Der Daumen schüttelt die Pflaumen

Von Udo Pollmer · 13.09.2009
Die deutschen Obstbauern freuen sich auf eine Rekordernte – 70.000 Tonnen Pflaumen, Mirabellen, Reneclauden oder Zwetschgen warten darauf, verspeist zu werden.
Heute kann man ja nicht mehr unbefangen irgendetwas essen, wenn es nicht vor irgendeiner Krankheit schützt? Was wird denn den Pflaumen so nachgesagt?
Bei so ziemlich allen Krankheiten, die eine gewisse Medienpräsenz zeigen, gibt's eine hübsche Theorie, warum Pflaumen einfach helfen müssen. Das neueste sind Gedächtnisstörungen bei senilen Ratten. Wenn da was dran sein sollte, dann ist es vermutlich der Zuckergehalt, der die Hirne auf Trab bringt. Derzeit stehen Trockenpflaumen gegen Osteoporose hoch im Kurs. Tierversuche bestätigen sogar eine solche Wirkung. Welche Inhaltsstoffe dafür verantwortlich sein sollen, ist nicht ganz klar. Die einen sprechen von phenolischen Verbindungen. Gemeint sind offenbar Stoffe mit östrogenartiger Wirkung. Die anderen favorisieren den Gehalt an Bor. Aber hier ist viel Spekulation im Spiel und wer unbedingt Bor im Essen haben will, kann es sich auch in Form eines Zusatzstoffes einverleiben: Als Borat - das nimmt man, um russischen Kaviar haltbar zu machen.

Nun ist ja bekannt, dass Pflaumen, vor allem Trockenpflaumen der Verdauung auf die Sprünge helfen? Komischerweise interessiert sich die Fachpresse nicht für die allseits bekannte abführende Wirkung. Pflaumen enthalten reichlich unverdaulichen Sorbit, in Trockenpflaumen sind es sogar 15 Prozent! Der bindet Wasser und sorgt für Blähungen. Dies liegt auch im Interesse des Baumes. Denn so bleibt dem Fraßfeind keine Zeit, Verdauungstechniken zu entwickeln, die den Kernen an den Kragen wollen. Und die Kerne, also das Saatgut des Pflaumenbaumes werden von der Wildsau oder dem Dachs eilends mit dem nächsten Düngerhaufen abgesetzt.

Das heißt, der Sorbit sorgt für den süßen Geschmack – ist aber dennoch nicht verdaulich? Ja, irgendwomit muss die Pflanze den Appetit locken. Wäre es nur schlecht verdaulicher Sorbit, dann würde die Tierwelt schnell das Interesse verlieren, aber es ist ja auch noch etwas Zucker drin. Und dann hat man noch was in erstaunlicher Menge in Pflaumen gefunden, was die Fachleute vor ein Rätsel stellt: Ein Hormon, von dem man dachte, dass es nur der tierische Organismus produziert: das Ghrelin. Dieses Hormon stimuliert beim Menschen, aber auch bei Schweinen oder Vögeln den Appetit. Vielleicht will der Baum damit den Appetitverlust durch den hohen Sorbitgehalt ausgleichen, vielleicht hat der Stoff in der Pflanze noch ganz andere Funktionen, die wir bisher nicht kennen.

Besonders beliebt war früher Pflaumenmus, auch Latwerg genannt. Die böhmische Küche war für ihr Powidl berühmt. Wie wurde das hergestellt? Die Pflaumen wurden entsteint, durch den Wolf gedreht und langsam über viele Stunden in großen Kesseln immer weiter eingedickt, bis die Masse dunkel und so zäh war, dass der Löffel drin steckenblieb. Die Kessel stammten meistenteils aus der Waschküche. Am Schluss kam noch etwas Zucker und ein wenig Zimt hinein. Da das Verfahren sehr energie- und arbeitsaufwendig ist, und außerdem vielen Nährstoffen den Garaus macht, muss da noch etwas anderes dahinterstecken. Hier würde die Suche nach Stimmungsbeeinflussenden Inhaltsstoffen lohnen. In der Tat enthalten Pflaumen sogenannte Biogene Amine wie den Botenstoff Serotonin, der ist im Gehirn für gute Laune zuständig. Vielleicht reagieren ja ein paar Amine mit dem Sorbit. Sorbit ist ein Ausgangsstoff zur Herstellung von Polyurethan, also dem Kunststoff. Die einfachste Version vom Polyurethan, das Urethan selbst, wurde früher als Betäubungsmittel eingesetzt, unter seinen chemischen Verwandten finden sich Hypnotika und Schlafmittel. Doch es fehlen Analysen darüber, was da genau im Mus drin ist.

Dann wär's doch effektiver gleich Slibovitz daraus zu brennen? Deshalb ist das ja auch eines der wichtigsten Pflaumenprodukte. Slibovitz kann übrigens erkleckliche Gehalte an Urethan aufweisen. Die Bildung von Urethan wird hier auf die Anwesenheit von Blausäure aus den Kernen und die Verwendung von Kupferkesseln zurückgeführt. Im Tierversuch ist der Stoff eindeutig krebserzeugend, weshalb er auch als Medikament aus der Mode gekommen ist. Andererseits hat sich herausgestellt, dass der Alkohol im Tierversuch vor Urethan schützt. Dennoch ist es zu begrüßen, dass sich die Brennereien seit Jahren bemühen, die Gehalte an Urethan in ihren Getränken zu senken. Prost!

Literatur:
Waddell WJ et al: Inhibition of the localization of urethane in mouse tissues by ethanol. Food & Chemical Toxicology 1987; 25: 527-531
Deyhim F et al: Dried plum reverses bone loss in an osteopenic rat model of osteoporosis. Menopause 2005; 12: 755-762
Aydin S et al: Ghrelin in plants: what is the function of an appetite hormone in plants? Peptides 2006; 27: 1597-1602
Stacewicz-Sapuntzakis M et al: Chemical composition and potential health effects of prunes: a functional food? Critical Reviews of Food Science and Nutrition 2001; 41: 251-286
Shukitt-Hale B et al: Plum juice, but not dried plum powder, is effective in mitigating cognitive deficits in aged rats. Nutrition 2009; 25: 567-573