Der Anfang vom Ende des Ostblocks

17.03.2009
Ungeheuerliches geschah vor 20 Jahren im kommunistischen Ungarn. Die Opposition wurde zugelassen, die Sperranlagen Richtung Westen abgebaut und die Grenze für DDR-Flüchtlinge geöffnet. György Dalos und Andreas Oplatka, beide in Budapest geboren, haben in ihren beiden Büchern Neues über das Wendejahr 1989 zutage gefördert.
Andreas Oplatka, Jahrgang 1942, lebt seit 1956 in der Schweiz. Für seine Monographie sprach er mit siebzig Akteuren von damals, auch mit Gorbatschow, Genscher und Günter Schabowski. (Nur einer verweigerte sich: Helmut Kohl.) Der Schriftsteller György Dalos (geboren 1943, wohnhaft in Berlin) beschreibt den Untergang der Diktaturen in Ost-Europa (mit Ausnahme des Baltikums); ein Kapitel ist seiner Heimat gewidmet.

Bei ihren Recherchen entdeckten die Verfasser Überraschendes. Erstens: Die ungarische Politik des Wendejahrs war eine Kette von Missverständnissen und halbherzigen Entschlüssen. Chaos herrschte, auch an der Grenze; beinahe wäre es zum Blutvergießen gekommen. Zweitens: Die Budapester Führung spielte ein gefährliches Spiel, sie informierte weder die Genossen in Ost-Berlin noch die in Moskau. Der Kreml war dennoch immer im Bilde, meint Oplatka. Drittens: "Ungarn verkauft keine Menschen" - das sagte Ungarns Premier Miklos Németh im August 1989 bei einem Treffen zu Kohl und Genscher; man wolle für die Grenzöffnung keine Gegenleistungen. In Wirklichkeit, schreibt Dalos, ging es bei den Gesprächen durchaus auch um Finanzielles. Viertens: War das Loch im ungarischen Zaun der Auslöser für die Zeitenwende? Nein, behaupten beide Autoren. Die Ereignisse in Ungarn hätten die Entwicklung lediglich beschleunigt. Fünftens: Ein Foto vom Juni 1989 zeigt Außenminister Gyula Horn und seinen Amtskollegen aus Wien, wie sie mit gewaltigen Scheren den Stacheldraht zerschneiden. Horn gilt landläufig als Vorkämpfer der Grenzöffnung. War er das? Abermals nein. "Die Hauptrolle, kein Zweifel, kam Ministerpräsident Miklós Németh zu", betont Oplatka. Herrn Horn beschreibt er als klassischen Wendehals, seine Darstellung der Ereignisse als "überaus unzuverlässig".

Aber sind die Darstellungen in den zwei Büchern überhaupt zuverlässig? Nur bedingt, räumt Oplatka ein. Manche Dokumente seien noch nicht freigegeben, die Memoiren der Politiker geschönt, in den Interviews äußerte jeder seine Version der Wahrheit. "Diese widerspricht nicht selten dem, was andere für die Wahrheit halten." Und so forschte der Historiker schließlich nicht mehr nach der Wahrheit, sondern nur noch nach dem "wahrscheinlichen Verlauf der Ereignisse".

György Dalos und Andreas Oplatka haben lesenswerte, informative Studien vorgelegt. Dalos überzeugt mit ironischem Blick auf das Wendejahr. In seinem Essay skizziert er einen "gemütlichen Weltuntergang", "die Apokalypse in der Operettenversion"; er zitiert Anekdoten, bizarre Dialoge der Ostblock-Führer und sogar eine skurrile Straßenumfrage aus dem Budapest der Achtziger. ("Wer war Karl Marx?" Nach Ansicht von Passanten: ein sowjetischer Philosoph, der Lenin ins Ungarische übersetzte und irgendwann hingerichtet wurde.)

Oplatka geht in die Tiefe, bisweilen verliert er sich dort in den ungarischen Zuständen. Auch etwas mehr Schwung hätte seiner Arbeit gut getan. (Und beide Texte verdienten größere sprachliche Sorgfalt.) Die Grenzöffnung samt ihren Folgen verbucht Oplatka am Ende knapp als "Erfolgsgeschichte". György Dalos ist skeptischer. Er berichtet von einer neuen "Hasskultur" im freien Ungarn, von antisemitischen und chauvinistischen Strömungen. Und mit Bedauern und leisem Zynismus verabschiedet Dalos sich von jener Bürgerbewegung, die er einst mitgeprägt hat.

Rezensiert von Uwe Stolzmann

György Dalos: "Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa"
Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla
C. H. Beck Verlag, München 2009
272 Seiten, 19,90 Euro

Andreas Oplatka: "Der erste Riss in der Mauer. September 1989 – Ungarn öffnet die Grenze"
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2009
303 Seiten, 21,50 Euro