Der Atem des Vaters

Von Tobias Wenzel · 31.05.2010
Einem Mann ist die eigene Frau fremd geworden. So fremd, dass er glaubt, sie kann gar nicht seine Frau sein. Das ist das Szenario in "Atmosphärische Störungen", dem Debüt-Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Rivka Galchen, der nun auf Deutsch vorliegt.
Breite Stufen aus Marmor führen hinauf zur National Public Library in New York. Hallendes Stimmengewirr. Bis man jenen ruhigen Raum betritt, von dem Büros für Stipendiaten abgehen. Zehn Wissenschaftler arbeiten hier und fünf Schriftsteller, darunter Rivka Galchen:

"You want some coffee?"

Die 1976 in Toronto geborene Autorin hat hochgesteckte dunkle Haare, trägt ein ultramarinblaues, luftiges Kleid und goldene Armreifen, die immer mal wieder klirren. Ihr weißes Notebook ist angesengt, vermutlich weil der Bildschirm einmal über eine brennende Kerze geneigt war.

Leo Liebenstein, Psychiater und Hauptfigur ihres Romans "Atmosphärische Störungen", hätte vermutlich eine kompliziertere Erklärung dafür gefunden. Schließlich glaubt er, seine eigene Frau sei entführt und durch eine nahezu perfekte Doppelgängerin ersetzt worden. Wie kommt man nur auf die Idee, solch einen Roman zu schreiben?

Rivka Galchen: "Meine Freundin hat zwei Katzen: Milow und Otis. Einmal war Milow krank und musste zum Tierarzt. Und Milow hat dort wohl einen anderen Geruch angenommen und mit nach Hause gebracht. Denn Otis mied Milow, als ob ein Fremder nach Hause gekommen wäre. Das hat mich berührt."

"Und als ich in der psychiatrischen Notaufnahme arbeitete, kam einmal eine Frau, die sagte, das FBI und die CIA würden sie verfolgen, hätten ihren Sohn entführt und ihn durch einen Doppelgänger ersetzt. Aber darauf sei sie nicht hereingefallen.

Allerdings liebe sie nun auch den falschen Sohn und möchte deshalb ihren eigentlichen Sohn zurückhaben, ohne den falschen hergeben zu müssen. Das war der emotionale Hintergrund meines Romans."

Aber es gibt noch einen emotionaleren Hintergrund: Rivka Galchens Vater, ein Meteorologe, der unerwartet starb, als sie 18 Jahre alt war. Das Buch ist auch eine Hommage an ihn. Dem Kind Rivka erschien er als Übervater.

"Als Kind wusste ich, dass er Meteorologe war. Und den Beruf verband ich mit dem Mann, der im Fernsehen die Wettervorhersage machte. Also habe ich meinen Vater immer wieder gefragt: 'Wie ist morgen das Wetter?' Aber er wusste es nie: 'Ich habe keine Ahnung. Damit beschäftige ich mich nicht.' Er war eher ein Mathematiker, der sich mit Algebra befasste. Er sprach kaum über die Wolken am Himmel, die Jagd auf Tornados, all das, was sexy an der ansonsten nicht gerade als sexy geltenden Meteorologie ist."

Die Eltern wanderten 1970 aus Israel in die USA aus, gingen nach Toronto und lebten lange Zeit in Oklahoma. Dort verbrachte Rivka Galchen ihre Kindheit, studierte später in New York Medizin mit dem Schwerpunkt Psychiatrie und arbeitete, bevor sie kreatives Schreiben lernte und ihren Roman veröffentlichte, auch zwei Jahre in dem Bereich:

"Aber jetzt mache ich das nicht mehr. Dafür schäme ich mich. Einige Leute haben doch zwei Berufe parallel und bekommen das sehr gut hin. Aber ich schlafe lieber. Wenn man in der Psychiatrie arbeitet, denkt man darüber nach, wie man zur Welt steht. Wenn sich der Bezug zur Welt darauf beschränkt, dass man ein getoastetes Käse-Sandwitch isst und Kaffee trinkt, dann verpasst man ganz sicher etwas."

Rivka Galchen wirkt zufrieden, ist glücklich verheiratet mit einem Software-Entwickler. Aber traut sie dem Glück? "Das geliebte Wesen drückt eine mögliche, uns unbekannte Welt aus, die entziffert werden muss" - dieses Zitat des Philosophen Gilles Deleuze hat sie als Motto ihrem Roman vorangestellt.

Rivka Galchen: "Ich mache mir nie Sorgen, ich könnte jemanden voll und ganz kennen. Das ist noch nie passiert. Das gilt selbst für die Familie. Wen kennt man besser als seine Eltern oder Geschwister? Aber erstaunlicherweise können sie einen dann so überraschen, dass man sie plötzlich weniger gut zu kennen glaubt. Auch deshalb bin ich froh, wenn ich mal alt bin. Dann weiß ich, wie lange Liebe dauern kann."

Rivka Galchens Eltern hatten fast nur hebräische Bücher im Haus. Und Hebräisch konnte die Tochter damals nur schlecht lesen. Die paar englischsprachigen Bücher der Mutter, einer Informatikerin, hatten Titel wie "Handbuch der Steuererklärung" oder "Ratgeber Immobilien".

Die belletristische Literatur musste Rivka Galchen allein entdecken. Aber ihr Vater hat in anderer Hinsicht einen so großen Einfluss auf sie gehabt, dass sie auch nach seinem Tod immer wieder auf ihn stößt. Auch dort, wo man ihn nicht vermutet.

Rivka Galchen: "Ich erinnere mich, dass ich in eine Jugendherberge übernachtet habe und jemanden im Raum schwer atmen hörte. Ich dachte: Da atmet mein Vater! Normalerweise hört man ja nicht, wie andere Menschen atmen.

Und mein Mann atmet nicht so wie mein Vater. Aber damals in der Jugendherberge war ich geradezu überwältigt. Denn diesen besonderen Klang hatte ich schon lange nicht mehr gehört."