Der Ball ist wund und wunderbar

Von Thomas Kroll |
Bei der FIFA Fußball-WM in Südafrika beginnt nun die K.O.-Runde. Bei der Sportart geht es auch um Kampf. Doch es gibt auch zahlreiche andere Betrachtungsweisen des populären Ballsports, wie beispielsweise die Sicht der Theologie und der Religions- und Kulturwissenschaft.
Filmausschnitt "Das Wunder von Bern"):
"Hör mal, ich hab dich da neulich inner Kirche gesehen. Hast ‘ne Kerze angezündet. Sagst’ mir auch für wen?"

Das fragt Vater Lubanski seinen Sohn Matthias. Eine kurze Begebenheit in Sönke Worthmanns Film "Das Wunder von Bern". Der Film spielt im Jahr 1954. Er verknüpft historische Ereignisse der Fußballweltmeisterschaft mit einer fiktiven Vater-Sohn-Geschichte - und lässt dabei kurz Raum für das Thema Fußball und Religion, konkret: für das Thema Fußball und Votivkerze. Denn der Junge antwortet seinem Vater:

Filmausschnitt "Das Wunder von Bern":
"- Für den Helmut Rahn.
- Helmut Rahn?
- Herberger stellt ihn meistens nicht auf, und da dachte ich, ich muss ‘was tun."

Vorsichtig löscht der Vater seine Zigarette und legt sie zur Seite.

"Das Wunder von Bern"
"- Komm mal mit raus."

Vater und Sohn verlassen die Eckkneipe. Alle weiteren Personen bleiben im Raum, denn das Fernsehen überträgt aus Basel das Vorrundenspiel Ungarn gegen Deutschland. Nochmals Vater Lubanski.

"Das Wunder von Bern"
"- Versteh ich das richtig? Du zündest in der Kirche ‘ne Kerze an, nur damit irgend so’n Balltreter nicht auf der Reservebank sitzen muss?
- Aber Helmut Rahn ist nicht irgend so’n Balltreter. Er ist der Beste, und ich ...
- Bist du noch zu retten? Erklär mir mal, wie du darauf kommst, die Kirche zu so albernen Mätzchen zu missbrauchen. Du gehst jetzt nach Hause und denkst über den Sinn der Kirche nach.
- Aber jetzt spielt doch ...
- Schluss jetzt, ab nach Hause. Fang bloß nicht an zu heulen. Ein deutscher Junge weint nicht."

Fußball als Passion entzweit. Das verdeutlicht Sönke Worthmanns Film in der 42. Spielminute mit der kurzen Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn. Es geht um Fußball. Davon hält Vater Lubanski nicht allzu viel, sein Jüngster hingegen schon. Matthias ist ein großer Fußballfan, ja, Taschenträger und Maskottchen des Essener Stürmerstars Helmut Rahn.

Bei der Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn geht es aber auch um den zulässigen Umgang mit Votivkerzen. Fußball und Religion, hier: Fußball auf der einen und Kerze samt Bittgebet auf der anderen Seite - beides ist für den Vater nicht vereinbar, für den Sohn hingegen schon. Denn seit jeher bringen Menschen Dank und Lob, Klagen und Bitten vor Gott. Warum sollten sie das Geschehen auf dem Fußballplatz aussparen?

Hermann Queckenstedt: "In Mexiko kennen wir das wundertätige Bild Jungfrau von Guadeloupe, und da gibt’s Fangruppen, Spieler, Sportler, die Kerzen opfern. Die beten für ihren Erfolg oder für den Erfolg ihres Vereins."

Hermann Queckenstedt. Er leitet das Diözesanmuseum in Osnabrück.
In Deutschland findet man dieselbe Praxis zum Beispiel bei den Fans von Wacker Burghausen.
Hermann Queckenstedt: "Burghausen liegt ja ganz in der Nähe von Altötting, und ich habe mir sagen lassen, dass es eine Fangruppe in Burghausen gibt, die vor jedem Spiel von Wacker nach Altötting fährt, um da eine Kerze zu entzünden. Und als es in der letzten Saison um den Abstieg des VFL Osnabrück aus der zweiten Liga ging, das ist ja dann tatsächlich auch so eingetreten, da hatten wir auch Kerzenopfer, VFL-Kerzen im Osnabrücker Dom. Also das spielt durchaus eine reale Rolle."

Fußball als Passion vereint. Das gilt schließlich auch für Vater und Sohn in Sönke Worthmanns Film. Beide fahren gemeinsam zum Endspiel ins Berner Wankdorf-Stadion. Dort gewinnt die deutsche Elf gegen die hoch favorisierte ungarische Mannschaft. Eine Sensation. Anders gewendet: Das Wunder von Bern.

Hermann Queckenstedt: "Der Wunderbegriff an sich ist schon ein Stück weit sakralisierend, auf der anderen Seite haben wir in den Fünfzigerjahren häufiger Wunder und Wundergeschichten, beispielsweise das Wunder von Lengende. Aber die WM 1954, vor allem das Endspiel, markiert natürlich schon fast einen kleinen Wendepunkt, was die Sakralisierung angeht. Fast alle kennen den berühmten Ausspruch des Radioreporters Herbert Zimmermann über den Torwart Toni Turek: ‚Toni, du bist ein Teufelskerl. Toni, du bist ein Fußballgott.’"

Fußballreportage von Herbert Zimmermann:
Buzansky versucht, Koscis einzusetzen. Koscis kommt nicht an den Ball. Die Verteidiger der Ungarn müssen weit mit aufrücken. Jetzt heben sie den Ball in den deutschen Strafraum hinein. Schuss! Abwehr von Turek. Turek, du bist ein Teufelskerl! Turek, du bist ein Fußballgott. Entschuldigen sie die Begeisterung, die Fußballlaien werden uns für verrückt erklären, aber bedenken sie es ist heute wirklich Deutschlands Fußballtag ...

Hermann Queckenstedt: "Der Sender hat den Reporter gerüffelt. Das war damals durchaus noch nicht allgemein akzeptiert, so mit dem Fußball umzugehen. Da wird zum ersten Mal, soweit ich das nachvollziehen kann, ein Fußballspieler zum Fußballgott, und Theodor Heuss hat anschließend beim Empfang für die Weltmeistermannschaft im Berliner Olympiastadion dafür auch durchaus kritische Worte gefunden."

"Und ich habe gelesen, dass Turek ein Fußballgott sei. Lieber Turek, werden Sie das nicht. Turek soll ein zuverlässiger und wendiger Spieler sein und soll es bleiben. Wir haben uns gefreut, dass er es für Deutschland gewesen ist."

Bundespräsident Theodor Heuss plädiert 1954 klar und deutlich für eine Trennung von Fußball und Religion. In den folgenden Jahrzehnten zeigt sich jedoch.

Hermann Queckenstedt: "Sehr viele Züge des Religiösen sind auf Fußball übertragen worden bis hin zu einer Kirche Maradonas, und in Argentinien hat sich ja durchaus eine Gruppe von Fans zusammengefunden, die all das, was wir christlich katholisch im Gottesdienst tun, übertragen auf Maradona, auch nachvollziehen. Sie taufen, sie heiraten auf den Namen Maradonas. Da gibt’s schon sehr skurrile Bezüge."

"Er wird in Argentinien wie ein Gott verehrt, die Iglesia Maradoniana hat ihn zu ihrem Gott erkoren. ... Wer dieser Kirche beitritt, glaubt ‚an Diego, den allmächtigen Fußballspieler, Schöpfer von Magie und Passion’ ... Fußball ist die Religion, Maradonas Autobiografie ... die Bibel, seine Trikots sind die Reliquien."

Die Journalistin Kathrin Schadt in der Wochenzeitung "Die Zeit". Die Kirche Maradonas ist eine neureligiöse Bewegung mit Parodiecharakter. Zugegeben, sie ist ein extremes Beispiel der Fankultur.

Nicht zu übersehen ist jedoch: Im deutschen Bundesligaalltag wird die Fankultur – anders als noch vor gut 50 Jahren – zunehmend durchsetzt von Inszenierungen und Ritualen. Und die sind nicht frei von paraliturgischen Zügen.

Katharina Wiefel-Jenner: "Es sind im Prinzip die Rituale des Ankommens, des Sich-Freuens, der Extase, und es sind ganz viele Gemeinschaftsrituale."

Theodor Kettmann: "Also, der feierliche Einzug zum Beispiel, das Liedersingen, Aufstehen und Sich-wieder-Hinsetzen. Oder: Beim ersten Tor fallen sich wildfremde Menschen um den Hals und geben sich - das will ich jetzt sagen - den Friedensgruß. Aber: Es entsteht Gemeinschaft. Und dieses Auf und Ab und dieses Fahnenschwenken spielt ja auch in der katholischen Kirche eine große Rolle, wenn wir mit unseren Bannern kommen. Also da gibt es sehr, sehr viele Bezüge."

Katharina Wiefel-Jenner und Theodor Kettmann. Die eine ist protestantische Pfarrerin im Ruhestand, der andere ist katholischer Weihbischof. Beide sind Fußballfans. Beide betrachten das Geschehen auf den Stadionrängen vor der Folie christlicher Gottesdienstpraxis. Noch ein konkretes Beispiel.

Katharina Wiefel-Jenner: "Im Stadion gibt’s dann noch ’ne besondere Form der Begrüßung. Der Stadionsprecher ruft ja die Namen auf derer, die in der Startelf sind, und das ist auch ganz klar ritualisiert."

Stadionsprecher und Publikum:
"- Und hier ist sie, die Mannschaftsaufstellung von Borussia Dortmund. Im Tor mit der Nummer 1 Roman
- Weidenfeller.
- Mit der Nummer 4 Neven
- Subotic.
- Mit der Nummer 5 Sebastian
- Kehl.
- Mit der Nummer 9 Nelson
- Valdez.
- Mit der Nummer 13 Alex
- Frei.
- Mit der Nummer 16 Jakub
- ‚Kuba’.
- Mit der Nummer 17 Leonardo
- Dede.
- Mit der Nummer 23 Nuri
- Sahin.
- Mit der Nummer 25 Patrick
- Owomoyela.
- Mit der Nummer 27 Felipe
- Santana.
- Und mit der Nummer 30 Tamas
- Hajnai.
- Jawoll."

Katharina Wiefel-Jenner: "Es wird der Vorname genannt des Spielers, und die Fans brüllen den Nachnamen. Und wenn’s die gegnerische Mannschaft ist, dann brüllen die nicht etwa den Nachnamen, sondern dann wird einfach »Arschloch« gebrüllt. Das ist nicht gerade fein, aber diese rauen Sitten herrschen dann immer auf dem Fußballplatz."

Die wechselnden Zurufe erinnern an das Kyrie im christlichen Gottesdienst. Auch da geht es mehrmals hin und her zwischen Vorsänger und Gemeinde, auch da geht es um die Begrüßung, konkret: um die Begrüßung des auferstandenen Kyrios inmitten der versammelten Gemeinde.

Christen versammeln sich in Kirchen und Kathedralen, Fans in Stadien und Arenen. Dazu schreibt Hartmut Böhme – ebenfalls in der Wochenzeitung "Die Zeit":

"Die klassischen Orte des Heiligen, die Kathedralen selbst, stehen leer oder werden mehr von Touristen als von Gläubigen besucht."

Der Professor für Kulturtheorie an der Berliner Humboldt-Universität erklärt weiter:

"Die Kathedralen der Gegenwart sind ... die Arenen des Fußballs, die durch die neue Stadionarchitektur zu wahren Gefühlsmaschinen geworden sind. Sie sind nicht mehr die himmelsoffenen Ovale der Olympiastadien, sondern Aufführungsstätten des Fußballkultes. Darum die akustische und optische Schließung des Himmels, das Heranrücken der Zuschauer ans Geschehen und die architektonisch verdichtete Atmosphäre, die eine unvergleichliche Präsenz des Ereignisses erzeugt."

Katharina Wiefel-Jenner: "Und die Stadien haben ja auch alles, was zu Kathedralen gehört. Sie haben das Allerheiligste, nämlich den Rasen. Sie haben aber auch die Sakristei, die Katakomben. Sie haben das, was früher zu den Kathedralen auch dazugehörte, den Marktanteil, die Fanshops. Sie haben auch das Museum, wo die früheren Schätze ausgestellt werden. Alles, was die Vereinsgeschichte ausmacht, wird im Museum ausgestellt."

Katharina Wiefel-Jenner.

Fußball als Passion vereint. In Strömen pilgern die Fans in die Kathedralen der Gegenwart.
Fußball als Passion trennt aber auch. Denn so mancher ist froh, nicht dabei zu sein bei all dem Gegröhle, bei Alkoholkonsum und mitunter auch Gewalt.

Dennoch hat Hermann Queckenstedt eine Dauerkarte beim VfL Osnabrück. Was zieht den promovierten Historiker ins Stadion? Warum diese Passion?

Hermann Queckenstedt: "Ich finde einfach: Fußball ist ein tolles Erlebnis, auch ergebnisoffen, ich glaube, das macht den Reiz aus."

Im Konzertsaal und im Theater kennt man in der Regel Ablauf und Ergebnis.

Hermann Queckenstedt: "Das ist mal qualitätvoller, mal weniger qualitätvoll, aber der Fußball hat dieses Open End, dieses Überraschungsmoment, was letztlich für mich den Kick gibt."

Katharina Wiefel-Jenner: "Dieses Diego-Tor in Aachen vor ein paar Jahren, das war so was."

Im April 2007 gelingt dem Bremer Spieler Diego Ribas da Cunha ein wunderbares Tor im Spiel gegen Alemannia Aachen. Es ist zugleich Schluss- und Höhepunkt eines begeisternden Spiels.

In der Nachspielzeit steht es 2:1 für Werder Bremen. Der Gegner drängt auf den Ausgleich. Daher ist der Aachener Torwart Kristian Nicht weit aufgerückt in die Hälfte des Gegners.

Auszug aus der Originalreportage:
"Nicht muss zurück, weil Werder stürmen kann – mit Diego. Diego! Weitschuss. Geht er rein? Geht er rein? Er geht reeeeein! Tor des Jahres. Er geht rein. Es ist ja nicht zu fassen. Es ist ja nicht zu fassen, was der für Tore macht! Werder Bremen hat 3:1 gewonnen. Das Spiel ist aus."

Katharina Wiefel-Jenner: "Dieses Beobachten, wie dieser Ball da über 66 oder 67 Meter, ich weiß nicht wie viel das war, durch das Stadion ins Tor rein kam und der Torwart ja eigentlich vergeblich rannte, diese Situation, die hatte schon so ‘was von Schauer."

"»... wenn dem Star etwas schier Unmögliches gelingt. Dann erleben wir ... das Glück ungeheurer Leichtigkeit, bei dem für Sekunden das Irdische aufgehoben scheint. Das ist religiöses Erleben.«"

Hartmut Böhme in seinem Zeitungsartikel »Der Ball der Göttin«. Der Berliner Professor für Kulturtheorie schreibt darüber hinaus:

"Das sind jene seltenen Momente, wo ein Raunen durch die Massen geht und ... dazu führt, dass in den grenzenlosen Jubel der Anhänger sich die Bewunderung auch der Gegner mischt: Ein vollendeter Spielzug vereint für Sekunden die aufgespaltenen Massen in der vierten Dimension der alles versöhnenden Kunst."

Diegos sensationeller Weitschuss zur rechten Zeit erzeugt einen Moment des faszinosum et tremendum. Auf der einen Seite den Schauer der erwartungsvollen Ahnung und der kommenden Begeisterung, auf der anderen Seite den Schauer der Befürchtung und der abzusehenden Bestürzung. Auch hier gilt: Fußball als Passion trennt - und vereint.