frischen Lorbeerkränzen geschmückt ist, in denen wir die ruhmvollsten Zeiten der deutschen Vergangenheit erneut, ja übertroffen sehen."

Oberstleutnant Paul Bronsart von Schellendorff vertraut seinem Tagebuch an: "Die lange, aber ziemlich schwache Rede hat mehr den Charakter einer Hausandacht gehabt."

Bronsart hält außerdem fest: "Der improvisierte Altar stand einer nackten Venus gegenüber, ein allerdings im Schloss von Versailles schwer zu vermeidendes Verhältnis."

Ein Hoch auf den frisch gekürten Kaiser

"Nun danket alle Gott": Nach der Predigt wird dieser Choral angestimmt. Den hatten nach der gewonnenen Schlacht bei Leuthen im Jahr 1757 25.000 preußische Soldaten angestimmt. Im Siebenjährigen Krieg, mit dem König Friedrich Preußens Aufstieg zur Großmacht besiegelte. Seither symbolisierte der Choral den preußischen Willen zum Sieg.

Und nun spricht Wilhelm, noch König, gleich Kaiser: "Dem deutschen Volke..."

Von dem allerdings außer dem Maler Anton von Werner nicht wirklich jemand anwesend ist, nur Fürsten, Offiziere, Soldaten.

"Dem deutschen Volke gebe ich Meinen Entschluss durch eine heute von Mir erlassene Proklamation kund."

Die liest dann nicht er selbst vor, sondern der preußische, seit 1. Januar auch deutsche Kanzler Otto von Bismarck: "Wir bekunden hiermit, dass wir es als eine Pflicht gegen das gemeinsame Vaterland betrachten, diesem Rufe der verbündeten deutschen Fürsten und Städte Folge zu leisten und die Deutsche Kaiserwürde anzunehmen."

Anton von Werner erinnert sich: "Und nun ging in prunklosester Weise und außerordentlicher Kürze das große Ereignis vor sich, das die Errungenschaft des Krieges bedeutete: die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches! Das also war es, was der Kronprinz Friedrich Wilhelm als etwas meines Pinsels Würdiges in seinem Telegramm bezeichnet hatte!"

Die Anwesenden rufen ein Hoch auf den Kaiser und Hurra!

Anton von Werner: "Der historische Akt war vorbei: Es gab wieder ein Deutsches Reich und einen Deutschen Kaiser! Ich sah noch, wie der Kaiser den Kronprinzen umarmte und von den ihn umgebenden deutschen Fürsten beglückwünscht wurde. Eine beabsichtigte Defiliercour der anwesenden Offiziere missglückte."

"Alles so kalt, so stolz, so glänzend, so prunkend und großtuerisch und herzlos und leer", resümierte Prinz Otto von Bayern. Die Musikkorps sollten im Vorraum des Spiegelsaals von Versailles einen Marsch spielen.

Anton von Werner: "Aber so sehr waren Kaiser und die Fürsten noch in der Unterredung mit den sie umringenden Festgenossen begriffen, dass der zu lauten Musik sofort wieder Einhalt geboten werden musste. … Ich sah den Kaiser die Stufen der Estrade hinabschreiten, an Bismarck vorbei, den er nicht zu bemerken schien."

Bismarck wollte eine Bombe sein

Dieser wiederum, also Otto von Bismarck, schreibt an seine Frau: "Diese Kaisergeburt war eine schwere, und Könige haben in solchen Zeiten ihre wunderlichen Gelüste, wie Frauen, bevor sie der Welt hergeben, was sie doch nicht behalten können. Ich hatte als Accoucheur …", Geburtshelfer, " … mehrmals das dringende Bedürfnis, eine Bombe zu sein und zu platzen, dass der ganze Bau in Trümmer gegangen wäre."

Das Problem, eines der Probleme, lag darin, dass sich die Beteiligten, die sich durchgerungen hatten, den preußischen König zum Kaiser eines im Krieg gegen Frankreich geeinten Deutschen Reichs zu erklären, vor dieser Einigung schon wieder uneins waren, und zwar, ob der so Erhobene sich "Deutscher Kaiser" oder "Kaiser der Deutschen" nennen sollte. Gab es die überhaupt schon, die Deutschen?

"Eigentlich war die Besprechung am 17. Januar anberaumt worden, um den Festakt am nächsten Tag insgesamt zu planen und dabei in letzter Minute auch endlich eine Einigung in der umstrittenen Titelfrage zu erzielen. Beides misslang völlig. … Im höchsten Zorn sprang der König schließlich auf, brach die Verhandlungen ab und erklärte, von der zu morgen angesetzten Feier nichts mehr hören zu wollen. Wilhelm war dermaßen aufgebracht und aufgewühlt, dass er sogar drauf und dran war, zurückzutreten", heißt es bei Christoph Nonn.

Die Titelfrage umging der Großherzog von Baden im Spiegelsaal schließlich diplomatisch, indem er schlicht rief: "Ein Hoch auf Seine Majestät Kaiser Wilhelm!"

Das am 1. Januar 1871 neu geschaffene Land, Deutschland, hatte einen Kaiser. Frankreich hatte keinen mehr – wie erwähnt wegen Sedan.

Warum eigentlich ein Reich mit einem Kaiser? Wie passte das in diese Zeit rasanter Modernisierung?

"Anachronistisch ist es angesichts der gesellschaftlichen, politischen Verhältnisse eigentlich zu dieser Zeit, aber man scheint sich davon eine große Bindungskraft zu versprechen", vermutet Christoph Jahr.

"Also diese Idee ist offensichtlich sehr verführerisch, aber zugleich auch problematisch. Als es am 18. Januar 1871 dann zur Kaiserproklamation kommt, könnte man ja denken: Wann kommt die Krönung? Es kommt nie eine. Er wird nie gekrönt – weil man vor dem Problem steht: Wenn wir jetzt eine Kaiserkrönung vollziehen, muss die sich eigentlich an dem Ritus des alten Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation orientieren und damit katholisch sein. Das ist aber nun für das preußisch protestantische neue Kaiserreich nicht gerade das Vorbild, was man haben will."

Maler Anton von Werner idealisiert Kaiserproklamation

Anton von Werner idealisiert den Moment der Kaiserproklamation zu einer, vielleicht der Ikone der deutschen Historienmalerei. Er malt das Bild vier Mal, doch nur eine Fassung, die in Bismarcks Landsitz Friedrichsruh, überdauert jene Zeiten, die das Deutsche Reich, deren Gründung das Gemälde feiert, hervorbringen wird. Am Ende war es eine Kriegsgeburt, eine fanatisch antifranzösische und eine nationalistische Proklamation. All dies gehört von Anfang an und bis zum Ende dieses Reichs im Jahr 1918 sozusagen zu seiner DNA.

Am 30. September 1862 hatte Bismarck vor der Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses seine erste Rede als preußischer Ministerpräsident gehalten. Da hatte er gesagt: "Nicht durch Reden werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut."

Der Historiker Christoph Jahr gab seinem Buch zur Reichsgründung den Titel: "Blut und Eisen. Wie Preußen Deutschland erzwang".

Erzwang. Jahr schreibt, die Entwicklung von 1863 bis 1871 sei zu keinem Zeitpunkt alternativlos gewesen.

"Ich glaube, ganz wichtig ist zunächst einmal, sich klar zu machen, dass viele, wenn man so will, kleine Entscheidungen erst am Ende die Summe dieser großen Umstürze ergaben. Und diese vielen kleinen Entscheidungen hätten natürlich jederzeit anders verlaufen können", sagt Christoph Jahr.

"Was wäre 1862 gewesen, wenn Wilhelm I., wie er wohl ernsthaft vorhatte, sein Amt schon an den Thronfolger übergeben hätte und Bismarck nicht preußischer Ministerpräsident geworden wäre? Was wäre gewesen, wenn 1866 etwa die Schlacht von Königgraetz eben doch zugunsten Österreichs ausgegangen wäre oder 1870 in Frankreich man sich mit dem großen diplomatischen Triumph, nach den Maßstäben der Zeit, mit der Emser Depesche zufrieden gegeben hätte und es dabei belassen hätte und sich nicht blindlings in diesen Krieg gegen den Norddeutschen Bund und Preußen und ganz Deutschland gestürzt hätte. Und viele Schlachten sind oft um Haaresbreite nur so ausgegangen, wie sie ausgegangen sind."

Markante Ereignisse, allen voran gewonnene Schlachten, wurden idealisiert, Beteiligte heroisiert. So wurden Mythen generiert, aus denen Historiker eine Geschichtserzählung webten, einen nationalen Text. Geschichtsschreibung und Nationalismus gingen in diesen Jahren weitgehend Hand in Hand. Man konstruierte eine glorreiche Vergangenheit als Wechsel auf eine erst recht glorreiche Zukunft.

Nach 1870 verhärtet sich der deutsche Nationalismus

"Nach 1870 im deutschen Fall lässt sich doch sehr deutlich feststellen, dass sich der Nationalismus verhärtet. Er wird, wenn man so will, rechter, konservativer, ausschließender. Diese Vorstellung, dass Deutschland eine Nation unter vielen ist, weicht doch in nicht unerheblichen Teilen des Bürgertums der Vorstellung, dass Deutschland eine besondere Nation sei, die ein besonderes Vorrecht habe gegenüber anderen", sagt Christoph Jahr.

"Diese Verhärtung, Radikalisierung des Nationalismus, denke ich, lässt sich doch sehr deutlich zeigen, auch die Feinderklärung gegen damalige Minderheiten, also gegen die Katholiken im Deutschen Reich, gegen die Arbeiterbewegung, gegen die Juden."
Eine historisches Porträt von Richard Wagner aus dem Atelier Franz Hanfstaengl in München, aufgenommen von Edgar Hanfstaengl vermutlich 1871/1872.
Die Ideologie des Nationalismus wurde auch durch Kunst und Kultur genährt - Richard Wagner komponierte einen Kaisermarsch.© imago images / Heinz Gebhardt / Edgar Hanfstaengl
Die Idee, der Geist, die Ideologie des Nationalismus werden nicht nur durch politische Reden und Aktivitäten ins Volk getragen, sondern auch durch Kunst und Kultur, in allen zur Verfügung stehenden Medien – seien es die Wände einer Schulaula, Konzerthallen, Museen, Theater oder Opernhäuser, inszenierte Festivitäten, literarische Klubs oder Gesangsvereine.

Christoph Jahr: "Dann gibt es etwa ganz konkret ein Triumphlied von Johannes Brahms, das er anlässlich der Reichseinigung komponiert, oder von Richard Wagner einen Kaisermarsch, es werden unendlich Gedichte produziert, Romane, Erzählungen, Theaterstücke produziert, das heißt, das verbreitet dieses Gedankengut dann in weiten Teilen der Bevölkerung."

Die Franzosen schießen nach der militärischen Niederlage, wenn man so will, im Feld der Künste zurück. So gründet der Komponist Camille Saint-Saens 1871 zusammen mit César Franck die Societé Nationale de Musique. Für das Gründungskonzert komponiert Saint-Saens einen Heroischen Marsch für zwei Klaviere.

Im Gedenken spielt der 18. Januar keine Rolle

Erstaunlich ist: Der 18. Januar, der Tag der Kaiserproklamation, spielt im Feiertagsgedächtnis des Deutschen Reichs dann keine herausragende Rolle, viel mehr der Sedan-Tag: der wurde zu einer Art inoffiziellem Feiertag – was noch einmal bezeugt, wie prägend der Waffengang gegen Frankreich, der Sieg auf dem Schlachtfeld, für die Identitätsbildung der deutschen Nation war. Carl Zuckmayer lässt in seinem "Hauptmann von Köpenick" den patriotischen Gefängnisdirektor nicht die Kaiserproklamation nachspielen, sondern die Sedanschlacht.

Nur einmal, 1896, am 25. Jahrestag der Kaiserproklamation, wird der 18. Januar groß in Szene gesetzt mit reichsweiten Feiern, Paraden, Illuminationen. In Berlin nutzt Wilhelm II. den Anlass für eine Glorifizierung der Dynastie der Hohenzollern, um sich selbst in die Tradition der Reichsgründer zu stellen.

75 Jahre später, anlässlich der 100. Wiederkehr jenes Ereignisses, schrieb Herausgeber Rudolf Augstein im "Spiegel": "Mir scheint, das Deutsche Reich, 1870/71 gegründet, ist 1970/71 gestorben."

Die Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt hatte im Sommer 1979 zu Verträgen der Bundesrepublik mit Polen und der Sowjetunion über die Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg und die "Unverletzlichkeit der Grenzen" geführt. Faktisch bedeutete das die Aufgabe der östlichen Gebiete Preußens im ehemaligen Deutschen Reich.

Daraufhin verkündete Rudolf Augstein im Januar 1971 pünktlich zum Jahrestag der Reichsgründung den endgültigen Tod des Deutschen Reichs: "Es war schon längst untergegangen, aber was in den Wünschen und Herzen der Menschen lebt, ist nicht tot. Seit eine frei gewählte deutsche Regierung Deutschlands Ostgrenzen und den zweiten deutschen Staat anerkannt hat, ist alle Luft aus den Illusionen heraus. 100 Jahre sollst du leben! Das Bismarck-Reich erst als Realität, dann als Reise in die Vergangenheit, dann als Illusion ist genau 100 Jahre alt geworden. Im Jahr 1970 ist es dahingeschieden."

Deutscher Nationalstaat wird 1990 erneut ausgerufen

Am 3. Oktober 1990 wird der deutsche Nationalstaat dann wieder ausgerufen – ohne Schlacht und Demütigung eines Gegners, daheim in Berlin, vor dem Reichstagsgebäude, mit Bevölkerung, ohne Hofmaler, Hofprediger und Hohenzollern, Republik statt Reich.

"Auf den ersten Blick könnte man denken, die haben gar nichts miteinander zu tun, denn, und das ist ja sehr positiv, die deutsche Nationalstaatsgründung, Neugründung, Wiedervereinigung – wie immer man das nennen will - 89 /90 ist vom ersten Tag an in die europäische Ordnung eingebunden", sagt Christoph Jahr.

"Und der zweite wichtige Punkt, der anders ist, ist natürlich, dass die deutsche Einigung 1989/90 demokratisch legitimiert ist. Das sind große Unterschiede. Was aber eine doch durchaus starke Ähnlichkeit ist, ist dass doch letztlich das Zustandekommen dieser Vereinigung wieder sehr technokratisch abläuft. Und es ist im Grunde ein ähnlicher Prozess. Das heißt: Es gab keine verfassungsgebende Nationalversammlung."

Weder 1870/71 noch 1989/90 wurde das Volk, das da vereinigt wurde, die Deutschen, nach dem Ob und Wie der Vereinigung und des neuen Staatswesens gefragt.

"Vielleicht wären die Vereinigungsschmerzen tatsächlich geringer, wenn es diese Nationalversammlung, in welcher Form auch immer, gegeben hätte, um klar zu machen: Hier tritt nicht einfach ein Territorium, das eben doch 40 Jahre eine eigene Geschichte hatte, einem anderen Territorium bei, das dann auch noch dominiert, ähnlich stark dominiert wie Preußen im Deutschen Kaiserreich", mutmaßt Christoph Jahr.

Vielleicht hätte das auch den nun, nach 150 Jahren, wieder aufgekommenen, durch und durch geschichtsvergessenen Hohenzollern- und Preußen-Revival-Versuchen etwas den Wind aus den Segeln genommen.

Wer weiß, wie die Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Reichsgründung am 18. Januar 2071 aussehen werden.

Literaturhinweis:
Christoph Jahr: "Blut und Eisen. Wie Preußen Deutschland erzwang"
C.H. Beck-Verlag, München 2020
368 Seiten, 26,95 Euro

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