Der asiatische Jakobsweg

Von Bernd Sobolla |
Der Journalist und Filmemacher Gerald Koll ist als einer der wenigen Nicht-Japaner im Frühjahr 2007 auf dem hachi-ju-hakkasho gepilgert. Dieser liegt auf der Insel Shikoku und ist mit einer Route von rund 1300 Kilometern der längste Pilgerweg der Welt. In dem Film „88 – Pilgern auf Japanisch“ dokumentiert Koll seine Eindrücke und Erlebnisse.
„Beim Jakobsweg wird die Lage irgendwann sehr vertraut. Irgendwann latscht du sozusagen durch dein eigenes Wohnzimmer: Da sind Leute, die du kennst. Du weißt, wo du was zu essen kriegst, die Küche ist nicht weit und weißt, wo du pennst usw. Das wird fast gemütlich, obwohl 900 Kilometer sind 900 Kilometer. Aber trotzdem hatte ich gedacht: Ne, um in der Fremde zu sein, um auf mich gestellt zu sein, um was Neues zu erleben, müsste ich weiter weg.“

Und irgendwie wollte Gerald Koll das Gefühl, das er auf dem Jakobsweg hatte, noch übertreffen. So machte er sich auf, den hachi-ju-hakkasho entlang zu schreiten – 1300 Kilometer in rund sieben Wochen. Ausgerüstet mit Pilgerstab, Rucksack guten Schuhen – und einer Kamera. Aber ortsunkundig und ohne die Rituale zu kennen. So ist er durchaus erleichtert, als er beim ersten Tempel erlebt, dass es vielen Japanern auch nicht besser ergeht.

„Ich bin nicht der Einzige, der nichts weiß. Keiner ist Pilger, jeder wird dazu. Und zwar in dem er oder sie sich verkleidet. Kostüm, Textbuch und Regieanweisung verhindern, dass man aus der Rolle fällt. Schritt für Schritt wächst man in seine Pilgerrolle hinein.“

Ein Mitarbeiter des Tempels erklärt den Pilgern, wie man sich die Kette um das Handgelenk legt, wie man das Heft mit den Sutren hält und diese rezitiert. Und fordert alle auf, nicht nur zu wandern, sondern „Boke“ zu werden. „Henro Boke“, dieser Begriff lässt den Filmemacher nicht mehr los. Und er fragt andere Pilger nach der Bedeutung.

Vielleicht ist es ja Kolls Aussprache, aber keiner kann ihm Henro Boke erklären. Dabei heißt der Pilger auf Japanisch „Henro“, und „Henro Boke“ ist der kontemplative Zustand, den der Pilger im Laufe seiner Reise erlangen sollte.

Der Film zeigt viele traumhaft schöne Bilder: Landschaften in der morgendlichen Stunde bei Sonnenaufgang, Nebel verhangene Wälder, Kirschbäume in Blüte und natürlich die Tempelanlagen: mit beleuchteten Eingangstoren, dem Dunst der Räucherstäbchen und Klang der Trommeln. Selbst der feine und häufige Regen bekommt eine ganz eigene Ästhetik. Gerald Koll mischt diese Eindrücke mit seinen vielen Rückschlägen, lässt – häufig selbstironisch – die Zuschauer teilhaben an seinem Innern, das ständig von der Banalität des Alltages eingeholt wird: Seine Kreditkarte funktioniert nicht, er verläuft sich oft, wir erleben ein Telefonat mit seiner Freundin, ein Trennungsgespräch wie sich später herausstellt, und sehen seine geschwollenen Füße. Und dann immer wieder: Eine endlos lange Straße auf der Koll weiter pilgert.

Irgendwann geht Koll auf Kobo Daishi ein, den Schutzpatron des Weges, der etwa im achten Jahrhundert auf der Insel lebte.

„Der traditionelle Buddhismus war ihm zu bedrückend und lebensunlustig. Also gründete er eine neue buddhistische Schule, Shingong. Ideen dazu holte er sich aus China. Wieder in Japan errichtet Kobo Daishi sein Denkgebäude. Angefüllt mit geheimen Lehren, magischen Riten, Feuerritualen, Regenzauber. Er versprach das Erreichen der Buddhaschaft in nur einem Leben, statt in unzählig vielen.“

Der Filmemacher schildert die Entstehungsgeschichte des hachi-ju-hakkasho, allerdings ohne zu analysieren oder gar Religionen zu vergleichen.

„Ich wollte zwar diesen Pilgerweg beschreiben. Aber ich glaube, dass pilgern mehr ist als Manifestation einer Religion zu sein. Das besteht ja aus sehr unterschiedlichen Dingen: Dem Wandern, den Ritualen, natürlich auch den Gebeten und der kulturellen Prägung, in der man sich befindet. Aber die christliche Anbetungsformen zu vergleichen mit den buddhistischen, das wäre mir nicht eingefallen. Das halte ich für zu fokusiert.“

„88 – Pilgern auf Japanisch“ ist ein kleiner wunderbarer Film, der das Erhabene anpeilt, ohne in falsche Pilgerromantik abzugleiten, mit subtilem Humor erzählt und immer voller Überraschungen steckt: So findet Gerald Koll fast am Ende Unterlagen, aus denen hervorgeht, dass ein Pilger den hachi-ju-hakkasho 385 Mal gegangen sein soll. Ein Reisunternehmer bestätigt das.
Denn 90 Prozent aller Pilger auf Shikoku lassen sich mit Bussen von Tempel zu Tempel fahren, alles perfekt organisiert.

„Irgendwie ist es natürlich frustrierend. Wenn du dir da die ganze Zeit die Hacken wund läufst und dauernd von Bussen überholt wirst, die in ihrer sauberen Kleidung gerade vor dir im Stempelbüro so eine Kiste voller Stempelbücher hingestellt haben. … Aber diesen Punkt zu überwinden und zu sagen: Jeder macht es so, wie er will, ist dann wieder ein sehr befreiender und angenehmer Moment.“