Der Atem des Großmeisters

Von Christoph Richter · 09.06.2011
Für den Fotografen Helmut Newton waren Polaroids ein Skizzenbuch, ein Abbild des Unperfekten, ein Schnappschuss aus der Lebenswirklichkeit von Mode-Shootings. Viele dieser Fotos sind erhalten und werden jetzt in Berlin gezeigt.
"Das ist wirklich erstaunlich, als wir angefangen haben, Bilder auszusuchen. Gerade die alten Fotos aus den 60ern haben so eine wunderbare Patina. Nichts ist verblasst, die Farben glänzen. Ja, es sind richtige Vintage Prints. Ja klar, sie sind ein bisschen gelbstichig oder haben kleine Kratzer..."

…aber das macht doch nichts, fügt die 88-Jährige June Newton noch hinzu. Sie ist geradezu überrascht, wie gut die alten Polaroids noch erhalten sind. Für ihren verstorbenen Ehemann, den berühmten Fotografen Helmut Newton, waren die Sofortbilder seit den späten 60er-Jahren so eine Art Vorstudie zu seinen Fotografien. Und unentbehrlich.

Er konnte so, noch bevor er das richtige Foto knipste, alle Zweifel ausräumen. Indem er mittels der Sofortbilder die Bildkomposition, die Lichtverhältnisse akribisch und genauestens überprüfen konnte. Dahinter stand aber auch die große Ungeduld Helmut Newtons, schon möglichst früh, möglichst genau zu wissen, wie die Situation, die er im Kopf hatte, als Bild wohl aussehen könnte. Erzählt June Newton. Und lacht. Eine energische, aber sehr charmante Frau, die sofort den Raum füllt, wenn sie eintritt. Pagenkopf, Nickelbrille, rot geschminkte Lippen:

"Und wenn er die Polaroids dann mit nach Hause brachte, schmiss er sie mir immer vor die Füße. Er fragte mich dann immer, fast fordernd: Gefallen sie dir? Oh mein Gott, ich fühlte mich dann immer wie Desdemona."

Für den Betrachter der Polaroids, die letztlich Momentaufnahmen sind, ist es ein bisschen so, als sei man ein unsichtbarer Beobachter und würde unmittelbar an der Seite des Fotografen stehen. Findet jedenfalls Matthias Harder, Kurator der Ausstellung "Helmut Newton Polaroids":

"Das hat eine große Prise Authentizität, weil wir mit Newton gewissermaßen am Set sind. Und ganz früh am Set sind, noch bevor er die richtigen Bilder auf richtigem Film fotografiert hat. Also wir schauen Helmut Newton gewissermaßen über die Schulter und schauen ihm zu, wie er zu der endgültigen Bildfindung gekommen ist."

Im Berliner Museum für Fotografie, wo die Newton-Stiftung über zwei Etagen verfügt, werden nun mehr als 300 vergrößerte Polaroid-Fotografien von Helmut Newton präsentiert.

Die meisten Frauen auf den Sofortbildern sind nackt. Man sieht Brüste in allen Formen und Schattierungen. Wenn die meist langbeinigen Schönheiten jedoch bekleidet sind, dann höchstens mit einem Hauch von Nichts: Mit glänzenden Swim-Suits, engen Kleidern, Miniröcken, Corsagen, transparenten, durchsichtigen Stoffen. Und High-Heels. Die Sets sind keine sterilen Studios, Die meisten Szenen stellen scheinbar alltägliche Situationen dar. Dazu liegen die Models auf Hafenmauern, lehnen lasziv an Wänden, stehen breitbeinig und blicken den Betrachter fast fordernd in die Augen. Sie wirken zuweilen wie eiskalte mörderische Engel. Helmut Newton spielt mit unseren intimen Wünschen. Er bringt Tabus ins Spiel; will Geheimnisse und Vorlieben öffentlich auszubreiten.

Das Besondere der Bilder erläutert der Fotografiehistoriker Matthias Harder:

"Die Farbigkeit, die verschobenen Kontraste, die die Bilder in zeitgenössische Fotografie bringen. Wenn wir durch die Ausstellung spazieren, dann ist es ein Blick zurück in die 70er Jahre. Aber auch bis hin ins Jahr 2003, kurz vor seinem Tod. Er ist bis zum Schluss der Polaroidtechnik treu geblieben, und hat dieses Sofortbild, wie andere Fotografen, sehr geschätzt. In einer Zeit, die noch vordigital war."

Interessant ist aber auch, dass man an den Fotos allerhand Gebrauchspuren erkennen kann. Man sieht Fingerabdrücke, Kratzer auf der Oberfläche, auf einigen Bildern glaubt man sogar Kaffeeflecken zu erkennen. Auf dem Rand sind mitunter handschriftliche Kommentare, Notizen, wie die Namen der Models, Auftraggeber und Aufnahmeort vermerkt. Man meint so fast den Atem des Großmeisters zu spüren. Heraus kommt letztendlich ein umfang- und aufschlussreiches Skizzenbuch des Fotografen Helmut Newton:

"Die Polaroids wurden in keinem Magazin gedruckt. Sie waren ihm wie eine Art Anleitung. Sie zeigten ihm, wo ihn der Weg der Idee hinführen würde. Die Fotos, die daraus entstanden, wurden dann gedruckt. Aber nie die Polaroids."

Eine der interessantesten Serien in der Ausstellung heißt Simonetta. Man sieht nackte Frauen. Eingehüllt in warmes gelbes Licht, sitzen sie in opulenten Fauteuils, die wiederum in mondänen barocken Salons stehen. So, als ob es das Normalste der Welt sei, nackt zu sein, sich nackt zu geben. Es sind Frauen, die sich keine Blöße geben, sondern selbstbewusst auftreten. Models, deren Namen unbekannt sind. Aber es sind auch Prominente darunter. So zum Beispiel Eva Herzigova oder Brigitte Nielsen.

Damit man es dem Besucher einfacher macht, hat man die relativ kleinen, eigentlich handtellergroßen Farb- und Schwarz-weiß-Polaroids, auf 1 x 1 Meter aufgebläht. Das Faszinierende: Sie versprühen den bezaubernden Charme des Einzigartigen, die Aura echter Schönheit. Denn die Original-Polaroids konnte man nicht manipulieren oder retuschieren. Sie sind gewissermaßen, so Kurator Matthias Harder, ein Gegenmodell zu digitalisierten Welt:

"Das ist wirklich herrlich, dieses Umgeben zu sein von diesen Bildern, von dieser Bildwelt, von diesem visionären Geschick eines Helmut Newton."

Doch ob man die Polaroids, die wie Filmstills wirken, als Kunst bezeichnen soll, ist zu bezweifeln. Waren sie doch lediglich ein Arbeitsmittel, ein Hilfsmittel. Man sieht eine künstlerische Handschrift, einen ersten Versuch. Aber nicht mehr und nicht weniger. Auch wenn die Polaroids auf den großen Kunstauktionen heute mittlerweile mit einem Preis von bis zu 25.000 Euro gehandelt werden.

Informationen der Helmut Newton Stiftung über die Ausstellung "Helmut Newton Polaroids" in Berlin
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