Der Amur-Tiger stirbt aus

Von Christina Nagel · 07.02.2011
Illegale Abholzung, Wilderei und Schmuggel haben die Zahl der Tiger weltweit dramatisch sinken lassen. Vor 100 Jahren lebten noch 100.000 Tiger auf der Erde, heute sind es nur noch etwa 3200. Auf einem internationalen "Tiger-Gipfel" Ende letzten Jahres in Sankt Petersburg haben sich die Regierungschefs der 13 Tiger-Staaten darauf geeinigt, den weltweiten Bestand bis 2022 zu verdoppeln. Außerdem wurden finanzielle Mittel zur Rettung der Raubkatzen angekündigt. Auch der Herrscher der Taiga, der Amur-Tiger, hat dies dringend nötig. Im Fernen Osten Russlands leben nur noch 450 Exemplare.
Geschickt lenkt Wildhüter Sergej seinen grauen, russischen Kleintransporter durch tiefe, schlammige Pfützen und über dicke Steinbrocken hinweg. Der UAZ neigt sich mitunter bedenklich zur Seite. Dass sich die Passagiere hinten krampfhaft am Türgriff und an einem kleinen Tisch festhalten, entlockt Sergej nur ein leichtes Lächeln. Wir sind unterwegs im Schutzgebiet Leopardowy, das rund 60 Kilometer von der Hafenstadt Wladiwostok entfernt, im Fernen Osten Russlands liegt. Hier befindet sich das letzte Rückzugsgebiet des Amur-Tigers, der auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion für stark gefährdete Tiere steht.

Warum ist der Amur-Tiger so etwas Besonderes? Zum einen, weil er der größte Tiger ist. Er ist der einzige, der mit Schnee und tiefen Temperaturen klar kommt. Deshalb besitzt er auch das dichteste, längste und schönste Fell von allen. Und er lebt in der größten zusammenhängenden Tiger-Population der Welt, erklärt unser zweiter Begleiter, Sergej Aramilew von der internationalen Naturschutzorganisation WWF. Der 27-Jährige hat sich, wie auch der Rest seiner Familie, ganz dem Schutz des Tigers verschrieben.

Mühsam quält sich unser Transporter den Berg hinauf. Die letzten Meter geht es zu Fuß weiter. Bis an den Rand der Kuppe. Vor uns breitet sich wie ein riesiges grünes Meer dichter Mischwald aus - das Revier des Amur-Tigers.

Ihre Anwesenheit demonstrieren die bis zu 300 Kilogramm schweren, scheuen Wildkatzen nur indirekt. Unter anderem durch Kratz- und Urinspuren an Bäumen:

"Der Tiger stellt sich auf die Hinterbeine und schlägt seine Krallen in die Rinde. Wenn ein anderer männlicher Tiger vorbei kommt, stellt er sich ebenfalls auf die Hinterbeine. Kommt er nicht so hoch wie sein Vorgänger, weiß er, dass er schwächer ist und geht. Ist er größer, wird er als der Stärkere versuchen, den anderen Tiger zu verjagen und das Revier für sich beanspruchen."

Sergej winkt uns weiter. Er hat mit seinem geschulten Auge eine Spur auf dem Weg entdeckt. Ein eindrucksvoller Pranken-Abdruck im Schlamm – größer als die Hand eines Erwachsenen:

"Von der Größe des Abdrucks her muss es sich um ein Männchen handeln. Ein großes Männchen jagt auf einem Gebiet von rund 10.000 Hektar und lässt zwei, manchmal auch drei Weibchen zu."

Für Sergej ist die Spur nicht nur Beweis für die Existenz der Tiger, der Abdruck bietet ihm auch eine Fülle von Informationen:

"Der Tiger muss hier gestern vorbeigekommen sein. Die Spur ist frisch. Vor zwei Tagen hat es geschüttet. Der Regen hätte die Spur sonst weggewaschen. Das heißt, dass der Tiger hier wieder in zwei Wochen, plus minus zwei, drei Tage auftauchen wird. Der Weg ist für ihn bequem, weil über den Kamm des Berges führt und es hier eine Menge Beutetiere gibt. Er kann also leicht jagen."

Erscheint der Tiger binnen eines Monats nicht, können die Wildhüter davon ausgehen, dass etwas passiert ist.

Bedroht wird die Population vor allem durch Wilderer. Der Handel mit Tigerfellen und Knochen, aus denen vor allem in China vermeintliche Wunder-Medizin gemacht wird, ist nach wie vor lukrativ. Über 15.000 Euro werden pro Tier gezahlt. Viel Geld in einer strukturschwachen Region, in der das monatliche Durchschnittseinkommen bei rund 400 Euro liegt.

"Für viele Leute hier ist dies die einzige Einnahmequelle. Sie wildern, erschießen Tiere und verkaufen alles in der Stadt. Das ist ihr Geschäft. Sie verkaufen praktisch alles, was sie finden können: Fleisch, Haut, Fisch, Kaviar, Ginseng. Sie tun das, um zu überleben, um ihren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen, um Kleidung zu kaufen. Es gibt hier keine Jobs. Nur Arbeitslosigkeit","

erklärt Wildhüter Anatoli Below wenig später im Besucherzentrum nahe des Dorfes Barabasch. Der 48-jährige Boxchampion kämpft seit 20 Jahren gegen Wilddiebe und wird demnächst in Großbritannien von Prinz Philip für seine Verdienste mit einem Orden ausgezeichnet.

Für den bulligen End-Vierziger ist klar, dass die letzten Amur-Tiger nur dann gerettet werden können, wenn der Staat auch mehr für die Menschen in der Region tut. Vor allem für die, die in den Dörfern leben:

""Man müsste den Leuten Arbeit geben. Wenn man zwischen 120 und 230 Euro verdienen würde, könnte man leben. Nicht alle hier sind Säufer. Es gibt einfach keine Jobs, deshalb gehen sie in die Wälder."

Bei allem Verständnis für die materiellen Sorgen der Dorfbewohner – die Ranger versuchen, jede Form der Wilderei zu unterbinden. Schließlich geht es um das Überleben der letzten 450 Tiger.

Unser Fahrer Sergej stoppt deshalb auch sofort, als er auf einer Patrouillenfahrt zwei Männer mit Rucksäcken sieht. Er stellt sie zur Rede, will wissen, was sie im Schutzgebiet verloren haben. Die Männer geben sich betont locker. Einer zündet sich demonstrativ eine Zigarette an.

Ihre Rucksäcke sind leer. Sergej muss sie gehen lassen – wenn auch mit einem unguten Gefühl. Selbst wenn man Wilderer auf frischer Tat ertappe und sie festnehmen könne, erklärt uns Anatoli im Auto, heiße das noch lange nicht, dass sie auch bestraft würden. Oft genug treffe man die Wilderer wenige Tage später wieder im Wald – mit den kurz zuvor beschlagnahmten Gewehren:

"Ein Verfahren einzuleiten, ist leicht. Aber dann kommt der Wilddieb mit einem guten Anwalt und einem Haufen Ausreden. Dazu kommt, dass du, wenn du ihn erwischst, zwei Zeugen dabei haben musst. Wo nimmst du die im Wald her? Heute bist du in einer Gruppe unterwegs, triffst aber keinen Wilderer. Morgen bist Du allein und stehst vor 20 Wilderern – und schon geht das Verfahren den Bach runter. Das ist das Problem mit unseren Gesetzen."

Eine Erfahrung, die auch Tatjana Aramilewa, die Leiterin der staatlichen Jagd-Behörde im Gebiet Primorje, machen musste. Die Beamten hatten den Fall eines Jägers vor Gericht gebracht, der ein sechs Monate altes Tigerjunges in der Nähe eines Dorfes erschossen hatte. In einem ersten Prozess war er zu einer Strafe von knapp 40 Euro und einer Kompensationszahlung von über 12.000 Euro verurteilt worden. Dann ging er in Berufung:

"Er hat dann vor Gericht Fotos benutzt, die zeigten, wie ein ausgewachsener Tiger einen Menschen tötet. Der Richter kassierte darauf das Urteil und erklärte, der Jäger sei unschuldig."

Die Tatsache, dass Tiger Menschen nicht ohne Grund angreifen, habe angesichts der blutrünstigen Bilder keine Rolle mehr gespielt.

"Er hat also keine Strafe gezahlt. Und auch keine Entschädigung. Dazu kommt, dass es ein Präzedenzfall war: Seither sagen viele Jäger, die man beim Töten eines Tigers erwischt, das Tier habe sie angegriffen. Es sei Selbstschutz gewesen. Wir müssen dann das Gegenteil beweisen."

Dabei haben die Behörden auch so genug zu tun. Unter anderem mit sich selbst. Die russische Gesetzgebung im Bereich der Jagd- und Forstwirtschaft ändert sich ständig. In den vergangenen Jahren wurden immer wieder neue Strukturen geschaffen. Kompetenzen verlagert. Nicht immer ist klar, wer gerade für was zuständig ist.

Da ist zum Beispiel die Spezialeinheit "Tiger". 1994 wurde die staatliche Behörde gegründet, um vom Aussterben bedrohte Tiere und Pflanzen zu schützen – und zwar über Verwaltungsgrenzen hinaus. Hauptaufgabe sei es gewesen, den Amur-Tiger zu retten, erklärt Direktor Viktor Gaponow.

Die Russlandweit einmalige Behörde hatte weitreichende Kompetenzen. Und arbeitete durchaus erfolgreich. Dann aber wurden nach und nach ihre Befugnisse durch administrative Reformen beschnitten. Heute gleicht das stolze Spezialeinsatzkommando nur noch einem Papiertiger:

"Unsere Funktion ist also, wie soll ich sagen, nicht mehr dieselbe. Wir haben keine Verwaltungs- oder Polizeiaufgaben mehr. Das heißt wir jagen keine Wilderer mehr, schreiben keine Protokolle, keine Vorgaben mehr, bestrafen niemanden. Unsere Hauptaufgabe ist es jetzt, sämtliche Daten über den Amur-Tiger zu sammeln"

Dabei geht es auch um den Zustand seines Reviers. Aus der Hubschrauber-Perspektive scheint auf den ersten Blick alles in Ordnung. Unter uns breiten sich riesige Misch- und Nadelwälder aus. Leider sei aber nur noch ein Sechstel der Fläche gesunder, echter Urwald, sagt Sergej vom WWF:

"Von oben sieht der Wald gut aus. Aber wenn man hineingeht, merkt man schnell, dass die Bäume minderwertig sind. Sie produzieren keine Samen, es gibt kein Jungholz. Damit fehlt den Huftieren das Futter. Sie können sich nicht mehr richtig entwickeln, was wiederum Auswirkungen auf den Tiger hat. Ohne Beute, kein Tiger."

Dass der Urwald immer kleiner wird, liegt vor allem daran, dass alte Eichen, Eschen und Koreanische Kiefern rücksichtslos illegal abgeholzt werden. Je weiter wir fliegen, desto häufiger sind in den eigentlich geschützten Wäldern karge Flächen zu sehen.

Hinter dem illegalen Holzeinschlag steckt ein gut organisiertes, mafiöses System, in dem korrupte Beamte eine wichtige Rolle spielen. Der Bedarf an Holz überall in der Welt, ist so groß, das Geschäft so lukrativ, dass die Drahtzieher viele Hände großzügig schmieren können und trotzdem immer reicher werden.

Der Leiter der Forstbehörde des Gebiets Primorje, Petr Dijuk, war jedenfalls mit dem System hoch zufrieden. Wie eine Dokumentation des russischen Fernsehsenders Rossija, gedreht mit versteckter Kamera, beweist:

"Es sind Naturschutzgebiete geblieben, die man nicht verpachten darf. Sonst fangen die Naturschützer sofort an zu schreien. Aber wir holzen da trotzdem ab. Das nennt man in der Behördensprache dann Waldpflege. Das sind etwa 30 bis 50.000 Hektar."

Dass es irgendwann keinen Wald und damit auch keinen Tiger mehr in der Region geben wird, das interessiert den Beamten weniger. Für ihn ist wichtig, dass der Rubel rollt:

"Wenn man etwas verpachtet, schlägt man einfach auf den Preis noch zehn Dollar drauf. Für sich selbst. Man macht nichts, man arbeitet nicht, aber man ist im Alter von 49 Jahren mit einer Million Dollar gut versorgt."

Dijuk wurde nach Ausstrahlung der Dokumentation suspendiert. Eine Überprüfung in Gang gesetzt. Das Ergebnis ist erschütternd: Dijuk sei missverstanden worden. Zudem habe es sich um ein persönliches Gespräch gehandelt. Man könne ihm nichts vorwerfen. Dijuk ist also wieder in Amt und Würden.

Ohne "kryscha", wie es im Russischen heißt, also ohne Deckung durch die Behörden, wäre weder die maßlose illegale Abholzung in Schutzgebieten möglich. Noch der Schmuggel von Tigerfellen, Knochen und Kadavern. 8000 Dollar pro Lieferung – und die Beamten an der Grenze zwischen Russland und China würden nichts hören, nichts sehen und nichts finden, sagt Sergej Ljapustin.

Der erfahrene Beamte, der in Wladiwostok junge Zöllner ausbildet, weiß, wovon er spricht. Er hat selbst lange genug an der Grenze gearbeitet. Er kennt die Schwarzmarktpreise und die Verstecke der Schmuggler:

"Mal ist es das Reserve-Rad, mal der Benzintank. Oft sind doppelte Böden oder Decken eingezogen. Oder doppelte Wände in LKW."

Nicht selten wird über der wertvollen Ware Müll transportiert. Oder aber nasse stinkende Viehhäute. Ljapustin selbst musste sich mehr als einmal überwinden, im Dreck zu wühlen, mit Erfolg:

"Wir eröffnen pro Jahr zwischen 50 und 100 Strafverfahren. Und zwar allein wegen Schmuggels seltener Tierarten. Wenn wir da noch den Schmuggel von Holz und geschützten Meerestieren mit berücksichtigen, kommen wir auf mehrere Hundert, wenn nicht Tausend Verfahren."

Ljapustin öffnet einen Schrank und holt zwei wunderschöne Felle hervor. Das eines Leoparden und eines Amur-Tigers. Schmuggelware aus der Region, abgefangen auf dem Weg nach China.

Russische Experten gehen davon aus, dass China seine eigene Tiger-Population fast komplett ausgerottet hat. Reelle offizielle Zahlen, sagt Sergej vom WWF, seien nicht zu bekommen. Immerhin gibt es seit drei Jahren einen Austausch zwischen den beiden Nachbarstaaten. Russische Spezialisten reisen regelmäßig nach China, um die Wildhüter dort zu schulen. Sie zeigen ihnen, wie man die Spuren der Tiger erkennt und wie man Buch führt.

Sergej hofft, dass irgendwann ein grenzübergreifendes Naturschutzgebiet entsteht. Wenn die Tiger mehr Raum hätten, mehr Futter, könnte die Population wieder wachsen:

"Die Chinesen haben versprochen, die Bedingungen in den Schutzzonen an der Grenze zu verbessern. Sie sind sogar bereit, einen Teil der Bevölkerung umzusiedeln."

Aber auch auf russischer Seite gebe es noch viel zu tun, meint der Direktor des staatlichen Naturschutzgebietes Kedrowaja Pad', Sergej Chochrjakow. Ihm stehen gerade einmal 32 Männer zur Verfügung – für ein Gebiet das knapp 18.000 Hektar groß ist.

Er zeigt auf zwei muskelbepackte Männer, die mit nacktem Oberkörper im hinteren Teil des Gartens Kampfsportübungen absolvieren. Die Ranger, sagt er, seien fit und auch motiviert. Aber es seien eben nur wenige, noch dazu mit schlechter Ausrüstung.

Wenn die Regierung im fernen Moskau es wirklich ernst meine mit dem Naturschutz, müsse endlich etwas getan werden, meint der Direktor:

"Wenn der Schutz der Tiger, Leoparden, der Wildtiere und der Landschaft tatsächlich, wie es immer heißt, Aufgabe des Staates ist, dann muss der Staat diese Arbeit auch finanzieren. Ich will endlich sehen, dass sich der Staat kümmert, ich will mich als jemand fühlen, der vom Staat als Mitarbeiter ernst genommen wird."
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