"Der Bürgerkrieg endete nicht 1939, sondern 1981"

Javier Cercas im Gespräch mit Sigrid Brinkmann · 02.06.2013
Schriftsteller Javier Cercas beschreibt Bürgerkrieg als eine Art Nationalsport Spaniens. Seine Generation habe aber nicht mehr über diesen Krieg sprechen wollen. Er sei der erste seiner Generation gewesen, der darüber geschrieben habe.
Brinkmann: Seit 1998 lädt der S. Fischer Verlag zusammen mit dem DAAD und dem Veranstaltungsforum der Holtzbrinck-Verlagsgruppe jeweils für ein Semester eine Autorin bzw. einen Autor ein, an der Freien Universität Berlin Gastvorlesungen zu halten. In diesem Frühjahr und Sommer ist der spanische Schriftsteller Javier Cercas in Berlin, um mit Studenten das poetische Werk des Argentinischen Jorge Luis Borges zu erforschen. Berühmt wurde der heute 50 Jahre alte Autor 2002 mit "Soldaten von Salamis". Zuletzt erschien sein Buch "Anatomie eines Augenblicks". Darin rekonstruiert er minutiös, was am 23. Februar 1981 im spanischen Parlament passierte, als schwer bewaffnete Putschisten in die Abstimmung über den neuen Ministerpräsidenten platzten und zu schießen begannen. Ein historischer Roman ist es nicht geworden. Javier verabscheut dieses Genre. Ich habe ihn gefragt, warum?

Cercas: Ich weiß nicht genau, was historische Romane sein sollen. Geschichtswissenschaftler suchen die historische Wahrheit und Romanschriftsteller eine poetische, eher abstrakte Wahrheit oder auch eine moralische. Es stimmt, dass meine jüngeren Bücher sich auf geschichtliche Ereignisse beziehen, aber im Grunde geht es um unsere Gegenwart. Manchmal kann man ja schon das Gefühl haben, wir stünden unter dem absoluten Diktat der Gegenwart. Die Leute denken, dass sich die Wirklichkeit nur mit der Gegenwart erklären ließe, aber das stimmt eben nicht. Die Vergangenheit ragt in die Gegenwart hinein. William Faulkner schrieb (in "Requiem für eine Nonne"): "Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. ... Mich interessiert das dialektische Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart.

Brinkmann: Für Sie hat damals am 23. Februar 1981 die Demokratie versagt. Im Vorwort zu "Anatomie eines Augenblicks" erinnern Sie an die unheimliche Stille in den Straßen: "das Land zog sich in die eigenen vier Wände zurück und wartete ab". 25 Jahre später schildern die spanischen Medien den Tag als grandiosen Triumph der Demokratie. Wie blicken die Spanier heute auf diesen Tag und die Ereignisse von damals?

Cercas: Ich weiß nicht genau, wie die Leute darüber denken. Einerseits kann man das Geschehen als totales Versagen werten, andererseits als Triumph feiern. In jedem Fall sieht jeder Spanier dieses Ereignis als einen Wendepunkt an. Und das ist es in der Tat. Mit dem Putsch begann die Demokratie. Er beendete die Phase der transición, des Übergangs. Im Nachkriegs-Spanien, im Spanien nach Franco, herrschte kein gesellschaftlicher Frieden. Der Bürgerkrieg endete nicht 1939, sondern 1981. Unser Nationalsport ist nicht der Fußball, sondern der Bürgerkrieg! Und wenn der nicht möglich ist, dann eben ein Staatsstreich. Ja, die Demokratie ist in der modernen Geschichte etwas durchaus Seltsames.

Brinkmann: Es gibt in Spanien den Begriff der Memoria-Literatur, die sich mit dem Spanischen Bürgerkrieg und der franquistischen Ära befasst. Rechnet man auch Literatur dazu, die auf die Phase der transición schaut - die Wiedereinführung der Demokratie nach 1975?

Cercas: Vermutlich ja. Was ich für meine Generation aber mit Sicherheit sagen kann, ist, dass wir nicht über den Bürgerkrieg sprechen wollten, damit waren wir absolut fertig! Wir wollten postmodern sein, die Dinge so anpacken wie Pedro Almodóvar es in seinen Filmen tat. Als ich dann 2002 meinen Roman "Soldaten von Salamis" veröffentlichte, war ich der erste Schriftsteller meiner Generation, der den Bürgerkrieg anging. Es gibt darin die Figur eines jungen Mann meines Alters, für den der Bürgerkrieg so weit zurück liegt wie die Seeschlacht von Salamis, bei der die Griechen 480 vor Christus die Perser besiegten. Der Roman wurde ein Riesenerfolg in Spanien. Danach gingen auch andere Autoren meiner Generation den Bürgerkrieg in Fiktionen an. Es ist doch so, wir Menschen lieben den Krieg, diese Momente absoluter Anspannung, in denen wir herausfinden, wer wir sind. Extreme politische und persönliche Kräfte genauer zu betrachten, ist einfach spannend.

Brinkmann: Jorge Luis Borges, den Sie verehren, formulierte die Überzeugung, dass jedes Schicksal, wie verschlungen es auch sein mag, in Wirklichkeit in einem einzigen Augenblick besteht; dem Augenblick, in dem der Mensch für immer weiß, wer er ist. Sie haben ganz offenkundig eine Leidenschaft für Momente, in denen eine Person sich selbst und ihre Wahrheit erkennt. Sie haben eben über "Soldaten von Salamis" gesprochen, in dessen Zentrum u.a. ein Mann steht: Antoni Miralles, katalanischer Kommunist, der in Dijon seine letzten Tage verbringt, dort hin ins Exil geraten ist. Er war derjenige, der verschont, der versteht und der verzeiht. Wie finden Sie diese Menschen, für die es ja ein reales Vorbild gab?

Cercas: Es gibt diese wirklich bedeutungsschweren Augenblicke in der Geschichte, die für das Land und das Volk gleichermaßen wichtig sind. In "Soldaten von Salamis" und "Anatomie eines Augenblicks" seziere ich sie, aber es ist nicht so, dass ich diese Augenblicke, in denen sich Geschichte verdichtet, suche. Ich bin allerdings fasziniert von Bildern, die Fragen aufwerfen. Jemand erzählte mir von Rafael Sanchez Mazas: Er war Poet und Journalist, Ideologe der faschistischen Falange-Partei und Minister unter Franco.

Während der Kämpfe wurde Sanchez Mazas verwundet. Er konnte in einen Wald fliehen. Republikanische Milizionäre waren hinter ihm her. Und einer fand ihn. Anstatt ihn umzubringen oder gefangen zu nehmen, ließ er Sanchez Mazas laufen. Der Republikaner sah dem Gegner in die Augen und entschied, ihn nicht zu töten. Da will man doch wissen, warum? Wer war dieser Mann?

In "Anatomie eines Augenblicks" befinden wir uns im Jahr 1981, sechs Jahre nach Francos Tod, und wir meinen, wir seien moralisch gestärkt, wir seien Europäer, blablabla ... In dem Moment, wo der neue Premierminister gewählt werden soll, stürmt ein Trupp der Guardia Civil das Parlament und beginnt zu schießen. Die Bewaffneten zwingen die Abgeordneten, sich auf den Boden zu werfen. Drei weigerten sich. Und das Fernsehen filmte den Putsch. Drei Männer brachten sich nicht in Deckung, darunter der scheidende Premierminister, der alles andere als ein herausragender Typ war.

In "Soldaten von Salamis" und "Anatomie eines Augenblicks" haben wir es mit Männern zu tun, die "Nein" sagen. Einer weigert sich, jemanden zu erschießen. Die anderen lehnen es ab, sich in Sicherheit zu bringen. Was ist ein Rebell? Mit Albert Camus kann man antworten: eine Person, die "Nein" sagt. Meine Helden sagen "Nein". Und dabei entdecken sie sich selber.

Brinkmann: In einem Nachruf auf den spanischen Soziologen und Schriftsteller José Luis Sampedro, der sich als Konservativer verstand und doch so etwas wie einer Vaterfigur der spanischen Bürgerbewegung wurde, war die Rede davon, dass die jüngere Generation sich nicht mehr um das Rechts-Links-Schema kümmere - anders als die Eltern. Sind die Zeiten definitiv vorbei, in denen man in eine "politische Überzeugung hineingeboren" wurde?

Cercas: Also das vorweg: Ich glaube, dass es Rechts und Links in der Politik gibt! Diese jungen Protestierenden verkörpern für mich Hoffnung, denn wonach sie verlangen, das ist eine wirkliche Demokratie. Das Problem existiert ja nicht nur in Spanien, aber wir haben wirklich nur eine Parteien-Demokratie, und die hat sich alle Macht angeeignet.

Die Parteien müssen sich dringend den jungen Leuten öffnen. Von den Politikern erfüllt keiner die Aufgaben, für die er gewählt wurde. Gleichzeitig ist die Krise ja längst eine europäische. Der Punkt ist nur: Die europäische Union ist die einzig vernünftige Utopie, die wir umgesetzt haben. Und jetzt kann man nicht daher gehen und sagen, wir wollen sie nicht mehr, bloß weil die Dinge sich schlecht entwickeln und die Reichen sich nur mit ihres gleichen zusammen tun und die Armen genauso. Die Krise in Spanien ist nicht nur eine spanische Angelegenheit, sondern auch das Ergebnis einer europäischen Krise.

Brinkmann: Der spanische Schriftsteller und Journalist Javier Cercas. Zur Zeit hat er die Samuel-Fischer-Gastprofessur an der Freien Universität Berlin. Man kann ihn jeden Mittwoch von 18-20 Uhr im Peter Szondi-Institut hören. Die erste Einladung ging 1998 an den russischen Autor Vladimir Sorokin. Das 15. Jubiläumsjahr seit der Schaffung der Gastprofessur feiern der Fischer Verlag, Holtzbrinck und der DAAD am 4. Juni im Berliner Ensemble mit einer Lesung von Vladimir Sorokin.