Der Barock von heute im Internet

Von Alexander Kohlmann · 16.08.2013
Liebe, Hoffnung, Zeit und Tod - die vier allegorischen Figuren bilden in der Pop-Oper "You us we all", die in Hamburg gezeigt wurde, ein Barockensemble. Die überbordende Bilderfülle der Bühne setzt sich auf einer Leinwand fort, auf der durchs Internet gesurft wird. Am Ende erinnern rosa Kaninchen an das Barocke an David Lynch.
Liebe, Hoffnung, Zeit und Tod. Vier allegorische Figuren hat die Musikerin und Performerin Shara Worden in ihrer Pop-Oper "You us we all" für ein Barockensemble auf die Bühne gestellt. Auf einer Schräge zwischen kristallenen Rokoko-Stühlen begegnen sich die Archetypen. Wie aufgezogene Puppen bewegen sich die Performer, die auch in ihren Kostümen ganz in der Zeit der überbordenden Bilderfülle des Barock verhaftet sind.

Eine Bilderfülle, der wir heute auch wieder ausgesetzt sind. Auf der Leinwand im Hintergrund klicken wir uns durch den Explorer, von klassischen Gemälden aller Epochen bis hin zu Graffiti-Arbeiten an Abbruchhäusern. Die barocken Gemälde von heute sind die unendlichen Bildwelten im Internet, die hier auf die Gesangstradition von damals treffen. Die Muster der Kostüme setzen sich auf der Leinwand fort. Es sieht fast aus, als seinen die Liebe, die Hoffnung, die Zeit und der Tod zum Klappern einer Schreibmaschine aus der Bilderwelt des Netzes herausgepurzelt.

Dazu spielt das belgische BOX – baroque Ensemble einen Soundtrack, der in seiner Verbindung aus barocker Musik und modernen Pop-Elementen so überraschend ist, dass er wirklich lyrische Gefühle in einem auslösen kann, so schön und bewegend, wie sie die Rezipienten dieser Musik immer wieder in den Texten aus dem 18. und 17. Jahrhundert beschrieben haben. Die Sänger singen mit dezenter Mikroport-Verstärkung so glasklar, dass alleine die Klangwelt tatsächlich jenen "visuellen Rausch aus Musik" einlöst, den bereits das Programmheft vollmundig verspricht.

Eine technische Panne führt dazu, dass es bei dieser sinnhaften Aufnahme des Geschehens auch bleibt: Die Übertitel fallen komplett aus, der englische Gesang ist praktisch nicht zu verstehen. Doch auch wenn die angedachte Textebene wegfällt, schadet das der Rezeption überhaupt nicht. Die Liebe, die Hoffnung, der Tod und die Zeit begeben sich mit soviel Inbrunst in immer neue Konstellationen, verhandeln und ringen miteinander, dass die vielen einzelnen Szenen auch ohne exaktes rationales Verstehen das Publikum erreichen.

Zum Schluss dann dekonstruieren die Figuren die barocke Bilderwelt, aus der sie einst entstiegen sind. Die Kostüme werden bis auf die Unterwäsche ausgezogen, die Leinwand mitsamt der Projektionen wird heruntergerissen. Ganz nackt stehen sich die Archetypen gegenüber, deren Kampf um die Deutungshoheit dennoch munter weitergeht.

Als dann noch mehrere rosa Kaninchen auftauchen, wähnt man sich fast in einer der Film-Installationen von David Lynch. Dessen Werke leben auch allesamt von einer Überfülle an visuellen und akustischen Informationen und lassen einen staunend zurück. So wie die barocken Kirchenmalereien aus dem 17. Jahrhundert. Und auch dieser Abend, den man am liebsten gleich noch einmal sehen würde.

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