"Der blaue Engel war ein Stück gelungenes Entertainment"

Moderation: Jürgen König · 01.04.2005
Vor 75 Jahren wurde der Film "Der blaue Engel" mit Marlene Dietrich und Emil Jannings in den Hauptrollen uraufgeführt. Der Filmhistoriker Wolfgang Jacobsen führt den Erfolg des Films zur damaligen Zeit einerseits auf die bis dahin nicht so angesprochene Erotik im Film zurück und andererseits auf den Mythos der Schauspielerin Marlene Dietrich.
König: Heute vor 75 Jahren wurde der Blaue Engel im Berliner Gloriapalast uraufgeführt. Wie der Film gewirkt hat und vielleicht immer noch wirkt, darüber sprechen wir mit dem Filmhistoriker Wolfgang Jacobsen, ich freue mich sehr.

Jacobsen: Hallo, guten Tag.

König: "Eine Sternstunde in der Kulturgeschichte der Weimarer Republik, einer der erfolgreichsten und bekanntesten deutschen Filme, ein Mythos, ein Meilenstein, das Immergrün der Sonntagsmatinée - das alles und noch viel mehr ist der Blaue Engel". Teilen Sie diese Euphorie Ihres Fachkollegen Sudendorff?

Jacobsen: Ich sollte sie eigentlich fairerweise teilen, obwohl man das vermutlich auch ein bisschen differenzierter sehen kann. Ich habe immer bei dem Begriff Mythos eine Hemmschwelle zu überwinden. Man sollte sich einfach mal mit der Rezeptionsgeschichte beschäftigen, sie ist ein bisschen differenziert, nicht nur Akklamation gewesen bei der Uraufführung und auch im Nachhinein nicht, sondern der Film hat seinen Weg gemacht durch die Filmgeschichte und hat auch nach wie vor natürlich seinen Platz dort.

König: Rekapitulieren wir doch zu Beginn unseres Gesprächs kurz die Handlung des Films: Emil Jannings spielt einen Gymnasiallehrer, nach damaligem Brauch Professor genannt, das ist ein tadelloser, sittsamer, nennen wir ihn ruhig einen Don Quijote der wilhelminischen Gesellschaft. Der gerät in die Fänge seiner Schüler, lässt sich von ihnen in die Bar "Der Blaue Engel" locken. Dort lernt er die Barsängerin Lola Fröhlich kennen und er verändert sich, er erniedrigt sich vollständig dieser Frau, dieser feschen Lola zu Liebe, gespielt von Marlene Dietrich. Welchen Nerv traf diese Geschichte, dass sie damals ein solcher Erfolg werden konnte?

Jacobsen: Es ist sicherlich so etwas wie eine bis dahin nicht so angesprochene Erotik im Film, die eine große Rolle spielt: Ein tadelloser Bürger gerät in die Fänge einer femme fatale, verliebt sich bis über beide Ohren, gibt das bürgerliche Leben auf, also ein Sturz ins Nichts, der letztendlich im Film ja auch mit seinem Tod endet. Der Mann verliert sich. Und das trifft möglicherweise in der Weimarer Republik auch einen Zeitnerv, weil es war eine aufgewühlte Zeit, politisch und gesellschaftlich, und es mag so gewesen sein, dass dieser Film wie ein Spiegel funktioniert hat für viele Besucher, wenn auch nicht nur. Man darf das nicht überinterpretieren, sondern es war natürlich auch ein Stück gelungenes Entertainment, ganz schlicht.

König: Ein deutscher Gymnasialprofessor, der Anstand und Würde hinter sich lässt, das hätte auch schief gehen können beim Publikum, dass die sagen, nein, sowas wollen wir nicht sehen, zumal ja auch Lola alles andere als das Vorbild einer deutschen Frau aus damaligem Zeitverständnis war.

Jacobsen: Das ist sicherlich bei einem Teil des Publikums auch schief gegangen, wenn man sich etwa die zeitgenössischen Pressereaktionen ansieht, gibt es sehr viele sehr positive, enthusiastische Besprechungen, aber auch Ablehnung die vor allen Dingen von der Hugenberg-Presse, rechtskonservativ eingestellt, formuliert worden ist und es hat im Vorfeld und zur Premiere ja auch einen kleinen Skandal gegeben, der initiiert worden ist von einem Autor des 12-Uhr-Blatts, Friedrich Hussong, der gegen den Film polemisiert hat und zwar über den Umweg gegen den linken Autor Heinrich Mann.

König: "Der Blaue Engel" war eine der letzten freien Produktionen der Ufa, bevor die dann 1933 gleichgeschaltet wurde, im selben Jahr wurde der Film auch verboten. Welche Wirkung konnte der Film trotzdem oder vielleicht auch gerade wegen des Verbots entfalten, in Deutschland zumindest?

Jacobsen: Es gab sehr früh eine perfide antisemitische Kritik gegen den Film, schon im Juli 1930 im "Völkischen Beobachter" erschienen in der Münchener Ausgabe. Zu der Zeit gab es in München eine Lehrertagung und in diesem Zusammenhang ist der Film aufgeführt worden und war Anlass für den Kritiker des "Völkischen Beobachter", eine antisemitische Hetze zu schreiben, auch im Hinblick auf die Beteiligten des Filmes, von denen ja viele nach 1933 in die Immigration gegangen sind.

Insofern war der Film von Anfang an umstritten, ist dann ja verschwunden und ich glaube, dass der Mythos, der sich dann über den Film gelegt hat und den der Film auch gebildet hat, zu tun hat mit der Schauspielerin Marlene Dietrich, die in Amerika eine Karriere gemacht hat und dieser Film sozusagen auch der Ausgangpunkt ihrer Karriere gewesen ist, wenngleich er auch nicht ihre erste Filmrolle darstellt. Ob die Wirkung bei der Uraufführung ausschließlich die gewesen ist, die von Marlene Dietrich ausgegangen ist, da bin ich mir nicht ganz sicher.

Ich glaube, es hat sehr viel zu tun mit der Neuerung des Tons, es ist ein herausragender früher Tonfilm, der da entstanden ist und dieser Ton hat eben auch sehr viel zu tun mit der Schlagfertigkeit der Lieder, die es in diesem Film gibt. Man muss sich ja auch immer vorstellen, wie ein Film im Gedächtnis weitergetragen wird. Über die Bilder, die sich beim Zuschauer eingraben, aber natürlich, ich denke in diesem Fall auch ganz wesentlich über die Ohrwürmer, die dieser Film enthält.

König: War der Blaue Engel nach dem Krieg so eine Art Anknüpfungspunkt an eine gute Filmtradition in Deutschland nach den Nazifilmen, die man gehabt hatte?

Jacobsen: Das ist es sicherlich. Der Rückgriff auf Weimar bis 1933 hat eine große Rolle gespielt, zumal dieser Film produziert worden ist, besetzt war mit Schauspielern, Produzenten, Technikern, die auch im Exil zum Teil ihre Karriere haben fortsetzen können. Da war eine Tradition, auf die man zurückgreifen wollte, aber in meiner Einschätzung ist das nur ein Moment, das dieser Film diesen Stellenwert in der deutschen und auch internationalen Filmgeschichte bekommen hat.

Ich glaube, es hat ganz wesentlich damit zu tun, dass er eine allgemeingültige Kinogeschichte erzählt. Welche Filme behalten wir denn als Repertoire im Kopf? Sie funktionieren eigentlich mehr oder weniger alle nach einem ähnlichem Muster, nach einer ähnlichen Dramaturgie, das sind Geschichten, die nicht nur national tauglich sind, sondern die einfach international verstanden werden und eine solche Geschichte erzählt der Blaue Engel auch, wenngleich er natürlich bei seiner Uraufführung auch einen zeithistorischen Anknüpfungspunkt besessen hat. Der verflüchtigt sich aber.

König: Lassen Sie uns doch einmal ein bisschen spinnen. Wir denken uns die Verfilmung "Der Blaue Engel" im Jahr 2005, die Geschichte eines deutschen Gymnasiallehrers, der Moral und Anstand hinter sich lässt, Moral und Anstand hinter sich lässt, einer Barsängerin verfällt, darüber seine Stellung verliert und sich sozusagen vollständig dieser Frau zu Füßen wirft und am Ende stirbt. Wenn man das mal so als nackten Plot sieht, ist das, finde ich, eine unglaublich moderne Geschichte. Könnten Sie sich eine solche Verfilmung heute denken?

Jacobsen: Es hat ja in den 50er Jahren ein Remake gegeben mit Curd Jürgens in der Rolle, die Emil Jannings in der Ursprungsfassung verkörpert hat. Das hat nicht wirklich funktioniert. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass dieser Plot modernisiert in unsere heutige Zeit verlegt erzählbar wäre und auch sein Publikum finden könnte. Der Grundplot, dass ein Mann einer Frau verfällt, ist ja auch simpel.

König: Wer könnte das heute drehen und spielen?

Jacobsen: Ich kann es mir gleichermaßen als amerikanische wie als französische Produktion vorstellen. Die Nuancen wären sicherlich verschieden. Regisseure, Schauspieler würde ich nicht benennen wollen.

König: Als deutsche Produktion könnten Sie es sich nicht vorstellen?

Jacobsen: Im Fernsehen würde das sicherlich funktionieren, auf der Leinwand im deutschen Film bin ich mir nicht ganz sicher, denn es gibt ja eine ganze Reihe von Versuchen, auch Romane zu adaptieren, die in den 20er oder 30er Jahren entstanden sind, auch indem man das Kolorit verändert und das Milieu versetzt. In meiner Beobachtung waren diese Filme nicht sonderlich erfolgreich, es braucht offensichtlich doch etwas anderes, aber die Grundkonstellation ist nach wie vor filmtauglich.

König: Lassen Sie uns zum Schluss noch mal auf Marlene Dietrich kommen. Sie sagten, der Mythos des Films bezöge große Teile seiner Kraft aus ihr. Nun war ihr Verhältnis zu Deutschland wohl in beide Richtungen immer ein spannungsreiches. Richtig geliebt haben die Deutschen sie nie, oder?

Jacobsen: Große Teile der Deutschen haben Marlene Dietrich wohl nicht geliebt. Wenn man daran denkt, wie sie wieder nach Berlin zurückgekommen ist nach dem Krieg, gab es Proteste, Leute, die Plakate hochgehalten haben und sie wieder nach Amerika zurückwünschten, es gab aber auch ganz offene sympathische Umarmungen. Das Verhältnis ist spannungsreich.

Es hat ja auch Versuche der Nazis gegeben, sie für Nazideutschland zurückzugewinnen. Sie ist standhaft und aufrichtig genug gewesen, diesen Versuchen zu widerstehen. Manche Leute haben ihr diese Haltung als Desertion ausgelegt, das ist fast wiederum auch perfide zu nennen.

Ich glaube, dass sie dennoch etwas inkorporiert, was jedenfalls Kinogeher schwingen lässt, was möglicherweise die Seele berührt und das Bild einer Frau, das (von Sternberg geformt und von ihr selbst auch natürlich mitgestaltet) sie in amerikanischen Filmen dargestellt hat, dass das auch wiederum etwas Allgemeingültiges beinhaltet. Nicht im Sinne von alltäglich und dass man es umsetzt, sondern dass es auch ein Idealbild mitbedeutet und insofern mag darin auch ein Moment dieses Mythos Marlene Dietrich liegen, dem man nicht unbedingt folgen muss. Man kann dieser Frau auch widerstehen und sie als eine handwerklich perfekte und reizvolle Schauspielerin sehen ohne sich sozusagen gleich in die Fangemeinde einreihen zu müssen.
Marlene Dietrich, 1955 in Las Vegas
Marlene Dietrich, 1955 in Las Vegas© AP
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