Der Clown als Tiefenpsychologe

Von Jörn Florian Fuchs |
Werther kommt hier als Villazón-Kopie mit Clownsdouble daher. Die Mischung aus Herz, Schmerz, Schmelz und gelegentlichem Scherz beim Regiedebüt des Opernsängers Rolando Villazón an der Opéra de Lyon geht zeitweise unter die Haut.
Also doch. Das ist er. Klar! Natürlich singt er doch höchst selbst. Ein Raunen und Staunen geht durchs Publikum, als der liebeskranke Briefeschreiber Werther erstmals die Bühne betritt. Und Villazón macht seine Sache gut, er spielt gewohnt emphatisch und singt dazu auch noch recht ordentlich, bisweilen sogar überragend. Und doch stimmt da etwas nicht. Nicht nur die Stimme klingt anders, nämlich etwas verhaltener und gezügelter als sonst, nein irgendwie wirkt der Mann da auf der Bühne zwar wie eine gute, aber doch klar erkennbare Villazón-Kopie. Und dann steht im Programmheft unter "Werther" auch noch der seltsame Name Arturo Chacón-Cruz.

Da hat sich also der Regiedebütant Rolando Villazón tatsächlich ein Double geschaffen, an dem er nun all jene Pathosgrammatik ausprobieren darf, für die er berüchtigt ist. Aber nicht nur im Werther spiegelt sich der Regisseur, im Prinzip sind alle Figuren irgendwie ein bisschen Rolando. Gern gibt selbiger ja den Clown und wirkt immer wie ein großes Kind – also bevölkern diverse Kinder und Clowns die Szenerie.

Jules Massenet und seine Librettisten hatten bei ihrer Bearbeitung von Goethes Briefroman eigentlich ein auf die Hauptfiguren fokussiertes Musiktheater im Sinn, als Kontrast dürfen öfters ein paar Kinder das düstere Seelendrama mit einigen hübschen (Weihnachts)Liedchen auflockern. Bei Villazón gibt es reichlich Nebenpersonal, das man bisher nicht kannte.

Werther und seine Angebetete Charlotte werden sowohl durch Kinder wie durch Clowns ergänzt, die mal die Handlung gleichsam unterfüttern, mal eigenständig agieren. Diese Spieglungen, Verdoppelungen fügen dem Geschehen in den besten Momenten eine tiefenpsychologische Dimension hinzu. Werthers trauriges Clownsdouble sitzt dabei meist in einer weißen Voliere. Der melancholische Pierrot verlässt sie nur zeitweise, um sich bald wieder dorthin zurückzuflüchten. Ein Käfig als Psyche Werthers: Gegen Ende bricht die filigrane Konstruktion ebenso zusammen wie die seelische Verfassung ihres Bewohners.

Stilistisch bietet der Abend eine Mixtur aus kalten, weißen Räumen und eher bunten Kostümen, etwas unentschieden schwankt die Inszenierung dabei öfters zwischen französischer Regieästhetik mit feinen Lichtstimmungen und einer sehr geordneten Raumdramaturgie sowie etwas überkandideltem Zotentheater italienischer Provenienz.

Während sich die beiden ersten Akte streckenweise ein wenig ziehen, entstehen nach der Pause doch etliche starke Momente. Zwar verführt einen die konsequent ausschweifende Gestik der Titelfigur zu unfreiwilligem Schmunzeln, doch geht die Mischung aus Herz, Schmerz, Schmelz und gelegentlichem Scherz zunehmend auf – und unter die Haut. Das liegt auch am Dirigat von Leopold Hager, der das Lyoner Opernorchester nach etwas fahrigem Beginn zunehmend besser im Griff hat.

Karine Deshayes (Charlotte) ist zwar nicht immer ganz höhensicher, macht diesen Umstand aber durch anmutiges Spiel wett. Exzellent besetzt sind die kleineren Partien: Lionel Lhote gibt Werthers Herausforderer Albert mit satten Baritontönen, Anne-Catherine Gillet (als Charlottes jüngere Schwester Sophie) entzückt nicht nur vokal mit sehr sinnlichem Jungmädchencharme.

Das Publikum zeigte sich enthusiasmiert, Villazón hüpfte und sprang beim Schlussapplaus herum wie Kind oder Clown oder, anders gesagt, wie immer.