Der Amtsinhaber

Von Katja Bigalke |
Für die Krisenzeit hat sich Horst Köhler die Rolle des Mutmachers ausgesucht. Ob bei Regionalbesuchen, Staatsempfängen oder in seiner – für diese Amtszeit – letzten Berliner Rede: Das Motto des ehemaligen IWF-Chefs heißt „Krise als Chance“.
Hoffnung spricht er den Menschen in Sachsen zu, die um die Wirtschaftsstandorte in ihrer Region fürchten, Geschlossenheit zeigt er mit dem Präsidenten Portugals, dessen Land als potenzieller Rettungskandidat in der EU gilt, Kraft und Energie zum Umbau fordert er in seinen Reden von allen Bürgern.

Im Park des Schlosses Bellevue steht die Ehrenkompanie der Bundeswehr stramm. Heute gilt eine der höchsten Protokollstufen – der Präsident Portugals wird erwartet. Doch bevor Hausherr Horst Köhler sich seinem Amtskollegen aus Lissabon widmet, begrüßt er die angetretenen Soldaten. Nicht militärisch zackig, sondern ungezwungen wie ein Trainer seine Fußballmannschaft.

Dann eilt Köhler zur Vorderfront des Schlosses, um Anibal Cavaco Silva und seine Frau zu empfangen. Auf der Freitreppe liegt ein roter Teppich. Auch das gehört zum Protokoll, ebenso wie der anschließende Eintrag ins Goldene Buch und die Vorstellung der zum Empfang erschienenen Gäste. Fünf Minuten sind dafür vorgesehen, dann ist wieder die Ehrenkompanie dran – nun ganz offiziell.

Das Musikkorps spielt die Nationalhymnen, die beiden Präsidenten schreiten die Ehrenformation ab. Äußerlich unterscheidet sie nicht viel – beide tragen schwarze Mäntel, darunter anthrazitfarbene Anzüge mit weißem Hemd und Krawatte. Während Anibal Cavaco Silva bei jedem Schritt die Würde seines Amtes anzusehen ist, spaziert Köhler ganz unstaatsmännisch an den Soldaten vorbei.

Hinter den Absperrkordeln verfolgt eine Gruppe Jugendlicher mit Handys und Digitalkameras das Geschehen. Mit ihren feierlichen dunklen Sakkos sehen sie aus wie Konfirmanden. Als Köhler an ihnen vorbeikommt, spricht er sie an:

„Spricht jemand von euch Portugiesisch? Aber Englisch!“

Auch sein portugiesischer Amtskollege stellt jetzt – auf Englisch – ein paar höfliche Fragen.

Die Schüler nicken freundlich, schauen den beiden Präsidenten hinterher. Ja, die Begegnung war nett, sagen sie. Sonderlich mitgerissen wirken sie nicht.

„Ist wirklich ganz locker drauf – ganz sympathisch.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass er jemanden anspricht.“
„Ich hab noch nie so viele Soldaten auf einem Haufen gesehen und auch keine Militärkapelle.“

Aufgekratzter ist die Stimmung unter den mitgereisten portugiesischen Journalisten. Neugierig laufen sie dem schnörkellosen vorderen Saal hin und her, wo in einer halben Stunde die Präsidenten vor die Medien treten werden. Verwundert nehmen die Portugiesen zur Kenntnis, wie eingeschränkt die Machtbefugnisse des deutschen Präsidenten sind. Und auch mit wie wenig Pomp sein Amtssitz auskommt. Aber diese Bescheidenheit passt gut zu Köhler, meint der Reporter Antoni Paskais und lacht:

„Ich denke, Herr Köhler ist als Persönlichkeit eher ein nicht ganz so staatstragend wirkender Mensch – ist eher der Horst von nebenan. Ist den Journalisten auch so aufgefallen.“
Die beiden Präsidenten und ihre Frauen betreten den Saal. Rasch bauen sich die Journalisten hinter ihren Kameras auf, zücken die Notizblöcke. Die kleine Pressekonferenz beginnt. Freundlichkeiten werden ausgetauscht und Köhler weist auf die besonderen persönlichen Verbindungen zwischen ihm und seinem Gast hin.

„Wir kennen uns schon seit geraumer Zeit. Und haben uns bei internationalen Treffen immer wieder ausgetauscht. Und der Austausch ist besonders angenehm, weil wir beide gelernte Ökoomen sind. Wir wissen, wovon wir sprechen.“

Auf den ökonomischen Sachverstand, den er sich in langen Jahren als Spitzenbeamter im Finanzministerium und später als IWF-Chef erworben hat, ist Horst Köhler stolz. Er sieht sich als pragmatischer Präsident, der helfen will, die Bürger durch die Krise zu lotsen. Sie ist eine Chance für eine gesellschaftliche Wende, betont er, und kein Anlass für ideologisches Parteiengezänk:

„Ich kann sagen, dass wir beide nicht Präsidenten sind mit operativer Zuständigkeit und wir doch unsere Möglichkeiten nutzen, um zu sagen, dass Wahlkämpfe auch stattfinden müssen, aber die Regierungen sich davon nicht abhalten lassen sollen, die Vorraussetzungen zu schaffen, dass es wieder aufwärts geht. Diesen Hinweis werden sich beide Präsidenten nicht nehmen lassen.“

Zwei Fragen sind den Journalisten noch gestattet. Dann geht es weiter. Draußen wartet schon der schwarze Audi-Konvoi und ein Reisebus, um die Portugiesen zur nächsten Station zu bringen.

Das Steinhaus, Bautzens Zentrum für Jugend- und Kulturarbeit, ist an den Außenwänden mit Graffiti übersät. Drinnen ist es heute blitzblank. Frank Mehlhose, der Leiter des Zentrums, inspiziert ein letztes Mal den kleinen Theatersaal und die beiden Ateliers. Alles ordentlich. Der Präsident kann kommen:

„Aufgeräumt ist, klar wenn der Bundespräsident kommt, wird man schon mal putzen müssen. Man sieht den Bundespräsidenten ja auch nicht jeden Tag.“

Mehlhose erwartet Köhler draußen vor der Tür. Der Präsident ist auf Regionalreise in Ostsachsen und hat sich dafür den Schwerpunkt „demografische Entwicklung“ gewählt. Ein Thema, das auch im Steinhaus eine große Rolle spielt.

„Wir haben damit zu kämpfen, dass junge Leute abwandern und da muss man gegensteuern. Wir versuchen über verschiedene Projekte da gegenzusteuern, dass die Leute hier bleiben. Dieser Sinneswandel in der Politik hat nun auch eingesetzt. Es kann ja nicht sein, dass alle gen Westen reisen.“

Zwei schwarze Limousinen fahren vor. Horst und Eva Luise Köhler steigen aus, begleitet vom sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich und seiner Frau. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite bleiben die Passanten stehen, winken dem Präsidenten zu.

„Wir begrüßen Sie in Bautzen – Guten Tag, kommen sie doch mal her!“

Kaum hat das kleine Empfangskomitee vom Steinhaus seine Begrüßungsformel aufgesagt, mischt sich ein älterer Mann in die Runde, stellt sich als „Herr Meyer“ vor:

„… legen sie Wert auf Fachleute: Wir sind angewiesen die Globalisierung zu bestehen ...“ – Herr Meyer – ich will ihnen was sagen: Wir werden bei der Schaffermahlzeit sprechen und eine meiner wichtigsten Aussagen wird sein: Deutschland lebt von der Qualität.“

Horst Köhler – ein Präsident zum Ansprechen. Das ist keine einstudierte Rolle, sondern seine natürliche Umgangsform. Er ist neugierig auf die Menschen und gewinnt damit in Sekundenschnelle ihre Sympathien. Die von Herrn Meyer genauso wie die der zwei Kinder auf dem Bürgersteig, die auch noch per Handschlag begrüßt werden.

Sein Stab wird langsam ungeduldig, drängt in Richtung Hauseingang. Der Terminplan wackelt.

Im kleinen Theaterraum im ersten Stock haben zwei Schüler vom Schiller-Gymnasium einen Vortrag über ihre Schulpartnerschaft mit Mozambique vorbereitet.

„Oft werden wir gefragt, warum eigentlich Mozambique?“

Die Schüler erzählen davon, wie sie für neues Mobiliar in der afrikanischen Schule gesammelt haben und dass sie dort für einen Internetanschluss sorgen wollen. Horst Köhler hört aufmerksam zu, nickt immer wieder. Afrika ist seit seiner Zeit beim IWF sein Steckenpferd. „Für mich entscheidet sich die Menschlichkeit unserer Welt am Schicksal Afrikas“, hat er einmal gesagt. So gibt es genug Anknüpfungspunkte für ein Gespräch mit den Schülern.

„Ich finde Euer Projekt superklasse. Toll vorgetragen. Vielleicht wisst ihr ja, ich engagiere mich ja auch für Afrika. Und apropos: Afrika goes Schiller. In Mabutu gibt es ein Theater, das heißt Theater der Zukunft und das wird geführt von einer Portugiesin und in dem Theater wird aufgeführt ‚Schillers Räuber‘ und das hat dann auch Theater in Mannheim übernommen – das sind ganz tolle kulturelle Beziehungen. Ich will mal sagen – halten Sie mich auf dem Laufenden, weil ich dann auch mal schauen kann, was man machen kann– würden wir uns sehr freuen.“

Köhler nimmt die vorbereitete Schulmappe entgegen, geht weiter in den nächsten Raum. Dort wird das Projekt „Karriere hier“ vorgestellt. Mit ihm sollen Jugendliche bewegt werden, in der Region zu bleiben, hier zu studieren oder eine Ausbildung anzufangen. Um das Projekt nicht so knochentrocken darzustellen, haben sich drei Abiturienten ein Rollenspiel ausgedacht. Eine Art lockere Unterhaltung auf dem Schulhof:

„Sag mal Richard, wie bist du denn auf das Projekt aufmerksam gekommen?“
„In der Schule hatten wir wenig Möglichkeiten uns zu informieren …“

Stocksteif tragen die Schüler in ihren Anzügen die Dialoge vor. Die vermeintliche Lockerheit wirkt ziemlich aufgesetzt.

„Und haben sich deine Erwartungen erfüllt? Und was war das besondere Erlebnis für dich?“
„Ich war total überrascht über das unternehmerische Know How ...“

Während unter den Begleitern spöttische Blicke getauscht werden, hören Köhler und Ministerpräsident Tillich aufmerksam zu. Auch das gehört zur Bürde des Amtes: Nie ungeduldig werden, nie sich anmerken lassen, dass man gerade etwas unterfordert ist. Und immer noch ein paar höfliche Fragen in petto haben.

„Wie viel werden jetzt von der Initiative erfasst? Wenn Sie sagen, es wäre gut, wenn mehr von den Schülern dabei sind? – Ich würde sagen, es ist wichtig, dass viele davon wissen, es geht ja auch auf die Freizeit, aber die Leute sind oft dann auch zu mehr bereit. Die Lehrer haben sich bereit erklärt mitzukommen – in ihrer Freizeit?“

Am Ende wird ein kleines Präsent übergeben. Zwei Schüsselanhänger mit dem Emblem der Initiative.

„Wir würden das gerne vor der Tafel machen, um den Schülerinnen zu zeigen, dass ihnen ein hohes Maß an Öffentlichkeit zukommt – verdient, verdient – jeder kriegt so einen Schlüsselbund – wir haben das jetzt schon unverdient bekommen".“

Unauffällig reicht Köhler das Schlüsselband an einen Mitarbeiter, während der nächste Programmpunkt angesteuert wird. Eine Fotodokumentation über einen Tagebau in der Niederlausitz. Auf der einen Seite der Abriss von Dörfern – auf der anderen die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Thema sei die Auseinandersetzung mit dem Begriff Heimat, erklärt eine der Fotografinnen. Das interessiert Köhler, der aus eigenem Erleben weiß, was es bedeutet, seine Heimat hinter sich zu lassen. Geboren ist er 1943 im polnischen Skierbiesz – als Kind deutschstämmiger Bauern aus dem rumänischen Bessarabien. Die Familie flüchtet zunächst in die Nähe von Leipzig, dann – da ist Köhler zehn – in die Bundesrepublik, wo sie vier Jahre in verschiedenen Flüchtlingslagern kampiert, bevor sie in Schwaben wieder heimisch wird. Auf einmal spielt das enge Terminkorsett keine Rolle mehr:

„"Wir sind sehr unter Zeitdruck ... – Darf ich noch was fragen? Heimat können sie mehr damit machen? Ja ich schon, ich werde bleiben. Ich möchte ins Eventmanagement – weg von Weißwasser. – Ja, nicht zu früh festlegen.“

Köhler nickt nachdenklich.

„Die Heimatverbundenheit unterscheidet sich: Wenn Sie in einer Region wie hier leben und der Arbeitsplatzmangel ist hoch, das nehme ich ihnen nicht übel, wenn sie weggehen – vielleicht bleiben Sie auch draußen, das kann ich nicht übel nehmen. Aber wenn sie dann zurückkommen, können Sie das draußen auch nutzen. Ich würde daraus keine Ideologie machen.“

So wie Köhler das sagt, klingt es wie ein aus persönlicher Erfahrung gespeistes Lebensrezept. Zeit fürs Mittagsessen. Lästige Journalistenfragen zur anstehenden Wiederwahl schüttelt er im Treppenhaus einfach ab. Freie Wähler, Gesine Schwan – kein Thema.

„Vielen Dank, ich freu mich jetzt auf das Mittagessen.“

Dann verschwindet er im Separée des Restaurants, das heute für den Präsidenten und seine Gäste reserviert ist. In der Küche, in der vegetarisch gekocht wird, laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Es gibt Ingwersüppchen, Reisbällchen an Ratatouille und Panna Cotta.

Eineinhalb Stunden später auf dem Rathausplatz in Görlitz, der östlichsten Stadt Deutschlands. Etwa 70 Menschen ducken sich unter den steinernen Arkaden vor Wind und Regen, warten auf den Bundespräsidenten. Wer bei diesem Wetter draußen ausharrt, nur um kurz den Präsidenten zu sehen, muss ihn wirklich schätzen. Eine kleine Umfrage bestätigt die Vermutung. Die Leute mögen, dass er weniger glatt ist als die Parteiprofis, sie mögen seinen Eigensinn. 70 Prozent der Bundesbürger würden Horst Köhler wieder wählen, wenn sie könnten.

„Der Bundespräsident ist für mich ne Kultfigur. Er ist ne charismatische Person, hat auch ne Verbindung nach Ostdeutschland. Das macht ihn halt sympathisch.“

„Ich möchte den einfach gerne mal sehen – es ist das Oberhaupt – er ist ja auch menschlich in Ordnung – mir war der immer sehr sympathisch.“

„Ich meine auch das Interesse für behinderte Menschen, seine Tochter ist ja auch blind, der fühlt auch anders als die, die immer im Reichtum groß geworden sind.“

Horst Köhler fährt vor, winkt den Wartenden fröhlich zu. Nach dem Begrüßungsfoto für die Presse verabschiedet er sich schon wieder. Vor dem Stadtrundgang stehen der Eintrag ins Goldene Buch und zwei Demografie-Vorträge auf dem Programm. Aber die Wartenden sind hartnäckig. Auch eine Stunde später stehen sie noch vor dem Rathaus, hoffen auf eine kurze Begegnung mit dem Präsidenten, der dann endlich kommt.

„Danke schön jetzt will ich mir mal die Stadt anschauen.“

Köhler – jetzt in langem, dunkelgrünen Lodenmantel, mit einer Art Wanderhut auf dem Kopf – schüttelt viele Hände. Mischt sich zum Leidwesen seiner Sicherheitsleute munter unter die Wartenden.

„Es ist großes Elend in Görlitz. Ich sag nur, wir haben 4400 Langzeitarbeitslose, 2400 Kinder leben in Hartz-IV-ähnlichen Verhältnissen und 600 Jugendliche haben im letzten Jahre keinen Ausbildungsplatz bekommen, vielleicht können Sie der Politik mal sagen, auch dem Oberbürgermeister, dass er endliche mal eine Vision entwickeln soll.“

„Gut dass Sie’s mir sagen, Danke schön.“

Der Stadtführer, der Köhler die Geschichte der Stadt nahe bringen soll, hat einige Mühe seinem Auftrag nachzukommen. Immer wieder drängeln sich Bürger dazwischen wie das Rentnerpaar, das vor einem Jahr aus dem Westen in die Stadt gezogen ist.

„Und Sie fühlen sich wohl? – Ach hervorragend- es ist ganz toll. Richtig happy.“

Köhler genießt sichtlich das Bad in der Menge. Arm in Arm stapft er mit seiner Frau durch die Straßen. Wäre nicht der ganze Medienrummel drumherum, könnte man die beiden für ein ganz normales Touristenpaar halten. Auch Eva Luise Köhler hat Freude an diesem Ausflug in die ostdeutsche Provinz.

„Ich begleite meinen Mann immer auf die Regionalreisen. Wir machen bestimmt im Jahr zehn Regionalbesuche – das geht durch die ganze Bundesrepublik und ist für mich auch eine wunderbare Chance, die Städte kennenzulernen. Diese Stadt ist einfach sehenswert. Ich hoffe, dass ich zu ruhigeren Zeiten auch noch mal herkomme.“

Für den Präsidenten selbst sind diese Reisen erstklassige Informationsmöglichkeiten.

„Für mich sind sie wichtig, weil ich damit die Gelegenheit habe, mit den Menschen zusammenzukommen, wenn ich das mitnehmen kann: Sorgen und gute Beispiele für gelungene Projekte, dann erzähl ich da auch drüber, um gute Beispiele auch bekannter zu machen. Davon kann eine andere Region ja eventuell von lernen.“

Über alles redet Köhler gerne, nur nicht über die anstehende Präsidentenwahl. Da können die Journalisten noch so bohrend nachfragen, hier stoßen sie auf Beton. Kein Wort zur Gegenkandidatin und zu möglichen Wiederwahlrisiken:

„Ich bin Bundespräsident. Ich habe immer gesagt, dass ich keinen Wahlkampf mache. Ich mache keinen, ich habe das auch schon früher nicht gemacht. Das ist meine Weise, mit den Bürgern in Kontakt zu kommen und die lasse ich mich mir auch nicht nehmen von der Presse.“

Auf der einen Seite „ich und die Bürger“, auf der anderen „die Presse und die Politik“. Auch diese Unterteilung gehört zum Amtsverständnis des Außenseiter-Präsidenten, der vorher kein Berufspolitiker war. Trotzdem kennen ihn heute alle. Niemand fragt mehr wie noch vor fünf Jahren: Horst wer?

Ein Regionalbesuch à la Köhler ähnelt ein wenig einem Marathonlauf. Während Köhler immer wacher wird, bauen alle um ihn herum langsam ab. Das war schon immer so: Mitarbeiter aus seiner Zeit im Finanzministerium erzählen, dass niemand so lange im Büro blieb wie er. Ein zäher Kämpfertyp ist er, sagen ehemalige Mitarbeiter. Einer, der sich alles hart erarbeitet.

Auf der letzten großen Station in Görlitz, dem Kompetenzzentrum „Revitalisierender Städtebau“, haben sich etliche Journalisten und auch der sächsische Ministerpräsident schon verabschiedet. Das Protokoll ist bereits um 90 Minuten überzogen. Für Köhler kein Problem. Der Mann liebt Überstunden, weil ihm die Arbeit Spaß macht.

Ein freundlicher Mann mit schlohweißem Haar begrüßt das Präsidentenpaar.

„Herr Bundespräsident, Frau Köhler. Es ist mir eine besondere Freude, dass sie nach Görlitz kommen und sich für meine Arbeit interessieren. Zudem weil sie ja auch Schirmherr der Stiftung Denkmalschutz sind.“

Professor Jürg Sulzer ist Mitbegründer der Initiative „Schau doch mal rein“, deren Ziel es ist, Einwohner aus der Umgebung von Görlitz zu einem dreiwöchigen Probewohnen in der Altstadt einzuladen. Gut 30 Prozent der so aufwändig sanierten Wohnungen aus Mittelalter und Gründerzeit stehen hier leer. Es geht darum, Vorurteile abzubauen, erklärt der Professor:

„Wir wollten die Bürger mitnehmen – schau doch mal rein? Warum sollen sie da rein schauen – der Ruf der Häuser war stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Wohnungen sind schmuddelig, ein Großteil der Häuser ist mittlerweile saniert – geblieben sind aber die alten Bilder im Kopf und deshalb: Probier es doch mal aus.“

24 Familien nehmen bislang am Probewohnen teil, sagt Sulzer noch, bevor er Familie Schubert mit ihren drei Kindern vorstellt, die auf einem roten Sofa in der Ecke des Raums sitzt. Sie sind Probemieter auf Zeit und haben sich für den Tag extra freigenommen. Horst Köhler nickt ihnen lächelnd zu.

„Wir kommen gleich zu ihnen und ich bitte Sie, keine Angst zu haben. Bevor wir jetzt aber zu ihnen kommen. Herr Professor Sulzer, das fand ich ungeheuer interessant. Sie wissen gar nicht, wie viele Themen sie angesprochen haben, die mich interessieren: Wie kommen wir dazu, Lebensstile zu denken und zu verändern, ohne dass das als Zwang passiert, sondern als Qualitätsverbesserung. Mit dem Probewohnen haben sie ja auf elegante Weise einen Test gemacht.“

Die Initiative des Schweizer Professors versetzt Köhler regelrecht in Euphorie. Solche konkreten Gestaltungsideen begeistern ihn, ganz sicher wird er davon weiter erzählen. Er setzt sich neben den kleinen Benjamin, der demnächst mit seinen Eltern nach Görlitz ziehen wird. Die Köhlers beginnen sich mit den Schuberts ganz ungezwungen zu unterhalten, als hätte man sich gerade beim Elternabend kennengelernt:

„Sie kommen vom Land? – Das ist in Königsheim. Sie haben einen Bauernhof? – Wir sind aber drauf aus, in die Stadt zu ziehen. – Den Bauernhof geben sie aber nicht auf?“

Die Schuberts sind es leid, immer hin- und herzufahren, die älteren Kinder wollen auch mal ausgehen. Frau Köhler fragt nach dem Garten – ob der nicht fehlen wird. Horst Köhler erzählt von eigenen Erfahrungen im Altbau:

„Wir sind wirklich Altbaubewohner – wir genießen das. Es soll nur nicht so sein, wie es Herzog beschrieben hat. Der hat noch in Bellevue gelebt – und von dem sind zwei Worte bekannt über das Wohnen im Altbau – über das Wohnen in Bellevue: Dort gibt es mal Wasser, mal keins, aber immer Abwasser. Und wenn man vom Schlafzimmer ins Bad wollte, musste immer 50 Meter öffentlichen Raum überwinden.“

Inzwischen ist der Zeitplan für den Tag gnadenlos überzogen. Vor knapp einer Stunde sollte im 20 Kilometer entfernten Kloster Marienthal eine Bürgersprechstunde beginnen. Köhler muss jetzt wirklich los.

Von seiner Reise nimmt er eine wichtige Erkenntnis zum Thema Demografie mit:

„Demografie ist eine Chance und diese Chance kommt zustande, wenn viele sich zusammensetzen als Gemeinschaft – Verwaltungen, Landesregierung und Sozialeinrichtungen. Durch Gemeinschaft kommt man weiter.“

Sechs Wochen später wird der Begriff „Chance“ wieder eine zentrale Rolle spielen. Er ist das Schlüsselwort in der vierten Berliner Rede des Bundespräsidenten, die letzte vor dem Wahlgang am 23. Mai. Als Ort hat er die Elisabethkirche gewählt, eine im Zweiten Weltkrieg stark beschädigte Kirche im Stadtbezirk Mitte, die seit 1999 wieder aufgebaut wird. Im Innern des unverputzten Backsteinbaus haben sich etwa 300 Gäste versammelt, darunter Spitzenpolitiker wie Guido Westerwelle, Peer Steinbrück und Klaus Wowereit.

Horst Köhler schreitet mit seiner Frau durch das Hauptportal. Wie bei einer Messe erheben sich alle Anwesenden, warten bis der Bundespräsident vorne angelangt ist.

Nach der kurzen Begrüßung erklimmt der Präsident das Rednerpult. Hinter ihm hängt ein goldenes Kreuz. Köhler trägt auch heute einen dunklen Anzug mit diagonal gestreifter Krawatte. Und doch wirkt er anders als bei seinen Bürgerbegegnungen. Fast wie ein Pastor, der seinen Schäfchen Mut zusprechen will. Die Rede beginnt mit einem persönlichen Bekenntnis:

„Ich will Ihnen eine Geschichte meines Scheiterns berichten. Es war in Prag, im September 2000. Ich war neu im Amt als Geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds. … Die Entwicklung auf den Finanzmärkten bereitete mir Sorgen. Ich konnte die gigantischen Finanzierungsvolumen und überkomplexen Finanzprodukte nicht mehr einordnen. … Viele, die sich auskannten, warnten vor dem wachsenden Risiko einer Systemkrise. Doch in den Hauptstädten der Industriestaaten wurden die Warnungen nicht aufgegriffen: Es fehlte der Wille, das Primat der Politik über die Finanzmärkte durchzusetzen. Jetzt sind die großen Räder gebrochen, und wir erleben eine Krise, deren Ausgang das 21. Jahrhundert prägen kann. Ich meine: zum Guten, wenn wir aus Schaden klug werden.“

Köhler beschreibt die Wirtschaftskrise ungeschminkt, befürchtet weitere Entlassungen. Er ermutigt seine Hörer aber auch – da ist es wieder – die Situation als Chance zu begreifen. Dramatische Wetterwechsel draußen leuchten den Präsidenten mal hell aus, mal verdüstern sie schlagartig die Atmosphäre. Nach fünf Minuten gibt es den ersten Applaus.

„Keiner kann mehr dauerhaft Vorteil nur für sich schaffen. Die Menschheit sitzt in einem Boot …“

Auch für den Satz " im Vorfeld einer Bundestagswahl gibt es keine Beurlaubung von der Regierungsverantwortung“ wird Köhler mit Beifall belohnt. In seinen fünf Amtsjahren hat er sich zu einem passablen Redner entwickelt. Anfangs hieß es noch, er könne nicht mit dem Telepromter umgehen, wäre am Ende immer heiser oder würde ständig nach links und rechts schauen. Heute schaut Köhler unerschrocken ins Publikum, sein Blick ist offen und freundlich, nur die Tonlage ist manchmal etwas zu eintönig predigend.

„Wir erleben das Ergebnis fehlender Transparenz, Laxheit, unzureichender Aufsicht und von Risikoentscheidungen ohne persönliche Haftung. Wir erleben das Ergebnis von Freiheit ohne Verantwortung ...“

Immer wieder untermalt das Donnergrollen eines nahenden Gewitters den Ernst, mit dem Köhler seine Forderungen hervorbringt. Die Krise geht schließlich von den Industriestaaten aus, sagt er. Entsprechend verantwortlich sollen sie sich auch der Welt gegenüber zeigen.

„Wir Deutsche sollten besonders engagiert eintreten für den raschen Abschluss der laufenden Verhandlungen über entwicklungsfreundliche Handelserleichterungen ...“

Am Ende kommt Köhler auf die Kirche zu sprechen, die er als Ort seiner Rede gewählt hat. Sie ist für ihn eine Metapher:

„Meine Damen und Herren, schauen Sie sich um in dieser Kirche. Sie spricht zu uns bis heute über das Werk der Zerstörung, das Menschen anrichten können. Aber sie sagt auch: Wir können immer einen neuen Anfang schaffen. Es liegt an uns. Vielen Dank.“

Der Applaus hält lange an. Später wird Guido Westerwelle – wie immer – die Rede seines Lieblingspräsidenten überschwänglich loben. Und Klaus Wowereit wird sagen, dass es immer gut ist die Politik zum Handeln aufzufordern, sich aber selbst nicht angesprochen fühlen. Köhler ist angetreten, ein unbequemer Präsident zu sein. An diesem Tag sorgt er für allgemeinen Konsens. Etwas unbequem ist nur das Kirchengestühl.