Der Atlas der unberührten Tiefen

Von Arndt Reuning |
So groß die Weltmeere auch sein mögen, mittlerweile gibt es kaum noch einen Ort, an dem der Einfluss der Menschen nicht zu spüren wäre. Auf der Jahrestagung der Amerikanischen Vereinigung zur Förderung der Wissenschaft, AAAS, in Boston hat jetzt eine Forschergruppe eine Weltkarte vorgestellt, die die Belastung im Detail dokumentiert.
Das Rote ist der gefährliche Einfluss der Menschen: Fischfang, Umweltverschmutzung, Klimawandel und so weiter. Und wirklich rot ist die Weltkarte der berührten und unberührten Tiefen vor allem in der östlichen Karibik, in der Nordsee und in den japanischen Gewässern. Blau, und daher noch weitgehend intakt sind fast nur die Küstenabschnitte in den Polargebieten, besonders in der Antarktis. Der ganze Nordatlantik ist orange, das heißt, auch dort hat das Meer unter den Einwirkungen des Menschen stark zu leiden. Etwas besser sieht es aus im östlichen Pazifik, auf Höhe des Äquators. Benjamin Halpern von der University of California in Santa Barbara:

"In der Vergangenheit hat es viele Studien gegeben, die einzelne Aspekte der Umweltbelastung gezeigt haben. Wir haben zum ersten Mal eine weltweite Karte gezeichnet, auf der wir die verschiedenen Belastungen übereinander gelegt haben. Wir bekommen so den großen Blick auf den Gesamteinfluss der Menschen: Es gibt keinen Punkt, der von menschlichen Aktivitäten unbeeinflusst wäre. Über vierzig Prozent der Ozeane sind stark betroffen. Das heißt: Gut die Hälfte der Weltmeere hat unter drastischen Belastungen zu leiden."

Koralleriffe im flachen Wasser zum Beispiel sterben ab, weil die Temperatur steigt oder weil sie bestimmte Giftstoffe nicht verarbeiten können. Sie sind das klassische Beispiel für empfindliche Organismen, die sehr sensibel auf geringe Veränderungen ihrer Umwelt reagieren. Aber auch andere, weniger bekannte Ökosysteme sind durch menschliche Aktivitäten bedroht: Felsenriffe mit ihrer Vielfalt an Fischen und Kleinstlebewesen oder die küstennahen Schelfgebiete am Rand der Kontinentalsockel. Die Belastungen hier können vielfältig sein.

"Global gesehen sind die Klimaerwärmung und der kommerzielle Fischfang die Hauptverursacher für die Belastungen. Aber an der Küste, dort wo wir das Meer am intensivsten nutzen, sehen wir alle möglichen Arten von menschlichen Einflüssen auf die Umwelt. Zum Beispiel die Abwässer aus der Landwirtschaft oder aus städtischen Gebieten. Es gibt dort eingewanderte Arte. Und so weiter und so weiter. Diese küstennahen Gebiete sind sehr stark belastet."

Der Fischfang dezimiert nicht nur die Fische selbst. Die Schleppnetze wühlen den Seeboden auf, ziehen lange Spuren aus Schlamm hinter sich her, die sogar von Satelliten aus sichtbar sind. Dadurch gerät das geologische und chemische Gleichgewicht aus der Waage. Aber nicht nur das, sagt Les Watling von der University of Hawaii in Manoa:

"Was in der Diskussion immer vernachlässigt wird, das ist die Biodiversität. In anderen Worten: Es gibt da neben den Fischen noch eine Menge von anderen Organismen. Sie sind klein, die meisten Menschen beachten sie gar nicht. Diese Tiere leben im Sediment, sie fressen dort, bauen sich dort kleine Häuser, ziehen den Nachwuchs groß. Das alles gibt es dort unten, und das alles wird durch die Schleppnetze zerstört. Jedes Mal wenn ein Kutter ein Netz über den Grund zieht, dann beseitigt er eine riesige Anzahl dieser Organismen."

Die Weltkarte der bedrohten Ozeane wurde von insgesamt neunzehn Forschungsgruppen erstellt. Sie soll nicht nur Bestandsaufnahme sein, sondern auch ein Werkzeug. Mit dem sich jene Regionen finden lassen, die am dringendsten unter Schutz gestellt werden müssen. Auch wenn die meisten der beteiligten Wissenschaftler ein anderes Modell bevorzugen würden: Nicht einzelne Areale sollen zu Schutzgebieten erklärt werden, sondern der gesamte Ozean. Und dann können bestimmte Fläche ausgewiesen werden, in denen Fischerei erlaubt ist. Fiorenza Micheli von der Stanford University:

"Das komplette Bild, wie unsere Karte es darstellt, führt deutlich vor Augen, wie wichtig es ist, dass wir jetzt handeln. Über die verschiedenen Fachgebietsgrenzen hinweg, zwischen einzelnen Behörden und Nationen. Es gibt Beispiele dafür, dass so etwas möglich ist. Dass es bereits durchgeführt worden ist und dass es durchgeführt werden sollte."