Der alte Mann und die Wahl

Von Ernst-Ludwig von Aster · 08.09.2013
Drei Mal wurde Hans-Christian Ströbele in seinem Berliner Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg direkt in den Bundestag gewählt. Nun will der 74-Jährige das ein viertes Mal schaffen. Mit Hilfe von Auftritten in Schulen und Kneipen, und natürlich mit seinem Fahrrad - obwohl ihm die Gesundheit zu schaffen macht.
Reggae-Musik dröhnt aus großen Boxen, süßharziger Cannabis-Duft wabert über die Kreuzung. Gut 5000 Hanf-und Marihuana-Freunde drängen sich vor dem Bahnhof Zoo im Zentrum von Berlin, demonstrieren unter dem Motto "Wir haben die Wahl – Hanf legal".

"Legalize it"-Shirts, Mao-Kappen, bunte Schnürschuhe, schwere Springerstiefel. Ein junges, alternatives Publikum geht hier für das Recht auf Rausch auf die Straße. Mittendrin schiebt ein 74-jähriger Weißhaariger sein Fahrrad durch die Menge. Hans-Christian Ströbele kommt nur langsam voran.

"Das Fahrrad ist fast 17 Jahre alt. Ich fühle mich auf dem sicherer, keiner glaubt es, aber es ist so, als zu Fuß. Ja, weil das inzwischen genau meinen Körperbewegungen entspricht."

"Dienstwagen" prangt in silbernen Buchstaben auf dem lädierten Fahrradrahmen. Am Lenker baumelt eine grüne Stofftasche mit der Aufschrift "Weniger Scheiße als die Anderen - Bündnis 90/ Die Grünen."

Demonstrantin: "Darf ich mal kurz ein Foto machen?"
Ströbele: "Jaja, klar."

Hans-Christian Ströbele bleibt kurz stehen, lächelt in die Kamera. Groß, schlank, mit schlohweißem Haar, buschigen Augenbrauen, das blau-weiß-kleinkarierte Hemd bis oben zugeknöpft. Der 74 jährige kifft nicht, raucht nicht, trinkt weder Kaffee noch Alkohol. Trotzdem kommt er regelmäßig zur Hanf-Demo. Eine alljährliche politische Imagetour.

Ein Pärchen grüßt vom Straßenrand, ruft "Hallo Kreuzberger". Ströbele winkt fröhlich zurück. "Kreuzberger", das hört er gern. Der Bundestagswahlkreis 83 - Kreuzberg, Friedrichshain, Prenzlauer-Berg Ost ist seine politische Heimat.

Demonstrant: "Er ist in Kreuzberg bekannt wie ein bunter Hund, weil er wie hier jetzt auf den alternativen Veranstaltungen sich blicken lässt. Der ist ja bei uns schon immer Kandidat, der ist ja immer Direktkandidat und schafft es jedes Mal."

Und das obwohl er gar nicht in Kreuzberg wohnt. Sondern einige Kilometer weiter - im bürgerlichen Stadtteil Tiergarten. In Kreuzberg aber holt er seine Stimmen.

Wie ein massiver Beton-Riegel begrenzt das Neue Kreuzberger Zentrum die Straße, trennt sie vom quirligen Leben am Kottbusser Tor. Ein Bau aus den 70ern, knapp 400 Wohnungen, Geschäfte, zwei Parkhäuser. Früher ein Zeichen für den sozialen Fortschrittsglauben, heute ein sozialer Brennpunkt.

Ströbeles Wahlkreisbüro liegt im Schatten des Betonblocks im Parterre eines Altbaus. Ein Dutzend Plakate hängen an den großen Fenstern. Demo-Aufrufe auf deutsch und türkisch. Gegen zu hohe Mieten. Gegen den Überwachungsstaat. Gegen die Residenzpflicht für Asylbewerber. Daneben sein aktuelles Wahl-Plakat im Comic-Stil: Der Kandidat als Mischung aus Moses und Hulk. In Superheldenpose stürmt er voran, reißt einen Zaun zum grünen Paradies nieder, gefolgt von dutzenden Kreuzbergern. Die schwenken Plakate. Gegen Finanzmärkte, Drohnen, steigende Mieten, für Widerstand in Istanbul, Hanf-Freigabe und Frieden in Afghanistan. 20 Forderungen auf einem Plakat – das schafft nur Super-Ströbele.

Hans-Christian Ströbele schließt sein Fahrrad vor dem Büro an. Streift den Sattelbezug ab. Wuchtet eine schwere Ledertasche vorm Gepäckträger.

"Sie sehen, der Gepäckträger, der ist noch ein alter, wo eine große Aktentasche drauf passt mit vielen Leitzordnern, NSU-Verfahren und ähnliches. Den gibt es nicht mehr. Und deshalb ist er, obwohl er sehr ramponiert ist, hier fehlen schon Stangen, ist er immer noch im Dienst."

Kartons voller Broschüren stapeln sich im Büro an der Wand, Sonnenschirme lehnen in der Ecke, ein Lastenfahrrad wartet auf den Einsatz. Drei Mitarbeiter sitzen an Telefonen und Computern, koordinieren Wahlkampf-Termine: Straßenfeste, Diskussionen, Wochenmarktbesuche.

"Wir haben einen Bevölkerungsaustausch innerhalb einer Legislaturperiode von vier Jahren, das ungefähr ein Drittel wegziehen und ungefähr ein Drittel neu herziehen. Es sind nicht immer dieselben Leute, die hier wohnen und hier wählen. Sondern es sind durchaus immer wieder Andere."

Neue Wählerschichten für den alten Kandidaten. Sein Wahlkreis wandelt sich rasant. Mieten steigen, immer mehr kleine Gewerbetreibende geben auf. Auch der kleine Bürobedarfsladen, gleich neben Ströbeles Büro, musste wegziehen. Gegensätze prallen hier hart aufeinander. Medienunternehmen bauen Glaspaläste an der Spree, Mieter demonstrieren gegen Verdrängung am Kottbusser Tor.

Eine knarzende Treppe führt in die hinterste Ecke des Büros, ein Zimmer, gut acht Quadratmeter groß, abgetrennt durch eine Sperrholzwand. "Meine Knastzelle", scherzt Ströbele. Und stellt die schwere Ledertasche auf den Tisch.

"So, das hat ja alles eine Geschichte, hier waren schon mehrfach Einbrüche, Besetzungen und ähnliches."

Er schiebt ein paar Plakatrollen zur Seite. Ein billiges Holzregal lehnt vollgestopft an der Wand. Darin Aktenordner mit muslimischen Feiertagen, daneben ein Hefter mit dem Aufkleber "THC statt FDP", obendrauf Flugblätter, Posterrollen.

"Viele meiner Weggefährten, von denen ich viel gehalten habe, die ich hoch geachtet habe, die sind rausgegangen. Gerade so aus dem linken Bereich. Und ich habe immer gesagt, wenn ihr geblieben wäret, dann wären die Grünen eine andere Partei als sie heute ist."

Der letzte Linke
Ströbele zuckt mit den Schultern. Der letzte Linke – das ist ein Image mit dem er bei den Grünen gut leben kann. Und das vor allem hier in Kreuzberg. Milde lächelnd blickt von der Wand sein Konterfei. Weichgezeichnet, auch im Comicstil, um einige Jahre jünger, mit blauem Hemd und rotem Schal. Ein Wahlplakat von 2002. "Ströbele wählen heißt Fischer quälen", steht da. Und: "Ströbele allein in den Bundestag". Damals sind die Grünen Regierungspartei, die Realos um Joschka Fischer geben den Ton an. Ströbele bekommt in Berlin keinen sicheren Listenplatz mehr. Ihm bleibt nur eine Wahl: der politische Alleingang in Kreuzberg. Das Plakat ist Teil der Kampagne: Groß in der Mitte der Kandidat, umgeben von Dutzenden Unterstützern. Klein und am Rand das Logo von Bündnis 90 / Die Grünen. Erst die Person – dann die Partei. So gewinnt Ströbele das erste Direktmandat in der Geschichte der Grünen.

"Seit ich direkt gewählt bin, habe ich - zumindest bei den Grünen, sage ich mal - eine Ausnahmestellung, auch im Bundestag. Also ich habe dadurch, dass ich mit steigenden Mehrheiten direkt gewählt bin, auch weitgehend an Ansehen hinzugewonnen."

Dreimal gewinnt er den Wahlkreis. Zuletzt bekommt er 47 Prozent der Stimmen. Und jetzt will er es wieder wissen.

Ein Termin in der Hermann-Hesse-Oberschule. Alle Wahlkreis-Kandidaten haben zugesagt. Auf dem Pausenhof scharen sich einige Schüler um eine dunkelgelockte Enddreißigerin. "Kiezkind" steht auf dem Button, den sie am Revers trägt.

"Das ist meine erste Kandidatur für diesen Wahlkreis für den Bundestag."

Cansel Kiziltepe, 38 Jahre alt, geboren in Kreuzberg, Volkswirtin, angestellt beim VW-Vorstand, sie ist die neue Hoffnung der SPD im Kampf um das Direktmandat.

"Also ich bin schon seit 2005 politisch aktiv hier im Wahlkreis. Und irgendwann denkt man sich, man kann das mindestens genau so gut, wenn nicht besser."

Bei der letzten Bundestagswahl holte der SPD-Kandidat 17 Prozent der Erststimmen. Etwas weniger als die Kandidatin der Linken. Und viel weniger als die 47 Prozent, die Hans -Christian Ströbele bekommt. Eine schwierige Ausgangsposition für Cansel Kiziltepe. Doch die Newcomerin gibt sich kämpferisch. Migrationshintergrund, Authentizität, Kiez-Gefühl - damit will sie gegen Ströbele punkten:

"Ja, es ist ein Urgestein, er ist sehr bekannt und hat schon dreimal direkt geholt, den Wahlkreis. Aber ich bin ein Kiezkind, wie Sie hier auf meinem Button sehen, ich bin in Kreuzberg geboren, eine waschechte Kreuzbergerin. Er hat ja noch nie in Kreuzberg gewohnt, ja und irgendwann ist auch mal genug."
Alle Kandidaten nehmen in der Aula auf dem Podium Platz. Nur der Stuhl in der Mitte bleibt leer. Hans-Christian Ströbele fehlt. Drei Minuten bekommt jeder Kandidat für seine persönliche Wahlwerbung.

"Drei Minuten - warum mich? Das Erste ist:Ich bin in voller Übereinstimmung mit meiner Partei, das heißt, wenn sie mich wählen, stehe ich nicht alleine, da steht die gesamte Partei dahinter."

Halina Wawzyniak von der Linken beginnt mit einem Seitenhieb auf Ströbele. Der im Bundestag mehr als einmal gegen die grüne Parteilinie gestimmt hat. Dann wirbt die Linken-Kandidatin für Mindestlohn. Und bessere Bildung. Das steht auch bei Canzel Kiziltepe im Programm. Sie setzt aber erst mal auf das Kiez-Gefühl. Schließlich hat sie vor 15 Jahren hier Abitur gemacht.

"Zunächst möchte ich einmal sagen, dass ich mich nach 15 Jahren Abwesenheit wirklich glücklich fühle wieder mal in dieser Aula zu sein."

Unterwegs mit dem "Dienstfahrrad"
Dann reden die Kandidaten von Piraten, FDP und CDU. Schließlich taucht doch noch Hans-Christian Ströbele auf. Mit 15 Minuten Verspätung klettert er aufs Podium, nimmt zwischen Piraten- und SPD-Kandidatin Platz. Wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er ist mit seinem unterwegs.

"Die Grünen und mich bitte ich zu wählen, damit die Lehrer nicht demonstrieren müssen, damit genügend da sind, um die Klassen so kleinzuhalten, dass man auch was lernen kann."

Als nächstes auf dem Programm: Schülerfragen direkt an die Kandidaten. Vorbereitet in den Leistungskursen. In der ersten Runde geht es um Spitzensteuersatz, Staats-Verschuldung, Kreditaufnahme. Alle Kandidaten müssen antworten. Nur Hans - nur Hans-Christian Ströbele nicht.

Moderator: "An die Grünen wurden uns leider keine Fragen übermittelt."

Missmutig lehnt sich der Grüne zurück. Stützt den Kopf auf die Hand. Blickt über das Publikum hinweg. Die anderen Kandidaten streiten weiter, links gegen rechts, über Sinn- und Unsinn von Mindestlöhnen. Ströbele würde gerne etwas sagen, muss aber zuhören. Nach zehn Minuten greift er zum Mikrofon.

"Ich finde einfach, das ist eine Schweinerei, das ist unmoralisch, wenn man jemanden für drei Euro arbeiten lässt, das ist einfach eine Schweinerei, wenn man jemand nur drei Euro geben will."

Nach eineinhalb Stunden verabschieden sich die Kandidaten. Auf dem Schulhof diskutieren einige Schüler weiter.

Schülerin: "Ich stehe hinter Ströbele."
Schüler: "Dazu will ich auch noch etwas sagen: Ströbele ist alt. Und die alten Leute haben jetzt nicht die gleichen Gedanken wie die jungen Leute. Zum Beispiel die Piraten, die neu in der Politik sind, sage ich mal."
Schülerin: "Ich denke, dass gerade Ströbele 'ne unglaubliche Erfahrung in der Politik hat. Und das ist noch einer von den Alten, mit den alten Idealen der Grünen. Und deshalb unterstütze ich ihn vollkommen."

Hans-Christian Ströbele steigt aufs Fahrrad. Sein Wahlkreisbüro liegt gerade mal einen halben Kilometer entfernt.

Wieder im Büro schenkt sich der Politiker einen chinesischen Tee ein. Lehnt sich ein wenig zurück. Ob Afghanistan-Abzug, Finanztransaktionssteuer, NSU- oder NSA-Affäre – politisch läuft es auch in dieser Legislaturperiode gut für ihn. Gesundheitlich aber nicht.

Kampf gegen den Prostatakrebs
"Ich hätte das lieber erst einmal für mich behalten. Das ist ja eine ganz private Sache. Wie geht es einem? Wo ist man krank? Mit welchen Ärzten geht man um und so?""

Ströbele kämpft in dieser Zeit mit Prostatakrebs. Behandlung, Bestrahlung, Ausschuss-Sitzung – über Wochen geht das so. Er fehlt keinen Tag im Parlament.

""Wenn man auf Krankheit so reagiert, dass man sein Leben völlig ändert, ich sage mal, in den Schongang geht, dann kann das auch sehr schnell zu einer Reduzierung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten führen, die nicht sein müssen."

Doch die körperlichen Veränderungen sind nicht zu übersehen. Sein Gesicht wirkt schmaler, der Gang unsicherer.

"Aber es war dann schon so, dass mich viele Leute angesprochen haben, immer wieder. Du siehst müde aus, du bist abgemagert, da ist doch irgendetwas. Und ich dann gesagt habe, also mich irgendwie drum herum geredet habe. Aber auf die Dauer kann man das nicht, ohne die Unwahrheit zu sagen, und das wollte ich nicht. Und da habe ich gesagt, da muss ich wenigstens den Grundtatbestand mitteilen."

Er geht an die Öffentlichkeit. Spricht über seine Erkrankung. Und verbindet eine erneute Kandidatur mit dem Behandlungserfolg. Die Ärzte geben schließlich grünes Licht. Dann redet er mit seiner Familie.

"Die haben auch Einfluss, und ich höre auch die Argumente. Aber entscheiden muss ich es. Und ich glaube, das ist auch die Sicht meiner Familie. Natürlich habe ich immer wieder die besorgten Minen gesehen: Willst Du dir das nochmal antun?"

Er will. Es scheint, er kann nicht anders. Die Politik hat ihn fest im Griff.

Während der Kandidat seinen Tee trinkt, schwitzen drei Ströbele-Unterstützer aus dem grünen Bezirksverband einige hundert Meter weiter. In einem Parkhaus nahe des Kottbusser Tors. Zwischen Farbeimern und Kleisterpinseln, Wasser- und Saftflaschen stapeln sich hunderte von Wahlplakaten. Von hier aus werden die Polit-Botschaften im ganzen Wahlkreis verteilt.

"Also pass auf, Folgendes, man muss das unbedingt umknicken, und dann können wir das schon mal, wir fädeln die normal ein, wie sonst auch."

Dirk Behrendt fädelt einen Kabelbinder durch die Schlitze. Damit das Plakat später an der Laterne hängen kann. Sein junger Parteifreund nickt. Und fädelt hinterher. Gut 30 Freiwillige aus dem grünen Bezirksverband unterstützen Hans-Christian Ströbele. Dazu kommen noch Büromitarbeiter und einige Praktikanten. Sie verteilen Handzettel, hängen Plakate. Mehr als 4000 Stück.

"Die Voraussetzungen sind bei Christian Ströbele hier andere. Wir sind jetzt die Favoriten, als wir die ersten Male ins Rennen gegangen sind, da waren wir ja die Herausforderer, da war es ja eine ganz andere Ausgangslage."

Der Fluch der Favoritenrolle. Dirk Behrendt legt ein Plakat auf den Stapel. Greift zum nächsten. Er fädelt schon lange Wahlplakate ein, kennt den Kiez aus unzähligen Wahlkämpfen. Der Endspurt im Wahlkampf ist eingeläutet, sagt er. Doch es liegt noch eine merkwürdige Ruhe über dem Bezirk.

"Also es gibt schon zunehmend auch Leute, sowohl in der Partei als auch außen, die dann sagen: Die Sache ist doch eh klar, das macht doch Christian. Und da muss man dann gegen angehen und sagen: Er macht es nur, wenn ihr ihn auch wählt. Oder wenn wir auch Wahlkampf machen, so wie wir es gewohnt sind. Das ist schon eine wesentliche Veränderung."

Eine Woche später: Ein lauer Spätsommerabend. Auf dem Bürgersteig vor einer Kellerkneipe sitzen die Stammgäste und trinken Bier. "Öffentliche Redaktionssitzung mit Hans-Christian Ströbele" steht krakelig auf einer Tafel. Das Magazin "Kiez und Kneipe" lädt im Wochentakt alle Direktkandidaten zum Polit-Talk.

Grünes Urgestein
"Der Herr Ströbele ist ja nun das grüne Urgestein würde ich sagen, ist ja auch mein Alter, ungefähr. Habe ich gedacht, gehste mal und guckste dir den König von Kreuzberg an."

Kräftige Hände, Jeans, Hemd, Lederweste, Schnurrbart - ein grummeliger Malochertyp wie aus dem Bilderbuch. Seit mehr als 50 Jahren lebt er in Kreuzberg.

"Er gehört ja zu den Gründern der Grünen und er hat ja vieles durchgemacht, aber er hat sich eigentlich nie verbogen. Während andere viele Kompromisse eingegangen sind, hat Ströbele seine Linie gehalten und das scheint er auch beizubehalten zu wollen."

Seine Nachbarin nickt zustimmend. RAF-Anwalt, Mitbegründer der Tageszeitung taz und der Alternativen Liste – personifizierte linke Polit-Geschichte live als Abendprogramm. Darum ist auch sie gekommen.

"Also den Herrn Ströbele habe ich schon mal gesehen. Beim Radfahren, er wäre mir fast ins Auto gefahren."

Ein Blick auf die Uhr. Es ist Viertel nach sieben. Und noch keine Spur vom Kandidaten. Dabei sollte es um sieben losgehen.

Am Ende der Straße, gut 200 Meter weiter, taucht ein schlohweißer Haarschopf aus einer Menschgruppe auf. Hans-Christian Ströbele schließt gerade sein Fahrrad an. Vor der falschen Kneipe:

Das Publikum amüsiert sich. Und wartet weiter. Fünf Minuten später ist der Kandidat am Ziel.

"Tut mir leid, aber die wollten mich noch in eine andere Richtung schicken."

Gut 40 Interessenten drängen sich in der Kellerkneipe. Eingekeilt zwischen zwei Moderatoren sitzt der Politiker auf der kleinen Bühne. Fummelt seine Lesebrille aus dem Etui. Studiert noch einmal die Einladung: Auf der steht die falsche Hausnummer. Ströbele nickt zufrieden, packt die Lesebrille ein, legt die Einladung auf den Tisch.

"Ein ganz herzliches Willkommen an Hans-Christian Ströbele. Man muss glaube ich nicht noch viel zu ihm sagen."

Ströbele nickt freundlich. Und verweist erst noch einmal auf die falsche Hausnummer. Dann ist der Moderator dran.

Moderator: "Wie reagieren eigentlich die jungen Grünen, die Basis, darauf, dass sie jetzt nochmal kandidieren, grummeln die nicht ein bisschen?"
Ströbele: "Meine Basis die haben mich mit, glaube ich, 96 Prozent aufgestellt. Da waren auch viele Junge dabei, ich nehme mal an, dass die auch dafür gestimmt haben."

Weiter geht es um Lokalpolitik, um Drogendealer im nahgelegenen Görlitzer Park, und immer wieder um steigende Mieten.

Heimspiel in einer Kreuzberger Kneipe
Moderatorin: "Vor vier Jahren, ich zitiere, hatten sie schon gesagt zu dem Thema, ich zitiere: 'Es muss Aufgabe des Gesetzgeber sein, bestimmte Mischungen der Bevölkerungen erhalten zu können.' Wie stehen sie heute dazu?"

Ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf Ströbeles Gesicht aus. Darüber spricht er gerne. Er freut sich, wenn er zitiert wird. Und wenn er sich selbst zitieren kann.

"Inzwischen ist das Thema überall angekommen, in allen Parteien. Ich bin da überhaupt nicht böse drüber und sage, jetzt haben sie uns das Thema geklaut. Ich hoffe, dass jetzt den Worten auch Taten folgen. Ganz egal, wer an der Regierung ist, am besten natürlich die Grünen."

Dann fragen die Zuhörer. Erst zu Datenschutz und NSA, dann zu V-Männern und NSU. Ein Heimspiel für den Grünen-Politiker. Er sitzt in den zuständigen Gremien, im Untersuchungsausschuss und in der Kommission zur Kontrolle der Geheimdienste. Schon schwieriger die Frage nach seinem Verhältnis zur eigenen Partei:

Zuhörer: "Herr Ströbele, haben Sie das Gefühl, Sie sind dafür noch in der richtigen Partei?"
Ströbele: "Aber selbstverständlich."

Kosovo-Einsatz, Hartz IV, Griechenland-Hilfe. All das unterstützen die Grünen im Bundestag. Aber nicht Hans-Christian Ströbele. Er stimmt dagegen oder enthält sich. Im Wahlkreis wirbt er mit seiner Minderheitenposition um Mehrheiten. Ein Spagat, den nicht alle nachvollziehen wollen: Den Unterschied zwischen Partei und Kandidat.

Zuhörer: "Deswegen wähle ich auch kein Grün mehr, ich war jahrzehntelang Grüner Stammwähler, damit haben sie mich vergrault,tut mir leid."
Ströbele: "Das tut mir leid. Das ist aber ein Fehler, dass sie das immer noch den Grünen nachtragen, weil die Grünen da inzwischen gelernt haben."

Hans-Christian Ströbele macht weiter so. Bietet, wie immer, sein alternativ-linkes Wohlfühlprogramm. Und die Grünen lernen dazu. Das ist die Wahlbotschaft des Kandidaten.

"Vielen Dank Herr Ströbele. Wenn wie uns hier in vier Jahren wiedertreffen, würde ich auch freuen. Also es ist die Hausnummer 20 - 20 a!"

Knackt er die 50-Prozent-Hürde?
Ströbele schiebt seine Unterlagen zusammen. Steckt sie in die große braune Ledertasche. Das Redaktions-Team von Kiez und Kneipe diskutiert währenddessen mit den Gästen. Peter Kaspar, der Chefredakteur, nimmt noch einen Schluck Weizenbier, zündet sich eine Mentholzigarette an. Für ihn gibt es eigentlich nur eine spannende Frage:

"Ich denke, dass Ströbele wieder gewinnt, die Frage wird nur sein, ob er dieses Mal tatsächlich die 50 Prozent knackt, an der ist er ja nur knapp gescheitert an der 50-Prozent-Hürde."

Nicken in der Runde. Das sehen hier alle so.

"Ich glaube, da sind alle realistisch genug und sehen das alle: Solange Ströbele kandidiert, wird der Wahlkreis ganz, ganz fest in den Händen der Grünen sein."

Draußen beugt sich Hans-Christian Ströbele über sein Fahrrad. Öffnet das schwere Schloss, unterhält sich nebenbei mit einer Passantin. Es ist 22.30 Uhr. Der 74-Jährige wuchtet die schwere braue Ledertasche auf den Gepäckträger. Verabschiedet sich, steigt aufs Fahrrad. Macht sich auf den Weg nach Hause, Richtung Tiergarten.

"Und das wird voraussichtlich, wenn ich dann nicht mehr drauf fahre, in ein Geschichtsmuseum kommen."

Hans-Christian-Ströbele tritt in die Pedale. Fährt gemächlich auf der Straße.

"Ja, da ist mild, schön wie in Italien, allein schon durch das Wetter wird man müde."

Gleich im Bett wird er noch ein wenig noch grübeln, sagt er. Wie fast jeden Abend.

"Und dann schlafe ich dann ein im Bett beim Formulierungen-Finden. Und das was man sich morgens dann wieder einfallen lässt, passt dann überhaupt nicht."

Ströbele gähnt. Er sieht bleich aus im fahlen Licht der Straßenlaterne.

An der Kreuzung grüßt ein Autofahrer mit Lichthupe. Hans-Christian Ströbele winkt. Dann tritt er wieder in die Pedale. Und verschwindet mit seinem Dienstwagen langsam in der Dunkelheit.