Der das Krokodil verscheuchte

21.05.2010
Ende der 60er-Jahre bricht der 17-jährige Helge Timmerberg nach Indien auf. Ein Hippie auf seiner ersten großen Reise. Mit dem Zug fährt er von Istanbul nach Kurdistan. So jedenfalls kann man es in den Reiseschilderungen "Der Jesus vom Sexshop" nachlesen und in der nun im Argon Verlag erschienenen Lesefassung nachhören – gesprochen vom Autor selbst.
In einem Kleinbus wird Helge Timmerberg von vier Kurden nach seiner Meinung zu Mohammed gefragt:

"[...] ich hatte gerade ein enorm psychedelisches Jahr hinter mir, indem ich unter dem Einfluss von LSD Hermann Hesse gelesen hatte, und antwortete in einem Englisch, das dem ihren nicht so unverwandt war: 'Mohammed, holy man. But Jesus same same. And same same auch Buddha. We all same same. Understand?' Sie verstanden das zwar, auch inhaltlich, waren aber anderer Meinung und behielten aus eigener Kraft heraus recht. Wir waren nicht alle eins und nicht alle gleich. Wir waren uns nicht mal ähnlich. Ich zum Beispiel hätte niemals versucht, die Diskussion mit einem Rausschmiss aus dem Minibus zu beenden, die Kurden schon."

Der arme Helge Timmerberg allein im Schneegestöber, aber nicht ganz allein. Denn die Wölfe heulen schon. War es wirklich so? Das ist bei dem heute 58-jährigen Helge Timmerberg nicht so wichtig. Denn der Journalismus, wie er ihn betreibt, ist sehr stark von seiner persönlichen Sichtweise und seiner Fantasie geprägt. Was zählt, ist der Unterhaltungswert der Geschichte, die am Ende herauskommt. Die Pointen sitzen, und seine "Stories von unterwegs" überzeugen besonders, wenn sie tragikomisch sind - wie in jenem Bericht, den der gebürtige Hesse Timmerberg auf seiner Reise mit Goldsuchern in Brasilien hört:

"Ein Marketender hatte mit seinem schwimmenden Laden hier vor Tagen angelegt und einem Goldsucher das Tau zugeworfen, damit er es an einem Baumstamm festmacht. Der Goldsucher rief, der Händler könne ihm am Arsch lecken. Auf die Frage, ob es auch der Arsch seiner Freundin sein dürfe, hat der Goldsucher sofort geschossen. 'Wo ist der Mann jetzt?', fragte ich. 'Im Fluss.'"

Wie Thaiboxer in Bangkok gedrillt werden, wie in Nordkorea die Menschen im Gleichschritt marschieren, wie im Hamburger Sexshop sich der Verkäufer barmherzig wie Jesus um die verklemmten Kunden kümmert und wie der jugendliche Helge selbst eine Lehre in der Textilindustrie abbricht und lieber mit Drogen experimentiert – all das erzählt Timmerberg in seinem gekonnt schnoddrigen Ton. Nie verliert er den Blick für das Absurde. Und für die Gefahr - so auch, als das Kanu der Goldsucher in Brasilien unterzugehen droht:

"Vier Männer strampelten mit den Beinen im Fluss und hielten sich am Kanu fest. Und drei von ihnen bekreuzigten sich dabei. Ich nicht. Ich hatte nichts gesehen. Ich hatte nur etwas gefühlt, war mit dem Fuß gegen irgendetwas gestoßen, als ich ins Wasser fiel, mehr nicht. Und es war auch gleich weg. 'Hinter dir!' schrie Rambozona. 'Hinter dir!' Als ich mich umdrehte, sah auch ich endlich das Krokodil. Es peitschte den Fluss mit seinem Schwanz, es flüchtete vor mir. Wieso das denn? Rambozona, der inzwischen wieder lachte, erklärte es mir: 'Krokodile sind es nicht gewohnt, dass ihr Essen auf sie springt. Hast du ein Glück!'"

Glück habe er damals nicht empfunden, denn seine Zigaretten seien nass geworden. Machosprüche gehören zu Timmerberg dazu. Auf seinen Reisen stellt er eine Rangliste jener Länder und Städte auf, die seiner Meinung nach die schönsten Frauen zu bieten haben. Ganz oben auf der Liste: die Frauen von Tel Aviv. 1992 reist Timmerberg in die Stadt und gerät an den Taxifahrer Joshi, der ihn für Klaus Kinski hält:

"Ich fragte Joshi, wie er auf so einen Scheiß kommt. 'Du siehst aus wie Klaus Kinski. Du sprichst Englisch wie Klaus Kinski.' - 'Aber ich bin nicht so tot wie Klaus Kinski.' - 'Hör mal, Klaus, damit scherzt man nicht.' Ich scherzte keineswegs. Kinski war im Jahr zuvor gestorben. Ich hatte selbst darüber geschrieben. Als ich Joshi das sagte, wurde er still. Er war betroffen, nein, traurig. Er hatte ein halbes Jahr zu spät von dem Tod erfahren und er war, wie es schien, ein Klaus-Kinski-Fan. Ich ließ ihn Abschied nehmen und sah schweigend aus dem Fenster. Etwa zu dem Zeitpunkt, als wir die Auffahrt zur Stadtautobahn erreichten, begann Joshi wieder zu lachen: 'Alles klar, Klaus! Ich bin doch tatsächlich für einen Moment darauf reingefallen. Ich habe einfach vergessen, dass du Schauspieler bist.'"

Ein ausgebildeter Schauspieler ist Helge Timmerberg nun wirklich nicht. Und nicht selten spricht er ein Wort so undeutlich aus, dass man es erst beim zweiten Mal hören versteht. Das verzeiht man ihm aber. Denn so spricht er nun mal. Und genau diese coole, vom Leben geprägte Stimme macht den großen Charme des Hörbuchs aus. Und mit dieser Stimme gewann er auch das Herz einer schönen Drogendealerin im brasilianischen Urwald:

"Wenn alle Bäume des Amazonas Schreibfedern wären
und all seine Flüsse wären Tinte
und alle, aber wirklich alle Blätter des Regenwaldes
wären nur ein Stück Papier,
es würde nicht reichen,
um deine Beine zu beschreiben."

Besprochen von Tobias Wenzel

Helge Timmerberg: Der Jesus vom Sexshop. Stories von unterwegs
Argon Verlag, 2010
4 CDs, 309 Minuten, 19,95 Euro