Der Anachronismus der Wutbürger

Von Richard Herzinger |
Man muss nicht gleich an Joseph Goebbels’ berüchtigte Sportpalast-Rede denken, um angesichts von Heiner Geißlers Wort vom "totalen Krieg" zu erschaudern. Tatsächliche Opfer realer Kriege rund um den Globus dürfte fassungsloses Staunen ergreifen, zeigte man ihnen diesen vermeintlichen Kriegsschauplatz Stuttgart: Eine nach wie vor blitzsauber geordnete, wohlhabende Stadt in einem der reichsten, sozial- und rechtstaatlich am besten abgesicherten demokratischen Länder der Welt.
Geisslers rhetorischer Fehltritt zeigt, dass in dem für Außenstehende mittlerweile kaum noch nachvollziehbaren Gerangel um "Stuttgart 21" jedes Maß für Proportionen abhanden gekommen ist. Gewiss, freie Bürger haben jedes Recht, sich selbst gegen mit demokratischer Mehrheit getroffene Entscheidungen aufzulehnen und ihrem Protest im Rahmen der Gewaltfreiheit auch laut und drastisch Luft zu machen.

Doch wenn wir die äußerste Erbitterung der Stuttgart-21-Gegner betrachten, sollten wir uns immer einmal wieder vor Augen halten, was den Stuttgartern eigentlich für ein Unheil droht: Nicht der Entzug ihres stattlichen Wohlstands, nicht die Vertreibung aus ihren Häusern. Sondern der Bau eines hochmodernen unterirdischen Bahnhofs, der sie besser und schneller an das europäische Verkehrsnetz anbinden soll.

Den mag man aus guten Gründen für eine Fehlplanung halten. Die überdimensionierte Aufgebrachtheit, die dieses Projekt ausgelöst hat, lässt sich jedoch kaum aus der Sache selbst heraus erklären. Die Frage, ob der Bahnhof so wie geplant gebaut wird oder nicht, ist zu einem symbolischen letzten Gefecht zwischen "dem Volk" und den angeblich von ihm restlos entfremdeten Machteliten aufgebläht worden.

Weil sich die Bahnhofsgegner daher in einer Art akuten Notstandssituation wähnen, in einer Art finalem Abwehrkampf gegen die Beseitigung der Demokratie und ihre Überwältigung durch ein autoritäres Machtkartell, erscheint ihnen jeder neue Überzeugungs- und Schlichtungsversuch von der anderen Seite, jedes neue ihren Ansichten zuwider laufende Gutachten, jegliches Gerichtsurteil und jeder Kompromissvorschlag, der ihre Vorstellungen nicht vollständig erfüllt, als Teil eines abgekarteten Täuschungsmanövers dieses durchtriebenen Gegners. Obwohl mittlerweile die alte Landesregierung, die von den Protestierern als eine der Wurzeln des Übels gebrandmarkt worden war, ausgewechselt wurde und jetzt in Baden-Württemberg eine Partei regiert, die den Bahnhofsgegnern nahe steht, hat sich an dieser Haltung absoluten Misstrauens und des absoluten Unwillens zum Nachgeben nichts geändert.

Vor einem Jahr löste dieser wütende Starrsinn bundesweit noch alarmierte Bewunderung aus, indiziere er doch ein wachsendes Ohnmachtsgefühl der Bürger gegenüber einer zunehmend bürgerfernen politischen Klasse, das in Stuttgart nun spektakulär durchbrochen werde. Inzwischen aber erscheint der "Wutbürger"-Gestus bereits anachronistisch. Die hektische Kehrtwende der Bundesregierung in Sachen Atomausstieg hat mittlerweile gezeigt, dass die Regierenden gegenüber dem Bürgerwillen keineswegs unempfindlich sind - dass sie vielmehr zuweilen allzu beflissen ihr Mäntelchen nach dem demoskopischen Wind hängen.

In Stuttgart freilich lässt sich der Wille der Bahnhofsprojektgegner nicht in reiner Form durchsetzen. Das sollten sie nun langsam einzusehen beginnen. Zur demokratischen Kultur gehört auch, irgendwann zu erkennen, dass man verloren hat oder doch zumindest nicht auf ganzer Linie siegen kann. Und zu begreifen, dass das absolute Festhalten am eigenen Recht schlimmer sein kann als zu lernen, mit einer ungeliebten Entscheidung zu leben. Die Republik hat sich von der maßlosen Übersteigerung eines schwäbischen Kommunalproblems jedenfalls schon zu lange in Atem halten lassen.


Dr. Richard Herzinger, Jahrgang 1955, ist Journalist und Buchautor. Er arbeitet als politischer Korrespondent der "Welt" und der "Welt am Sonntag". Zuvor war Herzinger Deutschlandkorrespondent der in Zürich erscheinenden "Weltwoche" und arbeitete als Redakteur und Autor der Wochenzeitung "Die Zeit". Letzte Buchveröffentlichungen: "Die Tyrannei des Gemeinsinns – ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft" und "Republik ohne Mitte".
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