Der beste Himmel auf Erden

Von Dirk Lorenzen |
Nirgendwo sonst stehen heute so viele so gute Teleskope wie in Chile. Vor 50 Jahren haben sich fünf Staaten Europas zur Europäischen Südsternwarte zusammengetan, um dort ein gemeinsames Observatorium zu errichten – wegen der optimalen Bedingungen auf der Süderdhalbkugel.
24 Grad 38 Minuten südliche Breite, 70 Grad 24 Minuten westliche Länge, 2600 Meter über dem Meeresspiegel.

„Den ersten Eindruck von dem Berg, den man von hier hat, ist, dass man diese vier Kuppeln sieht, es sind ja gar keine Kuppeln mehr, es sind vier fast Skulpturen, Strukturen, die da oben stehen, im Moment gucken die alle in verschiedene Richtungen.“

Die Sonne brennt gnadenlos vom tiefblauen Himmel, die Landschaft erinnert an Aufnahmen vom Planeten Mars: Ockerfarbene, sanft geschwungene Hügel, regellos verteilte Gesteinsbrocken, kein Strauch, kein Halm – Wüste so weit das Auge reicht. Die Atacama im Norden Chiles ist gewiss kein gastlicher Ort zum Leben. Aber es ist der beste Ort, um Astronomie zu betreiben: Nirgendwo sonst auf der Erde ist die Luft ruhiger, nirgends ist es klarer und trockener als hier. In dieser Wüste ist der Cerro Paranal dem Himmel ganz nah.

„Und das Zweite, was man sieht, ist, wie flach die Bergspitze ist. Die Bergspitze ist weg gesprengt worden, die obersten 30 Meter sind weg gesprengt worden, man sieht die Schutthalde. Man sieht, wie der Schutt dann in unserer Richtung abgelagert wurde. Und dann sieht man auf der linken Seite noch eine Ecke, da ist das Kontrollgebäude, das ist völlig abgetrennt von den Teleskopen selbst.“

Bruno Leibundgut ist Wissenschaftsdirektor der Europäischen Südsternwarte – kurz ESO genannt, nach European Southern Observatory. Zur ESO gehören 14 europäische Staaten und Brasilien. Das Hauptquartier befindet sich in Garching, die beiden Observatorien sind in Chile: La Silla, in den 60er-Jahren gegründet, und seit gut einem Jahrzehnt Cerro Paranal. Auf dem durch Sprengung begradigten Gipfelplateau stehen die vier großen Teleskophallen.

Der Süden der Atacama-Wüste in Chile, Frühjahr 1960.

Chile war für Europas Himmelsforscher nicht die erste Wahl. Ursprünglich hatte man vor, in Südafrika eine Sternwarte zu bauen. Doch dann tat sich plötzlich eine viel bessere Alternative auf. Vor mehr als 50 Jahren war der deutsche Astronom Jürgen Stock nach Chile gereist, um einen Berg auszuwählen, auf dem die Universität von Chicago ein kleines Teleskop errichten wollte.

„Die erste Nacht da oben war aber so eindrucksvoll. Eine total klare Nacht, absolut windstill, eine sehr angenehme Temperatur, besser konnte man es gar nicht haben und dann einfach finstere schwarze Nacht in allen Richtungen, weil ja nichts weiter an Ortschaften in der Nähe war.“

Ein Schlüsselmoment für die Astronomie: Denn der junge Wissenschaftler erkannte sofort, dass der Norden Chiles weltweit einzigartige Bedingungen bietet, um in die Tiefen des Kosmos zu blicken.

„Und das habe ich dann in die Vereinigten Staaten mitgeteilt, sagte also meinem Chef in Yerkes, die Bedingungen sind hier so, es lohnt sich wirklich, einmal in etwas Größerem zu denken: nicht nur ein einzelnes Fernrohr, sondern etwas ganz anderes.“

Die auf nur wenige Wochen angesetzte Forschungsreise entwickelte sich im Handumdrehen zur großen Expedition. Zwei Jahre lang inspizierte Jürgen Stock fast ein Dutzend Berge. Straßen oder Pisten gab es kaum – von einem Hubschrauber konnte er nur träumen. So organisierte er Pferde, Maulesel, Zelte und Proviant, um die astronomische Ausrüstung auf die Gipfel zu schaffen.

„Einige Stationen verlangten wirklich Zwei-Tage-Reisen von der nächsten Station, wo man mit dem Auto noch hin konnte. Das ganze Gerät. – und dann musste auch noch Heu für die Maulesel und Wasser und all solche Sachen mitgebracht werden – das wurde da alles rauf transportiert, das dauerte zwei Tage, dann gingen die Mauleseltreiber wieder weg.“

Oft wurden die Expeditionsteams erst zwei Wochen später wieder abgeholt. So lange haben die zwei bis drei Mann starken Gruppen auf den Bergen Bewölkungsgrad, Temperatur, Luftfeuchte und Luftruhe gemessen – und zwar mindestens viermal pro Nacht. Bald zeigte sich, welche Standorte am besten geeignet waren. Jürgen Stocks Entbehrungen haben sich gelohnt, auch für die Astronomen Europas: Denn er hatte in Hamburg bei Otto Heckmann studiert, dem Gründungsdirektor der Europäischen Südsternwarte. Dank der Hinweise von Jürgen Stock gaben die Europäer ihre Pläne für Südafrika auf und gingen ebenfalls ins klimatisch viel bessere Chile.

Paranal-Observatorium, Gipfelplattform, später Nachmittag.

Eine Stunde, bevor die glühende Sonne im Ozean versinkt, nimmt die Hektik in den vier Teleskopgebäuden zu. Gerhard Hüdepohl, der als Elektronikingenieur maßgeblich am Bau der Paranal-Sternwarte beteiligt war, eilt zu „seinem“ Teleskop, für das er in dieser Woche die Verantwortung trägt. Noch ist die Halle hell erleuchtet: In der Mitte steht das mächtige Spiegelteleskop. Es ist kein geschlossenes Rohr, sondern eine offene Struktur aus dicken grauen Stahlrohren: 20 Meter hoch und 400 Tonnen schwer.

Beim Kontrollrundgang vor dem Einschalten des Teleskops passiert der Ingenieur auch die dröhnende Klimaanlage:

„Die läuft den ganzen Tag, wird aber nachts ausgeschaltet. Die hält tagsüber das Teleskop auf der zu erwartenden Nachttemperatur.“

Hat das Teleskop genau die Temperatur der Umgebung, kommt es zum einen nicht zu thermischen Verformungen im Spiegel. Zum anderen bilden sich dann keine Blasen warmer Luft, die aus der Teleskophalle aufsteigen und die Sterne flimmern lassen. Die Kühlung am Tage sorgt mit dafür, dass nachts die Bilder perfekt scharf sind.

Gerhard Hüdepohl setzt seine Inspektion fort. Zügig steigt er die Treppen nach oben zum Gitterweg, der an der Innenwand des Teleskopgebäudes herum führt:

„Jetzt sind wir wieder zwei Stockwerke hoch gegangen, das war wieder eine sportliche Leistung. Man kommt hier schnell ein bisschen aus der Puste, wenn man zu schnell die Treppen rauf und runter läuft. Wir sind hier auf 2600 Meter, und wenn man das nicht gewohnt ist, kommt man schnell außer Atem.“

Vom Gitterweg aus ist der Blick frei auf den gewaltigen Spiegel: 8,20 Meter Durchmesser machen den Spiegel 53 Quadratmeter groß – die Fläche einer kleinen Dreizimmerwohnung.

Die Kuppel des Teleskops öffnet sich, die Tore laufen nach links und rechts auseinander. Dazwischen taucht die von der tief stehenden Sonne glutrot gefärbte Wüstenlandschaft auf. Darüber wölbt sich der wolkenlose stahlblaue Himmel.

Gerhard Hüdepohl geht ein paar Schritte und beugt sich nach unten:

„Das Lichtausschalten geht auch bei einem Hightech-Teleskop immer noch über normale Lichtschalter und nicht über Computer.“

Mysteriöse Entdeckungen in schwarzer Nacht.

Innerhalb einer Stunde senkt sich perfekte Dunkelheit über Paranal – und die Spiegelteleskope sammeln alles Licht, das aus dem All kommend auf sie fällt. Mittlerweile ahnen die Astronomen, dass selbst in den besten Teleskopen der Welt etwa 95 Prozent des Kosmos prinzipiell nicht zu sehen sind.

Doch Bruno Leibundgut, Wissenschaftsdirektor der Europäischen Südsternwarte, nimmt die enormen Mengen an Dunkler Materie und Dunkler Energie nicht persönlich:

„Für mich ist es so, dass ich versuche, die Natur zu verstehen und zwar die Natur, die mir zugänglich ist. Ob das 5 Prozent sind oder 100 Prozent überlege ich mir gar nicht. Wenn ich Zugang zu 5 Prozent habe, dann will ich diese 5 Prozent verstehen. Das kann heißen, dass ich Schlussfolgerungen ziehen muss, die von außen kommen und die die restlichen 95 Prozent beinhalten. Aber im Moment als Beobachter mache ich wirklich die Beobachtungen und versuche, diese Daten zu interpretieren.“

Bruno Leibundgut und seine Kollegen in aller Welt suchen auf Bergen wie Paranal nach Antworten auf die grundlegenden Fragen unserer Welt. Woraus besteht das Universum? Was steckt hinter der Dunklen Energie? Wird sich der Kosmos ewig ausdehnen? Die dunklen Bestandteile sind zwar nicht direkt zu sehen, wohl aber ihr Einfluss auf die leuchtenden Sterne, Gaswolken und Galaxien. Allen ist klar: Nur genaues Beobachten des Kosmos und neue Ideen können den Forschern auf die Sprünge helfen. Also pilgern die Astronomen geradezu auf Berge wie Paranal.

„Das ist wirklich etwas vom Schönsten für mich in der beobachtenden Astronomie. Diese Konzentration finde ich sonst nirgends. Ich habe Sternwarten auch schon mit Klöstern verglichen. Man richtet sein ganzes Leben nur auf eine bestimmte Sache ein – in diesem Fall eben nur für ein paar Tage. Alles andere wird sekundär. Das sind einmalige Erlebnisse, für mich ist das hier sehr, sehr stark.“

Die astronomische Weltmacht des Jürgen Stock.

Dass man in Chile nach den Sternen greift und jetzt auf den Durchbruch bei den großen Fragen hoffen darf, verdanken die Astronomen auch Jürgen Stock. Heute sausen die Forscher in klimatisierten Autos über die Panamericana zu ihrer Sternwarte – und kaum jemand denkt dabei an die Pioniere, die einst mit Pferd und Maulesel die Berge Chiles erkundet haben.

„Ich muss schon sagen, das hat wirklich Spaß gemacht. Das war die schönste Zeit meines Lebens da, obwohl ich ja praktisch zweieinhalb Jahre lang eigentlich immer nur in den Bergen war und da war es kein Tag, wo man nicht mehrere Stunden im Sattel saß und durch die Berge da kletterte, aber es war doch eine schöne Zeit.“

Jetzt planen Europas Astronomen den Bau eines Teleskops mit sagenhaften, fast 40 Metern Durchmesser. Es wird natürlich in Chile errichtet, auf einem Nachbarberg von Paranal – und damit wächst wieder einmal das Vermächtnis des Jürgen Stock, der im Jahr 2004 im Alter von 80 Jahren gestorben ist. Er steht zwar in keinem Lexikon; wissenschaftlich epochale Entdeckungen sind ihm nicht gelungen. Dennoch hat Jürgen Stock die Astronomie stärker beeinflusst als mancher Nobelpreisträger: Die Sternforscher verdanken ihm den Himmel auf Erden.

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