Der Armenpfarrer von Hövi
Der Kölner Pfarrer Franz Meurer neigt zu unkonventionellen Ideen. So machte seine Gemeinde Sankt Theodor Schlagzeilen, als sie 2000 Euro für den Bau einer neuen Moschee spendete. Doch Meurer ist kein Multikulti-Romantiker, sondern eher auch Sozialarbeiter.
Kein Wunder, liegen doch in seiner Gemeinde - mit hohem Migrantenanteil - die städtischen Brennpunkte Höhenberg und Vingst. Rund 40 Prozent der Familien hier benötigen Hilfen, die sie nicht mehr allein vom Staat bekommen können. Die Richtung der großen Parteien - weniger Sozialpolitik und mehr eigene Verantwortung trotz ungleicher Voraussetzungen - passt Franz Meurer dabei gar nicht. Das heiße ja nicht nur, die Armen auszugrenzen, sondern auch, dass jeder darauf vertraue: "Ich mache ein klein wenig selbst, den Rest macht schon der Staat."
Zitate aus dem Koran haben einen festen Platz bei der Weihnachtsfeier der Kölner Pfarrgemeinde Sankt Theodor. Die Zusammenarbeit der Christen und Muslime in den Stadtteilen Höhenberg und Vingst machte in diesem Jahr bereits bundesweit Schlagzeilen: Der neue Kirchenbau von Sankt Theodor wurde fünf Jahre alt und der Vorstand wollte bei der nächsten Kollekte Geld sammeln, um anderen eine Freude zu machen.
"Und dann kam als eine Idee: mit wem arbeiten wir gut zusammen? Wem müssen wir dankbar sein? Den Imamen von der Moschee. Mit denen arbeiten wir sehr gut zusammen. Zum Weihnachten, im Sommer sehr viel, im Bereich der Schule und so weiter.
Das eigentliche, dass man aneinander Anteil nimmt, das läuft ja längst. Dass man sich interessiert und informiert. Die symbolische Beteiligung an einem kleinen Geschenk zur Einweihung der Moschee, das Symbol, das ist ja nur der äußere Ausdruck dessen, was sich wirklich abspielt."
Etwa 2000 Euro spendeten die Kölner Christen für den Bau einer neuen Moschee auf der anderen Rheinseite im Kölner Stadtteil Ehrenfeld. Das machte bald Schlagzeilen: Dürfen Christen Geld für eine Moschee sammeln? Karl Kardinal Lehmann, der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, war dagegen: Wegen der "großen symbolischen Bedeutung" solle doch besser die jeweilige Religionsgemeinschaft die alleinige Verantwortung für ihr Gotteshaus tragen. Der Pfarrer von Sankt Theodor, Franz Meurer, war nicht zum ersten Mal mit einer unkonventionellen Idee ins Rampenlicht und außerdem in Widerspruch zu den Autoritäten geraten:
"Wir hätten nie gedacht, dass es einen über unser Viertel hinaus interessiert. Aber offensichtlich war es genau der Zeitpunkt, wo sich allmählich diese Fragestellung Mosche oder nicht aufbaute, ein Signal. Rutsch-putsch waren wir überall in den Medien. Für den Frieden im Viertel kann man natürlich nichts Besseres tun, als zusammen zu arbeiten. Amartya Sen, der Nobelpreisträger, der indische Wirtschaftsprofessor, hat gerade ein Buch geschrieben: die Identitätsfalle. Gegen Huntington, den clash of civilisations, wo er sagt, wir dürfen nicht die Identität der Leute nur über Religion definieren. Es gibt viele Identitäten. Die Imame sind auch Lehrer, indem sie den Leuten die deutsche Sprache beibringen. Die sind Sozialarbeiter, indem sie für Arbeit sorgen. Die sind Professoren, weil sie sich auch intellektuell beteiligen. Und sie sind für unser Viertel wichtig, weil sie eben helfen, Kontakt herzustellen. Sen schreibt: Desto mehr Kontakt man zueinander hat, desto mehr wächst das Interesse. Es ist auch hier unser Grundsatz. Und wir sind hier die Minderheit. Die Mehrheit sind hier die Muslime im Viertel: 60% der Jugendlichen."
Meurers Christen-Gemeinde liegt nach Ansicht vieler Kölner auf der "Schäl Sick", der falschen Seite des Rheins, nämlich nicht dort, wo der Dom steht. Und Höhenberg und Vingst – abgekürzt "Hövi" – gelten als städtische Brennpunkte. Der Bevölkerungsanteil der Einwanderer ist besonders hoch – in vielen Straßen sind zumindest die Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Mehrheit. Meurer lässt gar nicht erst den Verdacht aufkommen, ein Multikulti-Romantiker zu sein:
"Bei uns ist eines der Hauptprobleme, ich kann mir erlauben, das zu sagen, wenn hier nun Muslime, Sechzehnjährige, keine Arbeit haben, auf der Straße herum hängen. Mit ihren Hormonen nicht zurechtkommen. Nicht ordentlich erzogen sind, das ist ein riesiges Problem. Neulich ist hier ein Vater von vier Kindern niedergeschlagen worden von vier Türken vor der Telefonzelle. Vorige Woche war wieder ein Mord an einem Marokkaner. Hier bei uns am Marktplatz. Viele Menschen werden überfallen. Das ist bei uns hier die Realität. Dass wir das soziale Problem der Verwahrlosung hier ganz massiv spüren. Aber umso wichtiger ist es, mit den Kräften die für Ausbildung und Kultur, die für eine moralische Erziehung sorgen, zusammenzuarbeiten."
Pfarrer Franz Meurer ist 55 Jahre alt, vor fast 30 Jahren wurde er zum Priester geweiht. Seit 16 Jahren ist er in Hövi aktiv und trotzt dabei vielen Trends: Seine Kirche ist fast jeden Sonntag überfüllt. Meist gibt es nur eine Messe pro Tag, weil noch vieles anderes, praktisches zu erledigen ist.
Auch die Weihnachtsfeier kurz vor Heiligabend fällt entsprechend aus: Aus den Schulen der Umgebung drängeln Hunderte Kinder aller Nationalitäten in Pfarrer Meurers Kirche. Lange Predigten und Gebete sind nicht vorgesehen, stattdessen spielen die Kinder selbst die Hauptrolle: Sie haben Lieder geübt und nun, wo der große Moment naht, wirken einige Schüler der Ganztags-Hauptschule Nürnberger Straße doch nervös. Ihre Lehrerin mahnt:
"Wir brauchen heute in diesem großen Saal jede Stimme. Jeder Schüler singt so gut und schön er kann, nicht schreien ... können wir noch mal die erste Strophe machen. Jelis, ich muss dich leider nach hinten tun. Ich nehme jetzt die Bianca nach vorne, weil ihr euch schlecht benommen habt.
Meurer: Ihr seid ein Superchor.
Lehrerin: Die machen das doch toll.
Nein, auch Sie. Ihr habt ne tolle Lehrerin. Ernsthaft. Wenn ihr so weiter macht, habt ihr jede Chance im leben. Darauf kommt es an. Ihr seid unglaublich gut."
Auch in Köln fallen viele Hauptschulen eher durch massive Lernprobleme als durch mehrsprachige Chöre auf. In den Stadtteilen Höhenberg und Vingst betreibt die Stadt eigene Programme zur Suchtprävention. Doch Pfarrer Meurer ist fest davon überzeugt, dass die schlechte Ausgangslage durch Engagement ausgeglichen werden kann.
"Du hast in so ner schule wahnsinnig motivierte Lehrer und solche, die zu recht schon völlig resigniert sind und einfach nicht mehr können, ausgebrannt. Da muss man gucken: wie der Chor, das ist doch unglaublich. In einer Hauptschule ein Chor aus den ersten Schulklassen. Wenn die die Kraft behält, dann wird aus den Kindern was. Wenn man das eine halbe stunde durchhält, dann sind die genauso gut. In unseren Erstkommunion-Gottesdiensten beten nur Kinder aus der Sonderschule vor, weil sie sich nach vorne drängeln. Die haben Vertrauen: Wir lesen mit. Da liegt eigentlich schon lernen durch Spiegelung, ja? Anders geht es nicht."
Meurers neuer Kirchenbau ist ganz auf Sozialarbeit ausgerichtet und erfüllt viele Funktionen: Der Rundbau aus Beton beherbergt zwar im Erdgeschoss einen üblichen Kirchenraum. Doch das Untergeschoss ist bereits denkbar weltlich gehalten. Dorthin führt Pfarrer Meurers erster Weg nach der Weihnachtsfeier:
"Der Bau der Kirche folgt dem Bauhaus-Prinzip: form follows funktion, die Form folgt der Funktion. Wir sind organisiert wie Bayer Leverkusen: Jede Abteilung ist ein eigenes Profit Center. Die bestimmen alles selbst, was sie machen. Die machen ihre Team-Sitzungen oder frag mich nicht was. Oder sitzen zusammen... tun erst mal zusammen eineinhalb Stunden Kaffee trinken. Und machen alles klar, das ist ja sehr wichtig."
Die Gemeinde-"Abteilungen" haben viel zu tun, weil hier rund 40 Prozent der Familien Hilfen benötigen, die sie nicht mehr allein vom Staat erhalten können. Liegt die offizielle Arbeitslosenquote in Köln schon bei über 11 Prozent, so sind es in Höhenberg und Vingst bereits 20 Prozent. Für junge Menschen mit Migrationshintergrund vermutet Pfarrer Meurer eine Quote von etwa 40 Prozent Arbeitslosen. Die Gemeinde verteilt deshalb kostenlos Lebensmittel: Einmal pro Woche erscheinen meist 450, am Monatsende schon mal 900 Menschen, um etwas zum Essen abzuholen. Damit die Lebensmittel-Berge umgeschlagen werden können, steht ein Gabelstapler parat. Meurer führt zu einem riesigen Regal voller prall gefüllter Stoffsäcke – die Notrationen der Gemeinde für Menschen in Not:
"Wenn am fünfundzwanzigsten kein Geld mehr da ist, weil eben der Alte gesoffen hat oder was weiß ich. Oder die Mutter eben den Fehler gemacht hat und dem Kind eben doch einen Wunsch erfüllt, und es darf eben doch mit der Schulfahrt mitfahren oder doch den Füller gekauft hat, den die Lehrerin vorschlägt. Und dann ist nichts mehr da für die letzten fünf Tage - soll dann einer schimpfen? Es sind solche Säcke. Die habe ich aber auch bei mir drüben auf der Treppe stehen. Da ist alles drin, was man braucht, um so über 3, 4 Tage zu kommen. Können Sie sich ja vorstellen: Nudeln, Suppe, Gulasch. Bonbons. Das hat einer erfunden, ein ehemaliger Manager. Hier sehen Sie eine dicke Wurst und was weiß ich.
Menschen, die jetzt nicht diese Säckchen bekommen würden, was würden die dann die letzten fünf Tage machen? - Frag mich nicht, was weiß ich? Vielleicht eine Oma überfallen, oder hungern. Ich weiß es nicht. Ich bin kein Politiker. Ich bin nicht für die strukturellen Lösungen zuständig. So es sie denn gibt. Wir versuchen einfach - ohne Ort kein Glück, ohne Orts-Gefühl keine Nachhaltigkeit - hier im Viertel etwas zu verbessern."
Pfarrer Meurer studierte zuerst Sozialwissenschaften, was ihm heute hilft. Den Luxus, sich allein auf Glaubensfragen zu beschränken, kann sich in Höhenberg und Vingst kein Gottesmann erlauben. In seinem Kirchenkeller erstreckt sich hinter der Lebensmittelausgabe ein ganzes Kleiderlager: Dutzende Kommunionanzüge und Kleider warten auf Abholer, die sie selbst nicht bezahlen können. Auch ein Möbellager, ein Internetcafe und eine Werkstatt helfen den Anwohnern. Etwa 15 Kinderwagen, an denen noch die Flug-Aufkleber hängen, dokumentieren ein Abkommen der Gemeinde Sankt Theodor mit den Flughäfen Köln und Düsseldorf, zurückgebliebene Fundstücke zu melden.
"Hier vom Flughafen kriegen wir immer die Kinderwagen. Das ging nach str, was ist denn str?... Straßburg, ja, könnte sein. Hier das war Lufthansa Flug 106 nach Hamburg, ist auch nicht schlecht. Da kriegen wir dann manchmal 80 oder 100 Stück."
Meurers Ruf als "Armenpfarrer von Köln" drang bis nach Berlin, wo ihn damals Kanzler Schröder in sein Amt einlud. Meurer selbst ist CDU-Mitglied, aber ein streitbares: Als die CDU die städtische Wohnungsbaugesellschaft verkaufen wollte, sammelte er Unterschriften dagegen. Als ihn die SPD zu einer Zukunftswerkstatt einlud, ging er hin. Wer ihn aber zum Parteiübertritt auffordert, bekommt einen Vortrag über rechte Sozialdemokraten und das alte, sozial orientierte Ahlener Programm der CDU zu hören. Die ganze Richtung bei den großen Parteien - weniger Sozialpolitik, mehr individuelle Verantwortung trotz ungleicher Voraussetzungen – passt ihm nicht.
"Meine Schwester ist Stadträtin in Südfrankreich. Die kann überhaupt nicht verstehen, dass wir den Kindern nicht allen etwas zu essen geben in der Schule. Sondern nur die Kinder, die gezahlt haben, kriegen etwas. Also kriegen die meisten Hartz IV- Kinder nichts. Denn die Familien geben ihr Geld nämlich nicht für das Essen. Also ist diese Kultur der warmen Mahlzeit weg, interessiert keinen. Obwohl doch jeder weiß, jeder Pädagoge, jeder Psychologe, jeder Vater, jede Mutter, was das für die Kultur unseres Landes bedeutet. Von der Gesundheit Seite jetzt mal ganz abgesehen. Also so ein bisschen Kultur könnten wir doch reinblasen, indem man sagt: so, wir tun jetzt erst mal alle verpflegen. Auch ein bisschen gehoben: in Frankreich gibt es dann immer drei Gänge. Und wenn der letzte Gang Joghurt ist, so ist das für Kinder doch auch schön.... Aber bringt doch nichts, wenn wir sagen: Einzelschicksal, das muss jeder selber wissen."
Weiter hinten zeigt Meurer auf Pappmodelle der Kirche, die die Kinder gebastelt haben. An Nachwuchs mangelt es der Pfarrgemeinde Sankt Theodor nicht. Den jungen Menschen steht die Kirche für ungewöhnliche Aktionen zur Verfügung:
"Es ist ja so: die Messdiener möchten auch einmal in der Kirche übernachten. Das finden die ganz toll. Sie schlafen hier, frühstücken. Mit 40 älteren und jüngeren. Auf diese Idee muss man erst einmal kommen. Die finden das gut. Die haben dahinten auch einen Raum mit einem Kühlschrank. Dass sie ebenso, ja, eben ein bisschen was machen. Da spielen die Spiele und machen Blödsinn."
Dann ist Meurer nicht mehr in der Kirche zu halten. Er verbringt ohnehin mehr Zeit draußen auf den Straßen. Er sieht seine Gemeinde in der Pflicht, die gefährdeten Viertel Höhenberg und Vingst nicht kippen zu lassen. Für seinen Einsatz wurde Meurer 2002 von einem Initiativkreis bekannter Kölner Persönlichkeiten zum ersten "alternativen Ehrenbürger" Kölns gewählt - nachdem zuvor die offiziellen Titel auch an "Kölscher Klüngel"-Kandidaten gegangen waren, die in Korruptions- und Spendenskandale verwickelt sind. Meurers Werben um soziales Engagement setzt erst einmal niedrig an: Zuerst nur mit wenigen Aktivisten begann er vor wenigen Wochen, in der Nachbarschaft Gestrüpp zu entfernen und Blumenbeete zu pflanzen. Damit wollte er das Gemeinschaftsgefühl stärken und gleichzeitig den Drogenhandel stören.
"Hier war alles zugewachsen. Alles. Sie konnten keinen einzigen Baum Stumpen mehr sehen. Jetzt kannst du durch kucken bis zur gesamten Schule. Und du konntest keinen Sportplatz sehen, keine Schule, kein Kindergarten. ... und dann ist doch klar was dann hier los ist. Da waren Drogen. Da ist eine Gesamtschule. Hier sind zwei Grundschulen, da ein Kindergarten. Da ist eine ganztags Hauptschule. So - und jetzt kann man doch nicht meckern, oder? Vor allem ist alles weg. Hier werden keine Drogen mehr gehandelt. Du kannst also relativ schnell einen Effekt erzielen."
Bei seiner Rückkehr ins Gemeindeheim trifft Meurer gleich auf mehrere Besucher: Neben seiner evangelischen Kollegin ist ein türkischstämmiger junger Mann erschienen, der sich schon mal seinen zukünftigen Arbeitsplatz anschauen wollte.
"Dann melde dich mal ... Wir sind sehr stolz, dass er als türkischer Mitbürger hier Zivildienst machen wird. Sie kennen ja alles im Viertel. Er sollte das hier mal sehen schon mal."
Wie nebenbei kommt Meurer darauf zu sprechen, dass der junge Mann unlängst Opfer eines Verbrechens wurde – Alltag in Hövi-Land.
"Unserem neuen Zivildienstleistenden haben sie leider in die Milz gestochen. Hier unsere Jungens sind eben handgreiflich, wenn sie ihre Ehre verletzt fühlen. Die Gernsheimer Minigangster aus der Gernsheimer Straße ... die hauen sich eben mit unserem auch und da haben sie ihm in die Milz gestochen. Aber zum Glück hat er gut überlebt."
Das aufwendigste Projekt der Gemeinde ist HöVi-Land, ist Kölns größtes Ferien-Zeltlager, zu dem jeweils im Sommer 500 Kinder erscheinen: drei Wochen lang, Tag für Tag. Seit elf Jahren mobilisiert Meurer für HöVi-Land fast seine ganze Gemeinde. Und auch die Zusammenarbeit im Viertel erreicht dann ihren Höhepunkt: Bürgervereine, die evangelische Gemeinde und die Muslime leisten ihren Beitrag genauso wie auf der Weihnachtsfeier. 60 Rentner bewachen abwechselnd nachts die Zelte, einmal sind auch die Rentnerinnen dran. Und etwa 100 Betreuer nehmen jährlich an Vorbereitungskursen teil. Seit Beginn wurden in den beiden Stadtteilen auf diese Weise über 1000 Jugendbetreuer ausgebildet.
"Das ist sicher ein entscheidender Vorteil, dass die alten Werte der Arbeiter-Kultur noch vorhanden sind. Solidarität, Nachbarschaft, Zusammenhalt, dass man sich daran erbaut zum Beispiel... Etwas von dieser Qualität ist noch da. Das bekommt dann einen gewissen Sog nach einer gewissen Zeit. Dann ist das einfach schön. Nehmen wir den Arzt, wo man fragen kann warum ist er denn hier? Dessen Kinder sind auch hier, dessen Frau ist auch hier und macht den Mitarbeiter Kindergarten. Er ist entspannt hier, alle freuen sich, wenn sie in sehen. Ob das für den nun schöner ist wenn er einen Familienurlaub organisiert, drei Wochen in Italien, das weiß man doch alles gar nicht. Was jetzt mehr Entspannung ist, was schöner ist."
Der Spaß der Kinder drückt sich in Tönen der Erinnerung vom letzten Sommer aus:
"Meurer: ist der denn lieb zu dir? Kind: Ja, wir beide sind Freunde. - Echt? - Freund und Freundin. Letztes Jahr waren wir zusammen in einer Gruppe, jetzt ist sie im Zelt neben mir. - Echt? Vielleicht ist das er sogar ein bisschen spannender. Da kannst du sie ab und zu besuchen, nicht? Mach's gut. - Tschüs. - Wir sind Freunde. ist das nicht schön? Ist doch wunderbar."
Eltern zahlen selbst für aufwendige Projekte wie HöVi-Land nur einen nominellen Beitrag. 150 ehrenamtliche Betreuer organisieren die Versorgung. Zelte sind bei sämtlichen Gemeindefesten die Spende eines Zeltverleihers. Ein professioneller Elektriker nagelt beim Sommerlager Durchlauferhitzer notfalls auch an Bäume. Und der "Kölsche Klüngel" zeigt hier ausnahmsweise mal seine positiven Seiten: Zum Beispiel steht das große Camp für HöVi-Land zweifelsfrei mitten in einem Naturschutzgebiet – mitsamt vielen Gerätschaften, die dort eigentlich nicht hingehören. Doch nach dem dezenten Hinweis der Behörde, dass Geräte wie die Trafostation durchaus auf "befestigtem Gelände" stehen dürften, waren plötzlich nicht ganz zufällig an einer günstigen Stelle neue Bodenplatten zu finden. Die städtische Müllabfuhr verzichtet bei den meisten Veranstaltungen auf Gebühren – zum Ausgleich werben auf Veranstaltungen große Transparente für deren Betrieb.
"Es gibt ein afrikanisches Sprichwort, das heißt: it needs a village to rise a child. Es braucht einen ganzen Ort, um ein Kind zu erziehen. Das müssen wir auch machen. Diese Segmentierung, diese Segregation heißt ja nicht nur, dass man die armen ausgrenzt, sondern heißt ja auch, dass jeder darauf vertraut, ich mache ein klein wenig selbst, den Rest macht schon der Staat. Oder ich kaufe mir das dazu. Wie auch immer. Eine Gesellschaft, die das nicht schafft die Kohärenz-Kräfte, die antipedalen Kräfte zusammen zu halten, die geht ja sowieso auf Dauer vom Markt."
Nun verteilt Meurers Gemeinde vor Ort Weihnachtsgeschenke an Bedürftige: Der gemeinnützige Verein "Kölner Tafel" lud zuerst in das Gemeindehaus, um Geschenke abzugeben. Vor Weihnachten stellen sich die ersten Stunden vorher an, um sich ein Paket abzuholen. In der Schlange werden viele Sprachen gesprochen, bis es endlich soweit ist:
"Autor: Und - sind Sie zufrieden mit ihrem Paket? – Ja doch. – Was ist drin? – Ein Plüschtier, Weihnachtsdeko, Süßigkeiten, Bücher. Eine Flasche Sekt sogar (lacht). Ja, das kann ich gut gebrauchen jetzt. Das tu ich auch weg für Heiligabend. Damit wir ein bisschen Freude haben. – Warum können Sie es gut gebrauchen? – ja, weil wir auch von Hartz 4 leben. Weihnachten sieht dann schlecht aus. ... ja gut, nen Tannenbaum gehe ich noch holen und ein bisschen Süßigkeiten noch so. Aber große Geschenke kann ich mir nicht leisten für die Kinder. ... ich habe einen Jungen, der ist 11 Jahre. Und eine Tochter mit acht Jahren. Und die freut sich über das Plüschtier auf jeden Fall. 3747 Pfarrer Meurer ist schon ein Begriff für die ganzen Sachen, die der macht. ... Dass er sich auch für die Jugendlichen und die Kinder einsetzt, Ansprechpartner für die Kinder ist. Und das ist wichtig, dass die Kinder einen haben."
Zitate aus dem Koran haben einen festen Platz bei der Weihnachtsfeier der Kölner Pfarrgemeinde Sankt Theodor. Die Zusammenarbeit der Christen und Muslime in den Stadtteilen Höhenberg und Vingst machte in diesem Jahr bereits bundesweit Schlagzeilen: Der neue Kirchenbau von Sankt Theodor wurde fünf Jahre alt und der Vorstand wollte bei der nächsten Kollekte Geld sammeln, um anderen eine Freude zu machen.
"Und dann kam als eine Idee: mit wem arbeiten wir gut zusammen? Wem müssen wir dankbar sein? Den Imamen von der Moschee. Mit denen arbeiten wir sehr gut zusammen. Zum Weihnachten, im Sommer sehr viel, im Bereich der Schule und so weiter.
Das eigentliche, dass man aneinander Anteil nimmt, das läuft ja längst. Dass man sich interessiert und informiert. Die symbolische Beteiligung an einem kleinen Geschenk zur Einweihung der Moschee, das Symbol, das ist ja nur der äußere Ausdruck dessen, was sich wirklich abspielt."
Etwa 2000 Euro spendeten die Kölner Christen für den Bau einer neuen Moschee auf der anderen Rheinseite im Kölner Stadtteil Ehrenfeld. Das machte bald Schlagzeilen: Dürfen Christen Geld für eine Moschee sammeln? Karl Kardinal Lehmann, der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, war dagegen: Wegen der "großen symbolischen Bedeutung" solle doch besser die jeweilige Religionsgemeinschaft die alleinige Verantwortung für ihr Gotteshaus tragen. Der Pfarrer von Sankt Theodor, Franz Meurer, war nicht zum ersten Mal mit einer unkonventionellen Idee ins Rampenlicht und außerdem in Widerspruch zu den Autoritäten geraten:
"Wir hätten nie gedacht, dass es einen über unser Viertel hinaus interessiert. Aber offensichtlich war es genau der Zeitpunkt, wo sich allmählich diese Fragestellung Mosche oder nicht aufbaute, ein Signal. Rutsch-putsch waren wir überall in den Medien. Für den Frieden im Viertel kann man natürlich nichts Besseres tun, als zusammen zu arbeiten. Amartya Sen, der Nobelpreisträger, der indische Wirtschaftsprofessor, hat gerade ein Buch geschrieben: die Identitätsfalle. Gegen Huntington, den clash of civilisations, wo er sagt, wir dürfen nicht die Identität der Leute nur über Religion definieren. Es gibt viele Identitäten. Die Imame sind auch Lehrer, indem sie den Leuten die deutsche Sprache beibringen. Die sind Sozialarbeiter, indem sie für Arbeit sorgen. Die sind Professoren, weil sie sich auch intellektuell beteiligen. Und sie sind für unser Viertel wichtig, weil sie eben helfen, Kontakt herzustellen. Sen schreibt: Desto mehr Kontakt man zueinander hat, desto mehr wächst das Interesse. Es ist auch hier unser Grundsatz. Und wir sind hier die Minderheit. Die Mehrheit sind hier die Muslime im Viertel: 60% der Jugendlichen."
Meurers Christen-Gemeinde liegt nach Ansicht vieler Kölner auf der "Schäl Sick", der falschen Seite des Rheins, nämlich nicht dort, wo der Dom steht. Und Höhenberg und Vingst – abgekürzt "Hövi" – gelten als städtische Brennpunkte. Der Bevölkerungsanteil der Einwanderer ist besonders hoch – in vielen Straßen sind zumindest die Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Mehrheit. Meurer lässt gar nicht erst den Verdacht aufkommen, ein Multikulti-Romantiker zu sein:
"Bei uns ist eines der Hauptprobleme, ich kann mir erlauben, das zu sagen, wenn hier nun Muslime, Sechzehnjährige, keine Arbeit haben, auf der Straße herum hängen. Mit ihren Hormonen nicht zurechtkommen. Nicht ordentlich erzogen sind, das ist ein riesiges Problem. Neulich ist hier ein Vater von vier Kindern niedergeschlagen worden von vier Türken vor der Telefonzelle. Vorige Woche war wieder ein Mord an einem Marokkaner. Hier bei uns am Marktplatz. Viele Menschen werden überfallen. Das ist bei uns hier die Realität. Dass wir das soziale Problem der Verwahrlosung hier ganz massiv spüren. Aber umso wichtiger ist es, mit den Kräften die für Ausbildung und Kultur, die für eine moralische Erziehung sorgen, zusammenzuarbeiten."
Pfarrer Franz Meurer ist 55 Jahre alt, vor fast 30 Jahren wurde er zum Priester geweiht. Seit 16 Jahren ist er in Hövi aktiv und trotzt dabei vielen Trends: Seine Kirche ist fast jeden Sonntag überfüllt. Meist gibt es nur eine Messe pro Tag, weil noch vieles anderes, praktisches zu erledigen ist.
Auch die Weihnachtsfeier kurz vor Heiligabend fällt entsprechend aus: Aus den Schulen der Umgebung drängeln Hunderte Kinder aller Nationalitäten in Pfarrer Meurers Kirche. Lange Predigten und Gebete sind nicht vorgesehen, stattdessen spielen die Kinder selbst die Hauptrolle: Sie haben Lieder geübt und nun, wo der große Moment naht, wirken einige Schüler der Ganztags-Hauptschule Nürnberger Straße doch nervös. Ihre Lehrerin mahnt:
"Wir brauchen heute in diesem großen Saal jede Stimme. Jeder Schüler singt so gut und schön er kann, nicht schreien ... können wir noch mal die erste Strophe machen. Jelis, ich muss dich leider nach hinten tun. Ich nehme jetzt die Bianca nach vorne, weil ihr euch schlecht benommen habt.
Meurer: Ihr seid ein Superchor.
Lehrerin: Die machen das doch toll.
Nein, auch Sie. Ihr habt ne tolle Lehrerin. Ernsthaft. Wenn ihr so weiter macht, habt ihr jede Chance im leben. Darauf kommt es an. Ihr seid unglaublich gut."
Auch in Köln fallen viele Hauptschulen eher durch massive Lernprobleme als durch mehrsprachige Chöre auf. In den Stadtteilen Höhenberg und Vingst betreibt die Stadt eigene Programme zur Suchtprävention. Doch Pfarrer Meurer ist fest davon überzeugt, dass die schlechte Ausgangslage durch Engagement ausgeglichen werden kann.
"Du hast in so ner schule wahnsinnig motivierte Lehrer und solche, die zu recht schon völlig resigniert sind und einfach nicht mehr können, ausgebrannt. Da muss man gucken: wie der Chor, das ist doch unglaublich. In einer Hauptschule ein Chor aus den ersten Schulklassen. Wenn die die Kraft behält, dann wird aus den Kindern was. Wenn man das eine halbe stunde durchhält, dann sind die genauso gut. In unseren Erstkommunion-Gottesdiensten beten nur Kinder aus der Sonderschule vor, weil sie sich nach vorne drängeln. Die haben Vertrauen: Wir lesen mit. Da liegt eigentlich schon lernen durch Spiegelung, ja? Anders geht es nicht."
Meurers neuer Kirchenbau ist ganz auf Sozialarbeit ausgerichtet und erfüllt viele Funktionen: Der Rundbau aus Beton beherbergt zwar im Erdgeschoss einen üblichen Kirchenraum. Doch das Untergeschoss ist bereits denkbar weltlich gehalten. Dorthin führt Pfarrer Meurers erster Weg nach der Weihnachtsfeier:
"Der Bau der Kirche folgt dem Bauhaus-Prinzip: form follows funktion, die Form folgt der Funktion. Wir sind organisiert wie Bayer Leverkusen: Jede Abteilung ist ein eigenes Profit Center. Die bestimmen alles selbst, was sie machen. Die machen ihre Team-Sitzungen oder frag mich nicht was. Oder sitzen zusammen... tun erst mal zusammen eineinhalb Stunden Kaffee trinken. Und machen alles klar, das ist ja sehr wichtig."
Die Gemeinde-"Abteilungen" haben viel zu tun, weil hier rund 40 Prozent der Familien Hilfen benötigen, die sie nicht mehr allein vom Staat erhalten können. Liegt die offizielle Arbeitslosenquote in Köln schon bei über 11 Prozent, so sind es in Höhenberg und Vingst bereits 20 Prozent. Für junge Menschen mit Migrationshintergrund vermutet Pfarrer Meurer eine Quote von etwa 40 Prozent Arbeitslosen. Die Gemeinde verteilt deshalb kostenlos Lebensmittel: Einmal pro Woche erscheinen meist 450, am Monatsende schon mal 900 Menschen, um etwas zum Essen abzuholen. Damit die Lebensmittel-Berge umgeschlagen werden können, steht ein Gabelstapler parat. Meurer führt zu einem riesigen Regal voller prall gefüllter Stoffsäcke – die Notrationen der Gemeinde für Menschen in Not:
"Wenn am fünfundzwanzigsten kein Geld mehr da ist, weil eben der Alte gesoffen hat oder was weiß ich. Oder die Mutter eben den Fehler gemacht hat und dem Kind eben doch einen Wunsch erfüllt, und es darf eben doch mit der Schulfahrt mitfahren oder doch den Füller gekauft hat, den die Lehrerin vorschlägt. Und dann ist nichts mehr da für die letzten fünf Tage - soll dann einer schimpfen? Es sind solche Säcke. Die habe ich aber auch bei mir drüben auf der Treppe stehen. Da ist alles drin, was man braucht, um so über 3, 4 Tage zu kommen. Können Sie sich ja vorstellen: Nudeln, Suppe, Gulasch. Bonbons. Das hat einer erfunden, ein ehemaliger Manager. Hier sehen Sie eine dicke Wurst und was weiß ich.
Menschen, die jetzt nicht diese Säckchen bekommen würden, was würden die dann die letzten fünf Tage machen? - Frag mich nicht, was weiß ich? Vielleicht eine Oma überfallen, oder hungern. Ich weiß es nicht. Ich bin kein Politiker. Ich bin nicht für die strukturellen Lösungen zuständig. So es sie denn gibt. Wir versuchen einfach - ohne Ort kein Glück, ohne Orts-Gefühl keine Nachhaltigkeit - hier im Viertel etwas zu verbessern."
Pfarrer Meurer studierte zuerst Sozialwissenschaften, was ihm heute hilft. Den Luxus, sich allein auf Glaubensfragen zu beschränken, kann sich in Höhenberg und Vingst kein Gottesmann erlauben. In seinem Kirchenkeller erstreckt sich hinter der Lebensmittelausgabe ein ganzes Kleiderlager: Dutzende Kommunionanzüge und Kleider warten auf Abholer, die sie selbst nicht bezahlen können. Auch ein Möbellager, ein Internetcafe und eine Werkstatt helfen den Anwohnern. Etwa 15 Kinderwagen, an denen noch die Flug-Aufkleber hängen, dokumentieren ein Abkommen der Gemeinde Sankt Theodor mit den Flughäfen Köln und Düsseldorf, zurückgebliebene Fundstücke zu melden.
"Hier vom Flughafen kriegen wir immer die Kinderwagen. Das ging nach str, was ist denn str?... Straßburg, ja, könnte sein. Hier das war Lufthansa Flug 106 nach Hamburg, ist auch nicht schlecht. Da kriegen wir dann manchmal 80 oder 100 Stück."
Meurers Ruf als "Armenpfarrer von Köln" drang bis nach Berlin, wo ihn damals Kanzler Schröder in sein Amt einlud. Meurer selbst ist CDU-Mitglied, aber ein streitbares: Als die CDU die städtische Wohnungsbaugesellschaft verkaufen wollte, sammelte er Unterschriften dagegen. Als ihn die SPD zu einer Zukunftswerkstatt einlud, ging er hin. Wer ihn aber zum Parteiübertritt auffordert, bekommt einen Vortrag über rechte Sozialdemokraten und das alte, sozial orientierte Ahlener Programm der CDU zu hören. Die ganze Richtung bei den großen Parteien - weniger Sozialpolitik, mehr individuelle Verantwortung trotz ungleicher Voraussetzungen – passt ihm nicht.
"Meine Schwester ist Stadträtin in Südfrankreich. Die kann überhaupt nicht verstehen, dass wir den Kindern nicht allen etwas zu essen geben in der Schule. Sondern nur die Kinder, die gezahlt haben, kriegen etwas. Also kriegen die meisten Hartz IV- Kinder nichts. Denn die Familien geben ihr Geld nämlich nicht für das Essen. Also ist diese Kultur der warmen Mahlzeit weg, interessiert keinen. Obwohl doch jeder weiß, jeder Pädagoge, jeder Psychologe, jeder Vater, jede Mutter, was das für die Kultur unseres Landes bedeutet. Von der Gesundheit Seite jetzt mal ganz abgesehen. Also so ein bisschen Kultur könnten wir doch reinblasen, indem man sagt: so, wir tun jetzt erst mal alle verpflegen. Auch ein bisschen gehoben: in Frankreich gibt es dann immer drei Gänge. Und wenn der letzte Gang Joghurt ist, so ist das für Kinder doch auch schön.... Aber bringt doch nichts, wenn wir sagen: Einzelschicksal, das muss jeder selber wissen."
Weiter hinten zeigt Meurer auf Pappmodelle der Kirche, die die Kinder gebastelt haben. An Nachwuchs mangelt es der Pfarrgemeinde Sankt Theodor nicht. Den jungen Menschen steht die Kirche für ungewöhnliche Aktionen zur Verfügung:
"Es ist ja so: die Messdiener möchten auch einmal in der Kirche übernachten. Das finden die ganz toll. Sie schlafen hier, frühstücken. Mit 40 älteren und jüngeren. Auf diese Idee muss man erst einmal kommen. Die finden das gut. Die haben dahinten auch einen Raum mit einem Kühlschrank. Dass sie ebenso, ja, eben ein bisschen was machen. Da spielen die Spiele und machen Blödsinn."
Dann ist Meurer nicht mehr in der Kirche zu halten. Er verbringt ohnehin mehr Zeit draußen auf den Straßen. Er sieht seine Gemeinde in der Pflicht, die gefährdeten Viertel Höhenberg und Vingst nicht kippen zu lassen. Für seinen Einsatz wurde Meurer 2002 von einem Initiativkreis bekannter Kölner Persönlichkeiten zum ersten "alternativen Ehrenbürger" Kölns gewählt - nachdem zuvor die offiziellen Titel auch an "Kölscher Klüngel"-Kandidaten gegangen waren, die in Korruptions- und Spendenskandale verwickelt sind. Meurers Werben um soziales Engagement setzt erst einmal niedrig an: Zuerst nur mit wenigen Aktivisten begann er vor wenigen Wochen, in der Nachbarschaft Gestrüpp zu entfernen und Blumenbeete zu pflanzen. Damit wollte er das Gemeinschaftsgefühl stärken und gleichzeitig den Drogenhandel stören.
"Hier war alles zugewachsen. Alles. Sie konnten keinen einzigen Baum Stumpen mehr sehen. Jetzt kannst du durch kucken bis zur gesamten Schule. Und du konntest keinen Sportplatz sehen, keine Schule, kein Kindergarten. ... und dann ist doch klar was dann hier los ist. Da waren Drogen. Da ist eine Gesamtschule. Hier sind zwei Grundschulen, da ein Kindergarten. Da ist eine ganztags Hauptschule. So - und jetzt kann man doch nicht meckern, oder? Vor allem ist alles weg. Hier werden keine Drogen mehr gehandelt. Du kannst also relativ schnell einen Effekt erzielen."
Bei seiner Rückkehr ins Gemeindeheim trifft Meurer gleich auf mehrere Besucher: Neben seiner evangelischen Kollegin ist ein türkischstämmiger junger Mann erschienen, der sich schon mal seinen zukünftigen Arbeitsplatz anschauen wollte.
"Dann melde dich mal ... Wir sind sehr stolz, dass er als türkischer Mitbürger hier Zivildienst machen wird. Sie kennen ja alles im Viertel. Er sollte das hier mal sehen schon mal."
Wie nebenbei kommt Meurer darauf zu sprechen, dass der junge Mann unlängst Opfer eines Verbrechens wurde – Alltag in Hövi-Land.
"Unserem neuen Zivildienstleistenden haben sie leider in die Milz gestochen. Hier unsere Jungens sind eben handgreiflich, wenn sie ihre Ehre verletzt fühlen. Die Gernsheimer Minigangster aus der Gernsheimer Straße ... die hauen sich eben mit unserem auch und da haben sie ihm in die Milz gestochen. Aber zum Glück hat er gut überlebt."
Das aufwendigste Projekt der Gemeinde ist HöVi-Land, ist Kölns größtes Ferien-Zeltlager, zu dem jeweils im Sommer 500 Kinder erscheinen: drei Wochen lang, Tag für Tag. Seit elf Jahren mobilisiert Meurer für HöVi-Land fast seine ganze Gemeinde. Und auch die Zusammenarbeit im Viertel erreicht dann ihren Höhepunkt: Bürgervereine, die evangelische Gemeinde und die Muslime leisten ihren Beitrag genauso wie auf der Weihnachtsfeier. 60 Rentner bewachen abwechselnd nachts die Zelte, einmal sind auch die Rentnerinnen dran. Und etwa 100 Betreuer nehmen jährlich an Vorbereitungskursen teil. Seit Beginn wurden in den beiden Stadtteilen auf diese Weise über 1000 Jugendbetreuer ausgebildet.
"Das ist sicher ein entscheidender Vorteil, dass die alten Werte der Arbeiter-Kultur noch vorhanden sind. Solidarität, Nachbarschaft, Zusammenhalt, dass man sich daran erbaut zum Beispiel... Etwas von dieser Qualität ist noch da. Das bekommt dann einen gewissen Sog nach einer gewissen Zeit. Dann ist das einfach schön. Nehmen wir den Arzt, wo man fragen kann warum ist er denn hier? Dessen Kinder sind auch hier, dessen Frau ist auch hier und macht den Mitarbeiter Kindergarten. Er ist entspannt hier, alle freuen sich, wenn sie in sehen. Ob das für den nun schöner ist wenn er einen Familienurlaub organisiert, drei Wochen in Italien, das weiß man doch alles gar nicht. Was jetzt mehr Entspannung ist, was schöner ist."
Der Spaß der Kinder drückt sich in Tönen der Erinnerung vom letzten Sommer aus:
"Meurer: ist der denn lieb zu dir? Kind: Ja, wir beide sind Freunde. - Echt? - Freund und Freundin. Letztes Jahr waren wir zusammen in einer Gruppe, jetzt ist sie im Zelt neben mir. - Echt? Vielleicht ist das er sogar ein bisschen spannender. Da kannst du sie ab und zu besuchen, nicht? Mach's gut. - Tschüs. - Wir sind Freunde. ist das nicht schön? Ist doch wunderbar."
Eltern zahlen selbst für aufwendige Projekte wie HöVi-Land nur einen nominellen Beitrag. 150 ehrenamtliche Betreuer organisieren die Versorgung. Zelte sind bei sämtlichen Gemeindefesten die Spende eines Zeltverleihers. Ein professioneller Elektriker nagelt beim Sommerlager Durchlauferhitzer notfalls auch an Bäume. Und der "Kölsche Klüngel" zeigt hier ausnahmsweise mal seine positiven Seiten: Zum Beispiel steht das große Camp für HöVi-Land zweifelsfrei mitten in einem Naturschutzgebiet – mitsamt vielen Gerätschaften, die dort eigentlich nicht hingehören. Doch nach dem dezenten Hinweis der Behörde, dass Geräte wie die Trafostation durchaus auf "befestigtem Gelände" stehen dürften, waren plötzlich nicht ganz zufällig an einer günstigen Stelle neue Bodenplatten zu finden. Die städtische Müllabfuhr verzichtet bei den meisten Veranstaltungen auf Gebühren – zum Ausgleich werben auf Veranstaltungen große Transparente für deren Betrieb.
"Es gibt ein afrikanisches Sprichwort, das heißt: it needs a village to rise a child. Es braucht einen ganzen Ort, um ein Kind zu erziehen. Das müssen wir auch machen. Diese Segmentierung, diese Segregation heißt ja nicht nur, dass man die armen ausgrenzt, sondern heißt ja auch, dass jeder darauf vertraut, ich mache ein klein wenig selbst, den Rest macht schon der Staat. Oder ich kaufe mir das dazu. Wie auch immer. Eine Gesellschaft, die das nicht schafft die Kohärenz-Kräfte, die antipedalen Kräfte zusammen zu halten, die geht ja sowieso auf Dauer vom Markt."
Nun verteilt Meurers Gemeinde vor Ort Weihnachtsgeschenke an Bedürftige: Der gemeinnützige Verein "Kölner Tafel" lud zuerst in das Gemeindehaus, um Geschenke abzugeben. Vor Weihnachten stellen sich die ersten Stunden vorher an, um sich ein Paket abzuholen. In der Schlange werden viele Sprachen gesprochen, bis es endlich soweit ist:
"Autor: Und - sind Sie zufrieden mit ihrem Paket? – Ja doch. – Was ist drin? – Ein Plüschtier, Weihnachtsdeko, Süßigkeiten, Bücher. Eine Flasche Sekt sogar (lacht). Ja, das kann ich gut gebrauchen jetzt. Das tu ich auch weg für Heiligabend. Damit wir ein bisschen Freude haben. – Warum können Sie es gut gebrauchen? – ja, weil wir auch von Hartz 4 leben. Weihnachten sieht dann schlecht aus. ... ja gut, nen Tannenbaum gehe ich noch holen und ein bisschen Süßigkeiten noch so. Aber große Geschenke kann ich mir nicht leisten für die Kinder. ... ich habe einen Jungen, der ist 11 Jahre. Und eine Tochter mit acht Jahren. Und die freut sich über das Plüschtier auf jeden Fall. 3747 Pfarrer Meurer ist schon ein Begriff für die ganzen Sachen, die der macht. ... Dass er sich auch für die Jugendlichen und die Kinder einsetzt, Ansprechpartner für die Kinder ist. Und das ist wichtig, dass die Kinder einen haben."